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Harvard-Forschung
Die Physik des Kämmens

Wie sich Haare am besten entwirren lassen, haben zwei Harvard-Forscher mit Hilfe von Formeln und Computersimulationen erforscht. Das Ergebnis ist nicht nur für Langhaarige interessant - auch in der Industrie könnte der optimierte Kämm-Prozess Anwendung finden.

Von Frank Grotelüschen | 08.03.2019
Eine Frau kämmt ihre Haare.
Eine Erkenntnis der Physiker Thomas Plumb-Reyes und Nicholas Charles: Meist verdrillen sich nur zwei Haare miteinander. (imago/Frédéric Cirou )
Für Menschen mit Mähne ist es ein lästiges Ritual: Das Haar ist widerspenstig und vom Kamm nur schwer zu bändigen. Es ziept und zieht und dauert, bis die Frisur einigermaßen sitzt. Ein ganz alltäglicher Prozess. Dennoch hat er jüngst das Interesse von Thomas Plumb-Reyes und Nicholas Charles geweckt.
An der Harvard Universität in den USA haben sie systematisch erkundet, wie man am besten Haare entwirrt – und anderes. Die Frage war:
Nicholas Charles: "Welche Prinzipien können wir ganz allgemein ableiten für solche Strukturen?"
Zunächst suchten die Physiker nach einem Modellsystem, das sich leichter untersuchen ließ als Haare - die sind ja bekanntlich haarfein. Sie entschieden sich für Angelschnüre, hängten mehrere nebeneinander auf und brachten sie in Verwirrung.
Nicholas Charles: "Wir analysierten, wie viele Schnüre sich jeweils ineinander verdrillt haben: Waren es zwei, drei, vier oder fünf? Und wir fanden heraus, dass sich in den meisten Fällen nur zwei Schnüre ineinander verdreht haben."
Versuche mit Pferdemähne und Haarspenden
Eine durchaus überraschende Erkenntnis. Sie bedeutete, dass sich die Physiker bei ihrem nächsten Experiment auf zwei Angelschnüre konzentrieren konnten, die – ähnlich wie die DNA – zu einer Doppelhelix verdrillt sind. Um herauszufinden, was beim Entwirren dieses Gebildes passiert, hängten sie die Angelschnur-Helix auf und zogen einen einzelnen Kammzinken von oben nach unten durch sie hindurch. Dabei maßen sie die Kraft, die der Zinken zum Lösen der Helix brauchte.
Thomas Plumb-Reyes: "Bewegt sich der Zinken von oben nach unten durch die Helix hindurch, zieht er sie hinter sich auseinander, wogegen er sie vor sich zusammendrückt. Dadurch wird die Kraft, mit der man den Zinken bewegen muss, immer größer."
Doch hat das Modell auch für einen kompletten Haarschopf Gültigkeit und nicht nur für zwei Schnüre und einen Zinken? Charles und Plumb-Reyes, beide mit kämmfreundlichem Kurzhaarschnitt, wagten die ultimative Nagelprobe.
Thomas Plumb-Reyes: "Wir besorgten uns Pferdemähne und ein paar großzügige Spenden von unseren langhaarigen Freunden, um sie systematisch durchzukämmen."
Kämmen als mathematisches Modell
Die beiden spannten tierische wie menschliche Strähnen in eine selbstgebaute Kämm-Maschine ein. Computergesteuert fuhr ein Kamm von verschiedenen Startpositionen aus durchs Haar. Sensoren maßen die Kräfte.
Thomas Plumb-Reyes: "Unser Ergebnis quantifiziert die optimale Kämm-Strategie: Man beginnt mit dem Kämmen am Ende des Haars und arbeitet sich dann in Richtung Kopfhaut vor."
Ein erwartbares Ergebnis, zugegeben. Bemerkenswert ist vielmehr, dass die Harvard-Forscher den Kämmprozess mit einem erstaunlich simplen mathematischen Modell nachbilden konnten – zwei Haare, aufgewickelt zu einer Helix. Thomas Plumb-Reyes:
"Wir denken, dass sich das auf andere Systeme übertragen lässt, auf Kunststoff-Fasern etwa, Magnetfeldlinien oder Nervenbündel. Wir haben auch schon über eine Anwendung in der Industrie nachgedacht – und zwar das Kämmen von Rohwolle, bevor man sie zu Garn verarbeiten kann. Wie das ist im Detail funktioniert, ist noch nicht gut verstanden. Hier könnte unsere Arbeit eine konkrete Anwendung finden."