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Haruki Murakami: "Die Ermordung des Commendatore"
Schwebezustand zwischen Fantastik und Realismus

Ende dreißig, Künstler, aber weder charismatisch noch exzentrisch: Ein typischer Murakami-Antiheld steht im Zentrum seines neuen, zweibändigen Romans. Darin wird ganz lakonisch ein cleveres, oft komisches Spiel mit Spiegeln und Doppelgängern, Magie und Realität, Mysterien und Psychologie präsentiert.

Von Maik Brüggemeyer | 08.04.2018
    Zwei traditionelle japanische Schwerter liegen auf einer Holzfläche
    Der Künstler in "Die Ermordung des Commendatore" findet im abgelegenen Haus ein mysteriöses Bild - es zeigt zwei Männer im Kampf mit schweren, altertümlichen Schwertern (imago / imagebroker)
    Die Protagonisten aus Haruki Murakamis Romanen ähneln sich fast alle. Sie sind männlich, melancholisch, in den Dreißigern. Sie fühlen sich verlassen, einsam und verloren in der modernen Welt und versuchen das nicht selten mit Sex zu kompensieren. Meist sind sie auf den ersten Blick die blassesten Gestalten in den schillernden Geschichten des 1949 im japanischen Kyoto geborenen Autors. Und doch hinterlassen sie einen bleibenden Eindruck. Einerseits, weil sie scheinbar wehrlos den Absurditäten des Lebens ausgesetzt sind und man mit ihnen mitfühlt. Andererseits, weil sie Einblicke in ihre inneren Abgründe geben, die beim Lesen großen Schwindel verursachen können. Schaut man hier doch hinab in eine leicht verschwommene und verschobene Parallelwelt, die sich zunächst mal gar nicht so sehr von unserer Welt zu unterscheiden scheint. Doch irgendwann merkt man, dass sie über eine zusätzliche imaginäre oder vielleicht gar spirituelle Dimension verfügt. Murakami treibt ein Spiel mit Sein und Nichtsein, das er in seinem Meisterwerk "Hard-Boiled Wonderland und Das Ende der Welt" von 1985 auf besonders eindrucksvolle Weise vorführte. Hier laufen zwei Geschichten parallel: eine spielt im Innenleben des Protagonisten, die andere in der Außenwelt.
    Der namenlose Erzähler des zweibändigen Romans "Die Ermordung des Commendatore" ist ein typischer Murakami-Antiheld. Er ist Ende dreißig, und obwohl er ein Künstler ist, scheint er keine besonders charismatische oder gar exzentrische Figur zu sein. Er hat sich auf das Malen von Porträts spezialisiert, die sich reiche Industrielle in ihre Büros hängen. Sein Werk ist somit für die Welt eigentlich unsichtbar, schwankt zwischen Sein und Nichtsein. Er ist mit der schönen Yuzu verheiratet und lebt mit ihr in Tokio. Doch er erzählt von einer noch nicht lang vergangenen Zeit, als seine Frau ihn nach sechs Jahren Ehe für einen anderen Mann verließ.
    "Die neun Monate zwischen unseren beiden Ehen (also der, die wir zuerst geführt hatten, und der späteren) wirkten so einschneidend wie ein Kanal, den man durch eine Landenge gräbt. Ob diese neun Monate eine lange oder eine kurze Trennung waren, kann ich nicht beurteilen. Im Nachhinein kommen sie mir manchmal wie eine Ewigkeit vor und dann wieder, als wären sie wie im Flug vergangen. Meine diesbezüglichen Empfindungen ändern sich von Tag zu Tag. Beim Fotografieren legt man bisweilen eine Zigarettenschachtel neben einen Gegenstand, um seine Größe zu verdeutlichen, aber die Zigarettenschachtel, die neben dem Abbild in meinem Gedächtnis liegt, scheint sich entsprechend meiner Stimmung auszudehnen oder zusammenzuziehen. Anscheinend bewegt und verändert sich der Maßstab in meinem Gedächtnis ebenso, wie die Dinge und Ereignisse des Augenblicks ständig in Bewegung sind, sich verändern oder entziehen. Doch auch wenn meine sämtlichen Erinnerungen in Bewegung sind, heißt das nicht, dass sie sich willkürlich ausdehnen oder zusammenziehen. Im Grunde war mein Leben bis dahin vornehmlich in ruhigen, geordneten und vernünftigen Bahnen verlaufen."
    Auf der Suche nach dem Künstler-Ich
    Nach der Trennung steigt der Erzähler in seinen Peugeot 205 und verlässt Tokio. Er fährt die Küste entlang Richtung Norden nach Hokkaido, dann wieder zurück Richtung Süden. Sechs Wochen lang ist er unterwegs. Er sehnt sich nach seiner Frau, sinniert über die Trennung, erinnert sich an sein Schwester Komi, seine Seelenverwandte, die Lewis Carolls "Alice im Wunderland" liebte und etwa 20 Jahre zuvor im Alter von zwölf Jahren an einer Herzschwäche gestorben war. Die große Wunde in der Seele des Mannes, der daraufhin begann, seine Schwester zu malen, um ihre Erscheinung in der Welt festzuhalten. Das machte ihn zum Porträtisten. In der Trennung von seiner Frau scheint sich dieser Verlust nun zu spiegeln.
    In einem Restaurant in einem kleinen Küstenort lernt er eine Frau kennen und verbringt eine leidenschaftliche Liebesnacht mit ihr. Als er am nächsten Morgen in das Restaurant zurückkehrt, entdeckt er dort einen geheimnisvollen Mann mit grau meliertem Haar, der ihm schon am Tag zuvor aufgefallen war und ihn zu beobachten scheint. Der Mann, der offensichtlich einen weißen Subaru Forester fährt, wirft ihm einen Blick zu, der zu sagen scheint: "Ich weiß genau, wo du warst und was du getan hast." Dieser Blick wird ihn nicht mehr loslassen.
    Auf seiner Reise beschließt der Erzähler, den glanzlosen Job eines Porträtmalers aufzugeben und sich "mit aller Kraft auf ein eigenes Bild zu konzentrieren", sich also auf die Suche nach seinem wahren Künstler-Ich zu machen. Sein Studienfreund Masahiko Amada bietet ihm an, in das leer stehende Haus seines dementen und daher mittlerweile in einem Pflegeheim lebenden Vaters in den Bergen zu ziehen und dort zu arbeiten. Masahikos Vater, Tomohiko Amada, war einst ein angesehener Maler und arbeitete in dem abgelegenen Holzhaus zurückgezogen von der Welt und seiner Familie.
    "Am Ende der Odawara-Atsugi-Straße nahmen wir eine schmale Asphaltstraße in Richtung der Berge. Zu beiden Seiten befanden sich Felder, Gewächshäuser aus Plastikplanen und hin und wieder einige Pflaumenbäume. Kein Mensch war zu sehen, und es gab keine einzige Ampel. Zum Schluss fuhren wir einen steilen, kurvigen Weg hinauf, und als Masahiko in den niedrigsten Gang schaltete, kam vor uns das Haus in Sicht. Anstelle eines Tors gab es nur zwei prächtige Pfeiler. Auch ein Zaun fehlte. Es sah aus, als ob ein Tor und ein Zaun geplant gewesen wären, der Besitzer es sich jedoch anders überlegt und es bleiben gelassen hätte. Wahrscheinlich hatte er mittendrin bemerkt, dass er keine Einfriedung brauchte. An einem der Pfeiler hing eine Namenstafel, auf der Amada stand. Dahinter befand sich ein kleines Cottage im westlichen Stil, von dessen Schieferdach ein verwitterter Schornstein aus Backstein aufragte. Das Haus war niedrig gebaut, aber das Dach war ungewöhnlich hoch."
    Ein mysteriöses Bild
    Um nicht ganz zu vereinsamen, gibt der neue Bewohner des Künstlerdomizils zweimal die Woche Malkurse für Kinder und Erwachsene in der nahegelegenen Stadt Odawara und lernt dort zwei Frauen kennen, mit denen er Affären beginnt. Mit dem Malen klappt es nicht ganz so gut. Stattdessen hört er sich durch Amadas Opernschallplatten und beschäftigt sich mit dessen Werk. So fragt er sich, warum der berühmte Maler, der in jungen Jahren in einem westlichen Stil gemalt hatte, sich nach einem längeren Aufenthalt in Wien, Ende der 30er-Jahre, der Nihonga-Malerei zuwandte. Dieser traditionelle Stil ist für seine nostalgische Heiterkeit in der Abbildung historischer Motive bekannt, die die harmonische Gemeinschaft der Frühzeit als Utopie feiert.
    Als der Erzähler eines Nachts von seltsamen Geräuschen geweckt wird, spürt er ihnen nach. Er landet schließlich auf dem Dachboden, findet dort eine kleine Eule und ein mysteriöses Paket. Darin befindet sich ein Gemälde mit dem Titel "Die Ermordung des Commendatore", das Tomohiko Amada wohl vor der Welt verstecken wollte.
    "Unter mehreren Schichten des braunen Packpapiers kam ein in weißen, weichen Baumwollstoff gehülltes, einfach gerahmtes Bild zum Vorschein. Langsam und vorsichtig, als würde ich den Verband eines Menschen mit schweren Brandverletzungen lösen, schlug ich das Tuch auf. Darunter befand sich, wie erwartet, ein rechteckiges Nihonga. Ich stellte es ins Regal, um es aus einiger Entfernung zu betrachten.
    Das Bild trug ohne Zweifel Tomohiko Amadas Handschrift. Die Kühnheit der leeren Stellen und die dynamische Komposition belegten seinen unverwechselbaren Stil. Es konnte nur aus seiner Hand stammen. Dargestellt waren zwei Männer in Garderobe und Haartracht der Asuka-Zeit. Allerdings versetzte mir der Anblick des Bildes einen gewaltigen Schrecken. Es wirkte derart brutal, dass es mir den Atem nahm."
    Das Bild zeigt die beiden Männer im Kampf mit schweren altertümlichen Schwertern. Der jüngere von ihnen hat dem älteren, dem Titel des Bildes nach zu rechnen, handelt es sich um den Commendatore, seine Waffe tief in die Brust gestoßen. Blut schießt hinaus, das sein weißes Gewand rot färbt.
    "Die Klinge hatte ihn offenbar mit großer Gewalt durchbohrt. Sein Mund war schmerzverzerrt. Die Augen waren weit aufgerissen und schienen vor Entsetzen aus den Höhlen zu quellen. Er wusste, dass er geschlagen war. Doch der wahre Schmerz hatte ihn noch nicht heimgesucht. Der Jüngere dagegen maß den Besiegten mit eiskaltem Blick. In seinen Augen lag kein Anflug von Reue, keine Spur von Verwirrung oder Angst, er war nicht im Mindesten aufgewühlt. Anzusehen waren ihm nur Gelassenheit, der Triumph des eigenen Sieges und die Gewissheit, seinen Gegner tödlich getroffen zu haben. Für ihn war das hervorsprudelnde Blut nicht mehr als ein Beweis für seinen Sieg. Es weckte keinerlei Regung in ihm."
    Der Maler erkennt in diesem Motiv die Adaption einer Szene aus dem ersten Akt von Mozarts Oper "Don Giovanni". Hier ersticht der Titelheld tatsächlich einen Commendatore – den Vater der jungen Donna Anna, die er zu verführen versucht. Vermutlich liegt also irgendwo in diesem Bild die Erklärung für den Sinneswandel des jungen Tomohiko Amada, aus Wien nach Japan zurückzukehren und ein Nihonga-Maler zu werden.
    Kammer des Unbewussten
    Der Fund setzt langsam eine Reihe von Ereignissen in Gang, die den Erzähler in seinem Innersten verändern werden. Zunächst tritt ein geheimnisvoller Mann in sein Leben, der ihm über einen Anwalt ein lukratives Angebot für ein Porträt zukommen lässt. Angesichts des Honorars nimmt er an. Der Auftraggeber heißt Wataru Menshiki – ein sprechender Name, der ihn einerseits zum Antagonisten des Malers macht, andererseits darauf hindeutet, dass er eine wichtige Funktion in dieser Geschichte haben könnte: Menshiki bedeutet so viel wie "Farbvermeider", was auch mit seinen schlohweißen Haaren korrespondiert, Wataru bedeutet "überqueren", er wohnt auf der anderen Seite des Tals in einer luxuriösen Residenz.
    Menshiki besteht darauf, dem Maler jeden Tag Modell zu sitzen. Doch der kühle, rationale Mann gibt zunächst wenig von sich preis und so fällt dem Porträtisten die Arbeit schwer. Doch im Lauf der Zeit erfährt er mehr über seinen Auftraggeber, der 54 Jahre alt ist, früher ein IT-Unternehmen geleitet hatte, das er irgendwann verkaufte, um im Internet mit Aktien zu handeln. Nach einem mysteriösen Brief aus dem Nachlass einer verstorbenen Ex-Freundin vermutet er, eine Tochter zu haben.
    Als der Erzähler eines Nachts erneut von Geräuschen geweckt wird, dieses Mal ist es eine Art Läuten, und er ihm nachspürt, entdeckt er, dass es aus einem Steinhaufen neben einem verrotteten Schrein hinter dem Haus kommt. Er weiht Menshiki in seine Entdeckung ein, der gleich einen Unternehmer beauftragt, die Steine abzutragen.
    "Die Arbeiter hatten sämtliche Steinplatten entfernt und die Öffnung freigelegt. Das quadratische Gitter hatten sie herausgenommen und an die Seite gelegt. Es war aus solidem, schwerem Holz, alt, aber nicht verwittert. Zum Vorschein gekommen war eine runde Kammer von etwas weniger als zwei Metern Durchmesser und ungefähr zweieinhalb Metern Tiefe. Sie war vollständig ausgemauert, nur der Boden schien aus Erde zu sein. Es wuchsen keine Pflanzen darin. Die Kammer war leer, weder ein Mensch in Not noch eine Dörrfleischmumie befanden sich darin. Auf dem Boden lag einsam nur ein altertümliches Instrument aus mehreren übereinander angebrachten Glöckchen mit einem etwa fünfzehn Zentimeter langen Holzgriff."
    Der Zweck, den diese Kammer einst erfüllt haben könnte, bleibt unklar. Für einen Brunnen ist die Öffnung zu groß, sind die Wände zu gut gemauert. Wieder scheint das Geheimnis größer zu werden, je mehr der Erzähler ihm auf den Grund geht. Doch zugleich muss sich durch diese Aktion etwas verändert haben, denn plötzlich geht dem Maler das Porträt seines vermögenden Auftraggebers leicht von der Hand, ja, es scheint der Beginn eines künstlerischen Durchbruchs zu sein. Er beginnt direkt mit dem nächsten Bild: einem Porträt des geheimnisvollen Mannes mit dem Subaru Forester. Die Kammer scheint eine Art ausgelagertes Unbewusstes zu sein. Ihre Öffnung hat etwas freigesetzt. Was, das erfährt er wenig später: Der Commendatore aus Amadas Bild erscheint leibhaftig in seinem Atelier und stellt sich als eine eigentlich körperlose "Idee" vor, die sich das altertümliche Gewand aus dem Gemälde eher zufälligerweise angelegt hat.
    Die Doppelgängerin
    Kurz darauf kehrt Menshiki zurück, um den Erzähler zu bitten, ein Porträt seiner mutmaßlichen Tochter anzufertigen. Es stellt sich heraus, dass diese im selben Tal lebt und Menshiki seine Residenz auf dem Hügel nur erworben hat, um sie beobachten zu können. Zudem besucht sie einen der Malkurse des Erzählers. Hatte der berechnende Ex-IT-Unternehmer den Maler mit seinem lukrativen Angebot nur gelockt, um seiner Tochter näher zu kommen?
    "Marie Akikawa war ein zierliches, sehr stilles dreizehnjähriges Mädchen, das einen meiner Malkurse für Kinder besuchte. Er war eigentlich für Grundschüler gedacht, deshalb war sie die Älteste, aber weil sie so brav war, fiel sie zwischen den Kleinen überhaupt nicht auf. Sie saß immer ganz hinten in einer Ecke, wie um sich unsichtbar zu machen. Dass ich mich überhaupt an sie erinnerte, lag nur daran, dass sie eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner verstorbenen Schwester hatte und ungefähr im gleichen Alter war wie diese bei ihrem Tod."
    Es sind bei Murakami fast immer Frauenfiguren, die die hadernden Helden wieder in die Spur bringen. In diesem Fall ist es Marie Akikawa, die bald mit ihrer hübschen Tante Shoko im Atelier des Malers erscheint, um ihm Model zu sitzen. Ihr Auftritt setzt die Auflösung der labyrinthischen Grundkonstellation in Gang. Sie kennt den Schrein im Garten des Hauses, und sie setzt den Erzähler auf die Spur, das Geheimnis von Amadas Gemälde "Die Ermordung des Commendatore" zu ergründen, das eng mit der japanischen und deutschen Geschichte verwoben ist.
    Reise in die Welt des Bildes
    Marie fungiert hier als Doppelgängerin der verstorbenen Schwester des Erzählers und muss somit geradezu zwangsläufig irgendwann verschwinden. Eines Tages kommt sie nicht aus der Schule heim. Aber dieses Mal hat der Maler die Chance, sie zurückzuholen. Dafür muss er eine Reise antreten, die ihn zunächst ans Sterbebett von Tomohiko Amada und schließlich in die Welt seines Bildes "Die Ermordung des Commendatore" führt. Dort erscheint alles metaphorisch, und er kommt an einen Fluss, der das Sein vom Nichtsein trennt. Erst wenn er diesen überquert und die Metaphern in seinem eigenen Denken aufgelöst hat, kann er Marie finden und in sein altes Leben, zu seiner Frau zurückkehren. Die ist mittlerweile schwanger. Nur von wem?
    "Ich würde nie wie Menshiki sein. Er balancierte sein Leben zwischen der Möglichkeit aus, dass Marie Akikawa vielleicht seine Tochter war oder vielleicht auch nicht. Er versuchte den Sinn seiner Existenz in einem endlosen Schwanken zu finden, indem er diese beiden Möglichkeiten in die Waagschale warf. Doch ich brauchte keine so anstrengende (und doch ein wenig unnatürliche) Herausforderung, denn aus irgendeinem Grund besaß ich die Kraft zu glauben. Ich war in der Lage, aufrichtig darauf zu vertrauen, dass es, ganz gleich, in welcher engen Dunkelheit ich gefangen war, ganz gleich, in welche öde Wildnis es mich verschlagen hatte, immer etwas gab, das mich herausführen würde. Das hatten mich meine ungewöhnlichen Erlebnisse in dem Haus auf dem Berg bei Odawara gelehrt."
    Viele Bezüge zu Kultur und Pop
    Es ist ein cleveres, oft auch sehr komisches Spiel mit Spiegeln und Doppelgängern, Magie und Realität, Mysterien und Psychologie, das Murakami in seinem herrlich schlichten und lakonischen Tonfall aufzieht. Den verdanken wir wieder der wundervollen Übersetzung von Ursula Gräfe. Natürlich ist "Die Ermordung des Commendatore", wie jeder seiner Romane, voller Bezüge zu klassischer und populärer Musik, Film, Kunst, Mythos, Religion und Philosophie, doch vor allem erkennt man hier sehr viele Motive aus Murakamis eigenen Werken wieder. Die entlaufene Katze, die die surreale Handlung des ähnlich epischen "Mister Aufziehvogel" auslöst, einer Art Zwillingsbuch zu "Die Ermordung des Commendatore", scheint hier ebenso wieder aufzutauchen wie die ödipale Konstellation aus "Kafka am Strand", die unbefleckte Empfängnis aus "1Q84" und das Spiel mit Farben und Schicksalen aus "Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki". Der 69-Jährige hat in diesem knapp 1.000-seitigen Epos zudem noch einmal all seine Lebensthemen gebündelt – Verlust und Älterwerden, Bewusstsein und Unterbewusstsein, Realität und Fantasie, Zeit und Zeitlosigkeit, Sein und Nichtsein. Vor allem aber nimmt sein Schreiben hier selbst Gestalt an, werden Idee und Metapher zu handelnden Figuren. So ist "Die Ermordung des Commendatore" sowohl ein Roman über das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit als auch eine persönliche Poetologie, in der Murakami den eigentümlichen Schwebezustand seines Werks zwischen Fantastik und Realismus aufdeckt.
    Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore I. Eine Idee erscheint
    Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
    Dumont, Köln 2018. 480 Seiten, 26 Euro.
    Haruki Murakami: Die Ermordung des Commendatore II. Eine Metapher wandelt sich
    Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
    Dumont, Köln 2018. 496 Seiten, 26 Euro.