Samstag, 20. April 2024

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Heidemarie Wiezcorek-Zeul
"Die Austerität zerstört die europäische Solidarität"

Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) erinnert sich im Zeitzeugengespräch, wie sie 2002 gemeinsam mit Fidel Castro und Jacques Chirac eine Finanztransaktionssteuer gefordert hat. Zu ihren wichtigsten politischen Zielen gehört die Armutsbekämpfung. In der Flüchtlingsdebatte bezieht die 73-Jährige klar Position.

Heidemarie Wieczorek-Zeul im Gespräch Rainer Buchardt | 28.04.2016
    Heidemarie Wieczorek-Zeul
    Die ehemalige Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit Heidemarie Wieczorek-Zeul (imago / IPON)
    Sprecherin: Kaum eine Ministerin, kaum ein Minister der vergangenen Jahrzehnte erwies sich als so sattelfest wie Heidemarie Wieczorek-Zeul. Elf Jahre lang, die sieben rot-grünen Jahre und die erste großkoalitionäre Periode bis 2009 war sie Chefin des Entwicklungsministeriums. Dabei hatte HWZ, wie sie oft intern genannt wurde, sowohl in der SPD wie auch im anderen politischen Lager stets genug Gegner. Der Spitzname "die rote Heidi" hing ihr nicht nur wegen ihrer Haarfarbe an. 1942 in Frankfurt geboren, arbeitete sie schon in Rüsselsheim als Lehrerin, als die Studentenrevolte ausbrach. Doch war sie auch bei den Jusos – das war die Brücke zur Bewegung. Diese Verbindung zu den sozialen Bewegungen ist HWZ wichtig geblieben. Immer war sie empfindlich, wenn sie später als Ministerin von Nichtregierungsorganisationen kritisiert wurde, sie, die sie sich im Parteiestablishment als deren Fürsprecherin empfand. 1974 wurde HWZ zur Juso-Bundesvorsitzenden gewählt, als Schützling von Willy Brandt, wie sie oft betont, und Brandt soll ihr auch 1979 zur Wahl ins Europaparlament verholfen haben. Seit 1984 im SPD-Bundesvorstand, ab 1987 für Wiesbaden im Bundestag war Wieczorek-Zeul eine Stimme der SPD für Europa, für den Blick in die Welt. Als Gerhard Schröder 1998 sein Kabinett zusammenstellte, war klar, an HWZ kam er nicht vorbei. Als Entwicklungsministerin gelang es ihr dann nie, die Entwicklungshilfe des Bundes auf das Maß zu hieven, das sie gern gehabt hätte. Auch die Zusammenlegung der großen staatlichen Entwicklungsapparate blieb ihrem Nachfolger überlassen. Doch auch diejenigen, die ihr etwa mangelnden Einfluss im Kabinett vorwarfen, hielten Heidemarie Wieczorek-Zeuls Engagement für Menschenrechte, namentlich für die Rechte von Frauen und Mädchen, immer für überzeugend. 2013 schied sie aus dem Bundestag aus.
    Heidemarei Wieczorek-Zeul
    Heidemarei Wieczorek-Zeul beim SPD-Parteitag 1982 (dpa/picture-alliance/Klaus Rose)
    Heidemarie Wieczorek-Zeul: Da war ich stolz auf die Menschen und auch stolz auf mein Land.
    Das Schicksal der anderen, Aufbruch, Flucht und Migration als persönlich bewegende Themen.
    Rainer Buchardt: Frau Wieczorek-Zeul, Sie waren elf Jahre lang Ministerin, dieses sogar übergreifend – einmal in der Regierung Rot-Grün unter Gerhard Schröder, und dann noch mal in der großen Koalition. Sie waren zuständig als Ministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit, früher hieß sowas Entwicklungsministerin oder Ministerin für …
    Wieczorek-Zeul: Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, ja.
    "Eine Schande für diejenigen, die die Grenzen geschlossen haben"
    Burchardt: … Entwicklungshilfe. Wenn Sie jetzt diese aktuelle Flüchtlingssituation sehen und die Haltung vieler europäischer Staaten, die einfach die Grenzen dicht machen, Europa quasi eine faktischen Festung ist, was für Gedanken bewegen Sie da?
    Wieczorek-Zeul: Na ja, zum einen kann ich meinen Blick überhaupt nicht davon abwenden, wie das Elend von Flüchtlingen an der Grenze Griechenland-Mazedonien ist, wo Menschen im Schlamm, in der Wüste, in Wüstenei leben, Kinder und Frauen, und das ist schon, finde ich, schon eine Schande, eine Schande für die, die auch die Grenzen geschlossen haben. Ich finde, es wäre zum Beispiel notwendig, dass die, die da gestrandet sind, in europäischen Ländern aufgenommen werden. Also das zu der ganz akuten und aktuellen Situation, und ansonsten können wir jetzt eigentlich feststellen: Wir haben schon seit Jahren gewusst, dass Flüchtlinge zu uns kommen. Ich erinnere an eine Situation, das war das Jahr 2004, da hat der Elias Bierdel, damals Cap Anamur im Mittelmeer 38 afrikanische Flüchtlinge aufgenommen und nach Porto Empedocle in Italien gebracht, und er ist wegen Schleuserei vor Gericht gestellt worden in Italien und ist erst im Jahr 2009 freigesprochen worden. Der hat den Job verloren, er hat Cap Anamur verloren. Das heißt, was will ich damit sagen: Eigentlich lagen schon alle Vorschläge für eine regulierte Migration für eine Flüchtlingspolitik, die weitsichtig ist und auch davon ausgeht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, vor, aber es durfte nie sein, weil wir angeblich kein Einwanderungsland waren und sind, und dann die plötzliche Veränderung führt natürlich dann auch zu einer Situation, in der jedenfalls die Staaten nicht vorbereitet sind. Die Menschen sind vorbereiteter als die Staaten.
    Burchardt: Ist das nicht eine große Überraschung aus Ihrer Sicht, dass die deutsche Bevölkerung eine solche Willkommenskultur entwickelt hat, mal abgesehen von Pegida und anderen, aber überwiegend doch eine sehr positive Haltung gehabt hat?
    Wieczorek-Zeul: Das ist einfach wunderbar, also, da war ich stolz auf die Menschen und auch stolz auf mein Land.
    "Die Bevölkerung war weiter als die offizielle Regierungspolitik"
    Burchardt: Aber waren die nicht dann irgendwo in der Ecke, dass man sagt, na ja, das ist alles sehr naiv und im Grunde –
    Wieczorek-Zeul: Nein.
    Burchardt: – geht es doch darum, dass wir uns das überhaupt nicht leisten können?
    Wieczorek-Zeul: Nein, das kann man im Übrigen nicht sagen, sondern wir haben auch oft beim SPD-Parteitag alle zwei Jahre Projekte anerkannt und gewürdigt und mit Preisen versehen. Da haben wir festgestellt, es gab Initiativen, die schon im Jahr 2012, 2013 begonnen haben und die Thematik wirklich auch behandelt haben und Menschen frühzeitig auch mit aufgenommen haben. Das zeigt einfach, die Bevölkerung war weiter als das die offizielle Regierungspolitik war.
    Burchardt: Sie haben eben das Datum 2009 gewählt, als Sie gerade diese Cap-Anamur-Geschichte erwähnt haben. Sie waren bis 2009 Ministerin. War im Vorfeld aus Ihrer Sicht auch diese Entwicklung schon absehbar, und hatten Sie als Ministerin möglicherweise auch den Impetus, darauf hinzuweisen und zu sagen, Leute, da kommt was auf uns zu?
    Wieczorek-Zeul: Absolut. Also was auch eigentlich in der kollektiven Vergessenheit irgendwie versunken ist, jedenfalls politisch gesehen: Es gab, das muss das Jahr 2004 gewesen sein, einen Bericht einer UN-Kommission, die geleitet worden ist von Rita Süssmuth und von dem früheren schwedischen Entwicklungsminister, einem früheren Kollegen von mir, Karlsson, und das hießt "Migration and Development". Die haben damals schon all das vorgeschlagen, was wirklich hätte eingeleitet werden müssen: Also zum Beispiel, haben sie vorgeschlagen, insbesondere gegenüber afrikanischen Ländern, was sie nannten "zirkuläre oder temporäre Migration", das heißt, die praktisch vertraglich geregelte Aufnahme von Flüchtlingen, die auch aus wirtschaftlichen Gründen hier sein wollen, die Ausbildung und Arbeit hier aufnehmen können, die aber vertraglich gesehen auch die Möglichkeit haben müssen, wieder zurückzukehren, auch im eigenen Land aufzubauen. Sie haben darauf hingewiesen – und das haben wir sehr stark versucht –, dass die Diasporamenschen, die hier leben, aus anderen Ländern, weltweit dreimal so viel Mittel an ihre Heimatländer oder die Menschen in ihren Heimatländern zurückleiten, als "Official Development Assistance" geleistet wird. Das heißt, das ist auch ein Beitrag dazu, aber wie gesagt, leider hat das damals keine Chance gehabt, aufgenommen zu werden.
    Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (M), Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und der hessische SPD-Vorsitzende Thorsten Schäfer-Gümbel
    Bundesentwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul und Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier im SPD-Wahlkampf 2009 (dpa/picture-alliance/Frederik von Erichsen)
    Burchardt: Welches wären aus Ihrer Sicht aktuelle Lösungsansätze?
    Wieczorek-Zeul: Ich plädiere dafür, dass wir, weil man ja sehen kann, dass im Moment keine europäische Solidarität existiert, ein Stück Solidarität auch wieder dadurch herzustellen, dass man die Flüchtlingssituation verbindet mit einer großen Investitionsinitiative auf der europäischen Ebene, die dann natürlich die Aufnahme vor allen Dingen in den Ländern finanziert, die besonders betroffen sind: Griechenland, Italien wird es demnächst auch wieder sein, Portugal, Spanien - also eher die Südeuropäer, aber auch andere Länder, die dann aufnehmen. Das muss europäisch finanziert oder mindestens die Kredite abgesichert werden, weil das sonst nicht funktionieren kann. Das würde dann auch der Integration von Menschen, die hierhergekommen sind, helfen. Ich bin ohnehin der Meinung, dass wir Europa retten müssen, und das wäre eigentlich eine Initiative, die Flüchtlingssituation zu verbinden mit einer solchen Initiative "Rettet Europa".
    "Die friedenssicherende Rolle, die die EU spielen könnte, ist wichtig"
    Wieczorek-Zeul:Die Austerität zerstört Solidarität
    Die Europäerin: Von der Suche nach einer Vorbildrolle für die Europäische Union.
    Burchardt: Formel "Europa retten" – wer hätte das gedacht. Sie sind 1979 ins Europaparlament gewählt worden. Damals war die erste Direktwahl und man hat sich eine ganze Menge von Europa damals versprochen. Es kam dann auch die Süderweiterung, die Sie von Brüssel aus und Straßburg sehr erheblich auch mit unterstützt haben, unter anderem Griechenland, also alles, Spanien, Portugal, alles Länder, die aus Diktaturen kamen und die Illusion hatten, wir sind jetzt mit in einem europäischen Staatenverbund. Wenn man sich, um jetzt bei der Flüchtlingspolitik zu bleiben, wenn man sich mal anschaut, wie gerade Osteuropa sich im Augenblick verhält – Orbán in Ungarn, dann in Polen, da werden überall die Grenzen dicht gemacht –, die deutsche Politik profitiert letztendlich sogar davon: Ist das eine verlogene Haltung, die in Europa eingekehrt ist, oder was ist es eigentlich? Sie haben auch von einer europäischen Solidarität gesprochen. Davon ist eigentlich nicht mehr viel zu spüren.
    Wieczorek-Zeul: Ja, also erstens finde ich, fehlt die längerfristige Perspektive, und das wird oft vergessen. Wenn ich international unterwegs bin, ist – in Indien oder wo auch immer – die Frage, was ist eigentlich mit dem Euro. Der Euro war auch der Versuch, mit einer europäischen Währungsunion sozusagen eine größere, stärkere Rolle in den internationalen Beziehungen als Europäische Union zu spielen, mit der Frage der sozialen Verantwortung, mit der ökologischen Verantwortung, mit wirtschaftlichen Fähigkeiten. Das ist ein Beispiel, wenn wir die Rolle verlieren, die Europäische Union, dann bestimmt eine Form von amerikanischen Kapitalismus und von chinesisch-autoritärem System die Welt.
    Burchardt: Mit der Rolle meinen Sie jetzt den europäischen Fiskalismus oder was meinen Sie da genau, oder eine Dominanz im …?
    Wieczorek-Zeul: Wer jetzt weltweit die Regeln bestimmt, das meine ich. Wenn die Europäische Union als Vorbild ausfällt für afrikanische Staaten zum Beispiel, die ihre Hoffnung [darauf] setzen, wenn die ausfällt als Perspektive, als Hoffnung, als Vision – wie gesagt, wer entscheidet dann: Amerikanische Positionen, chinesische Positionen, eher autoritäre Systeme – Beispiel China. Deshalb halte ich es für unverantwortlich, die Substanz der Existenz der Europäischen Union aufs Spiel zu setzen. Mein Kritikpunkt ist, dass die Art nach der Finanzkrise nach 2009, wie die Austeritätspolitik von Seiten der Bundesregierung Merkel-Schäuble den anderen europäischen Staaten aufgezwungen worden ist, das ist zutiefst entsolidarisierend. Deshalb hoffe ich, mit so einer europäischen Initiative auch wieder Solidarität zurückzubringen, denn die Austerität zerstört Solidarität. Deshalb ist der Kern eigentlich eher die Veränderung dieser Position, weil dann auch wieder die Chance besteht, dass alle spüren, alle europäischen Staaten spüren, ja, wir haben etwas davon. Die friedenssichernde Rolle, die die Europäische Union spielen könnte und müsste, die ist wichtig.
    Burchardt: Sie sagen jetzt die Austerität zerstört Solidarität. Die Austerität ist natürlich jetzt mehr vom finanzpolitischen, vom Wohlstandsgefälle eher zu definieren, aber wird im Augenblick nicht die Solidarität in Europa viel mehr dadurch zerstört, dass Europa deswegen auseinanderfällt, weil viele Länder sie einfach nicht mehr wollen? Es kommt jetzt noch das Schlagwort Brexit dazu – keiner weiß, wie die Briten demnächst abstimmen werden. Das heißt also vor diesem Hintergrund doch, der Vorwurf nicht ganz unberechtigt erscheint, dass viele Länder die Europäische Union als Selbstbedienungsladen sehen.
    Wieczorek-Zeul: Ja, aber ich meine, da fand ich die Rede von Helmut Schmidt auf dem SPD-Parteitag im Jahr 2011 wegweisend. Deshalb kommt es auf die Verantwortung der Bundesregierung an. Deutschland ist das stärkste Land, und in diesen Fragen selber national egoistisch vorzugehen, ist ein Ansteckungsprozess, der auch andere natürlich ergreift. Deshalb, wie gesagt, nicht die Regierungen, die alles irgendwie untereinander im Wege des Stils miteinander ausmachen, sondern Stärkung der europäischen Institutionen. Ich finde, das europäische Parlament hat da Statur gewonnen, aber auch die wirklichen europäischen Institutionen, und auch trotz allem die Weiterentwicklung der Währungsunion in Richtung außerpolitische Union, und wer dann halt nicht mitmachen will, okay, der ist dann in einem Kreis, im Umfeld, aber die politische Union, das muss schon verwirklicht werden.
    Bob Geldof und Heidemarie Wieczorek-Zeul
    Bob Geldof und Heidemarie Wieczorek-Zeul 2009 bei der Veranstaltung Cinema for Peace (dps/picture-alliance/Jens Kalaene)
    Deutschlandfunk, das Zeitzeugen-Gespräch, heute mit der ehemaligen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
    Wieczorek-Zeul: Wir haben eigentlich die Auswirkungen unserer Form des Wirtschaftswachstums und des Wirtschaftens outgesourct.
    Globales Denken: Wo Ungleichheit herrscht, muss man das aussprechen.
    Burchardt: Eine vielgehörte politische Parole lautet immer wieder "wir müssen die Ursachen bekämpfen – vor Ort". Ist das nicht hohle Phrasendrescherei?
    Wieczorek-Zeul: Sie meinen Fluchtursachen? Ich entgegne dem auch zumeist, lasst uns mal dazu beitragen, Fluchtursachen made in Europe –
    Burchardt: Oder made in Germany. Wir sind fünfgrößter Waffenlieferant.
    Wieczorek-Zeul: – made in Germany, made in Europe, würde ich es im weitesten Sinne sagen, zu bekämpfen, weil ich nehme jetzt mal die Frage CO2-Emissionen und unmittelbare Auswirkungen des Klimawandels in Afrika, dass jetzt schon einem Teil Kaffeebauern die Existenz verloren geht, die Frage Waffenexporte, zu Recht, die Frage Agrarexporte, Agrarexportsubventionen, die einen Teil der Landwirtschaften in den afrikanischen Ländern zunächst einmal entmachtet, und natürlich auch Ungleichheit als eine Quelle von Flucht von Menschen, die unter Lebensbedingungen nicht leben wollen, die für sie elend sind. Also, das alles sind Ursachen, die wir auch anpacken müssen, und ich hoffe, die Nachhaltigkeitsentwicklungsziele, die jetzt die Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2015 beschlossen hat, die sind jetzt verpflichtend für alle Staaten, also auch für Deutschland, auch für die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Die müssen natürlich dann auch Konsequenzen haben, und zwar durchaus revolutionäre.
    Wieczorek-Zeul: Durch TTIP werden afrikanische Staaten weiter marginalisiert
    Burchardt: Jetzt stellt sich natürlich … Gut, die SPD war überwiegend keine revolutionäre Partei, aber es stellt sich natürlich die Frage an die Sozialdemokratin Heidemarie Wieczorek-Zeul, was tut die SPD in der großen Koalition zu den von Ihnen, ich glaube, es waren fünf Aufgaben, die Sie da gestellt haben bei der möglichen Bekämpfung der Ursachen von Flucht. Was tut die SPD da in der Regierung?
    Wieczorek-Zeul: Also das eine ist ein kritischer Punkt, den halte ich auch persönlich aufrecht: Der kritische Punkt ist, wir diskutieren über die Frage Auswirkungen EU-USA-Abkommen TTIP. Es diskutiert kaum jemand über die Frage, wenn das ein Abkommen zwischen zwei großen ökonomischen Blöcken wird, was heißt das für die afrikanischen Länder und deren Exportchancen und Möglichkeiten, und man kann nicht einerseits TTIP als beispielhaft erwähnen und umgekehrt sehen, dass es ein Stück weiterer Marginalisierung Afrikas bedeutet.
    Burchardt: ... aber da gibt es eine flächendeckende Kritik...
    Wieczorek-Zeul: Ja, aber dieser Aspekt – ich meine, die Frage Chlorhühnchen und alle anderen Sachen sind mehr im öffentlichen Bewusstsein, als dieser eben ange…
    Burchardt: Weil das greifbar ist.
    Wieczorek-Zeul: Ja, aber umgekehrt – noch mal: Der Bob Geldof hat sein Fonds für Afrika genannt "Twelve Miles" … "Eight Miles", entschuldigung. Zwölf Kilometer ist der kürzeste Abstand zwischen Afrika und Europa. So, das heißt, wir spüren jetzt eigentlich – das ist doch der tiefere Punkt –, wir spüren doch, wir haben bisher die Industrieländer, aber auch Deutschland und die Europäische Union, wir haben die Auswirkungen unserer Form des Wirtschaftswachstums und des Wirtschaftens outgesourct. Wir können das nicht mehr länger outsourcen, ohne dass die Konsequenzen zu uns zurückkehren. Ich erwarte auch von meiner Partei, dass dies im Bewusstsein – auch von der Kanzlerin –, dass das deutlich gemacht wird, denn ohne dieses Verständnis dafür wird auch ein Teil von Konsequenzen nicht stattfinden. Ansonsten stimmt natürlich … also zum Beispiel Barbara Hendricks in der Frage Klimaschutz, ist engagiert und engagiert sich in diesen Fragen – das ist eines der Nachhaltigkeitsentwicklungsziele.In Bezug auf die Bekämpfung der Ungleichheit fände ich es noch wichtiger, wenn da auch noch mehr getan würde.
    Wieczorek-Zeul: Was wir bei ihnen gelernt haben, der Kopf ist zum Denken da und nicht zum Nicken.
    Burchardt: Ich habe Sie erlebt als Juso-Bundesvorsitzende, und wenn ich Sie jetzt hier so engagiert reden sehe und höre, erinnert mich natürlich Vieles an "die rote Heidi", wie Sie damals genannt wurden. Das war durchaus ein ambivalentes Etikett, …
    Wieczorek-Zeul: Genau.
    Burchardt: … aber Sie haben es, glaube ich, mit Stolz getragen.
    Wieczorek-Zeul: Ja.
    Burchardt: In der damaligen Zeit, es ging damals …,
    Wieczorek-Zeul: Ich finde nach wie vor besser rot als blass!
    Burchhardt: … 60er, 70er-Jahre … Damit sind wir auch bei Ihrer Entwicklung: Sie stammen aus Frankfurt, aus dem Frankfurter Raum. Wer das nicht hört …
    Wieczorek-Zeul: Der hat keine Ohren!
    "Ich hatte das große Glück und bin dem Generalstaatsanwalt Fritz Bauer begegnet"
    Burchhardt: Sie waren zunächst Lehrerin zehn Jahre lang und haben sich dann doch auf den politischen Weg begeben.
    Wieczorek-Zeul: Ich habe parallel … war kommunalpolitisch aktiv, auch schon während der Juso-Zeit, und habe insofern auch alle Stufen der kommunalen Ebene, auch der Mühen der Ebene durchaus erlebt. Was habe ich als Lehrerin selber … Also erstens habe ich in meiner Ausbildung während – das war noch vor der Studentenbewegung –, ich habe von 62 bis 65 studiert, und hatte das große Glück, dass ich dem damaligen hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer begegnet bin, der mit dem Professor Simonsson, ein Freund von ihm – Professor Simonsson war für Pädagogik an der Universität in Frankfurt zuständig –, und die beiden haben ein Kolloquium parallel zu den von Fritz Bauer ja initiierten Auschwitz-Prozessen gemacht, und das hat mich wirklich für mein Leben geprägt. Das hat mich so geprägt, dass ich mir – und übrigens natürlich auch jemand wie Georg-August Zinn, überhaupt die hessische SPD und die Tradition auch der hessischen SPD –, das hat dazu geführt, dass ich mir gesagt habe, du musst dich politisch engagieren. Ich hatte auch einen Professor, Professor Elwein, der gesagt hat, gehen Sie in Parteien – gut, er war Sozialdemokrat –, gehen Sie in Parteien, und Sie werden sehen, Sie können mehr bewirken als Sie glauben. Das war die Prägung, die ich selbst hatte. Was ich schön finde, wenn ich heute manchmal Schüler und Schülerinnen, ehemalige, treffe: Neulich saß in der S-Bahn vom Frankfurter Flughafen aus nach Mainz ein Mann auf der anderen Seite – schon breiterer Scheitel –, und hat erzählt, Sie haben mich mal unterrichtet. Dann verfalle ich immer in das Du. Ich sage, wie alt bist du denn jetzt? Hat er gesagt, 54. Er hat gesagt, wie so häufig, auch welche, die gesagt haben, was wir bei Ihnen gelernt haben, der Kopf ist zum Denken da und nicht zum Nicken. Sagen wir mal, ich freu mich immer, wenn ich ehemalige Schüler treffe, weil die Prägung doch auch wichtig ist fürs Leben.
    Die Vorsitzende der Jungsozialisten Heidemarie Wieczorek-Zeul vom Bezirk Hessen-S
    SPD-Parteitag 1975 in Mannheim (Heinz Wieseler)
    Burchhardt: Es gab in der damaligen Zeit auch – und Volker Hauff hat ein Buch darauf gemacht – dieses Schlagwort "global denken, lokal handeln". War das für Sie auch wichtig?
    Wieczorek-Zeul: Na ja, natürlich. Wie gesagt, ich habe die europäische Perspektive von Anfang an immer als eine Perspektive gesehen, in der Globalisierung zu gestalten, gerecht zu gestalten, aber umgekehrt auch natürlich vor Ort in der Kommunalpolitik aktiv zu sein, was ich übrigens – heute bin ich nicht mehr in der Kommunalpolitik aktiv, aber ich finde auch das Engagement vor Ort wichtig, und ich bin eine ehrenamtliche Patin einer jungen Frau, die als unbegleiteter Flüchtling nach Deutschland gekommen ist, und bemühe mich, deren Perspektiven fürs Leben zu verbessern.
    Burchhardt: Die Dame – das weiß ich aus dem Vorgespräch – kam aus Somalia, ja?
    Wieczorek-Zeul: Ursprünglich aus Somalia, ja.
    Burchhardt: Somalia ist ein Land, das nicht unbedingt ein klassisches Fluchtland ist. Wie schwierig sind da eigentlich bei Ihnen …
    Wieczorek-Zeul: Somalia schon eigentlich.
    Burchhardt: … die politischen Implikationen, was Rückkehrrechte angeht oder Rückkehrpflicht?
    Wieczorek-Zeul: Man muss, glaube ich, immer unterscheiden, welche Möglichkeiten entweder die Anerkennung des Asyls oder die Genfer Flüchtlingskonvention oder junge Menschen, die hier Ausbildungen machen – dürfen auf keinen Fall abgeschoben werden –, also ich kämpfe dafür, dass die auch ihre Chance hier in Deutschland nutzen kann.
    Burchhardt: Viel Erfolg!
    Wieczorek-Zeul: Ja, vor allen Dingen für die junge Frau!
    Wieczorek-Zeul: Die Entwicklungspolitik, und das ist das Gute dabei, ist Teil auch innenpolitischer Entwicklungen in anderen Ländern.
    Der Nahe Osten, Israel und Palästina: Vom Umgang mit dem heikelsten aller Themen.
    Burchhardt: Ich würde noch mal gerne auf das Thema Globalisierung zurückkommen, weil das immer bisher mehr oder überwiegend jedenfalls als ein Wirtschaftsthema gesehen wurde. Ethische, moralische Aspekte spielten da keine große Rolle. Nehmen wir mal jetzt als Beispiel China – wer immer nach China kommt, wird immer mit auf den Weg bekommen, aber bitte sprich die Menschenrechte an –, haben wir es nicht mit einer Verluderung der Sitten auf politischer Ebene im Augenblick zu tun, dass dann gesagt wird, also, irgendwo im stillen Kämmerlein haben wir Menschenrechte angesprochen, aber so richtig nicht? Ich frage das deshalb, weil Sie mal sehr intensiv – ich denke, bis heute – noch eingetreten sind für einen eigenständigen Palästinenserstaat, auch für gerade Hamas und Fatah anerkannt haben, und Ihnen ist da vom ZK der jüdischen Gemeinde in Deutschland Antisemitismus vorgeworfen worden. Wie gehen Sie mit sowas um, auch vor dem Hintergrund, dass Sie ganz positiv die Rolle von Fritz Bauer im Auschwitz-Prozess [... unverständlich].
    Wieczorek-Zeul: Ich bin politisch aktiv geworden, weil ich die Rolle Willy Brandts auch gesehen habe in der eigenen deutschen Geschichte und weil ich "Nie wieder" als zentrale Motivation auch hatte. Insofern ist das ein absurder Vorwurf natürlich.
    Burchhardt: Der ist aber nie zurückgenommen worden.
    Wieczorek-Zeul: Ja, also ich habe es nicht wirklich verstanden, weil mein Punkt immer war … Übrigens ist das Thema Palästina auch so eine Sache von immer wieder verfehlten Gelegenheiten. Ich kann mich erinnern, wir haben bei den Jungsozialisten – da war ich noch nicht mal Juso-Vorsitzende, sondern das war, glaub ich, noch mein Vorgänger, Wolfgang Roth – in den 70er-Jahren gesagt, Anerkennung der PLO: und hach, großer Aufruhr und Aufregung. Dann hat Willy Brandt den Mut gehabt, zusammen mit Bruno Kreisky, Arafat zu treffen, aber es ist immer verzögert worden, und jetzt ist mittlerweile die Situation, wo viele schon denken, es wird keine Zweistaatenlösung mehr geben. Dafür habe ich mich immer engagiert, habe übrigens auch die Zusammenarbeit mit Palästina gefördert, Bildung, Zugang zu sauberem Wasser, all diese Fragen. Und natürlich auch die Governance-Fragen. Also, die Menschenrechte habe ich eigentlich … Erstens habe ich versucht … Das ist natürlich auch das Denken der Entwicklungspolitik, dazu beizutragen, dass Menschen ihre Rechte wirklich wahrnehmen können. Also, ich nehme jetzt mal China: Das hat mir oft Kritik eingetragen, aber in der Zusammenarbeit mit China haben wir unter anderem über die damalige Gesellschaft für technische Zusammenarbeit erarbeitet, zusammen mit der chinesischen Seite, sozusagen die Möglichkeit, dass es vertragliche Regelungen für Wanderarbeitnehmer gibt.
    Burchhardt: Chinesische Seite heißt auf welcher Ebene?
    Wieczorek-Zeul: Die Regierung.
    Burchhardt: Tatsächlich die Regierung.
    Wieczorek-Zeul: Regelungen für Wanderarbeitnehmer. Also vertragliche Regelungen. Das heißt … Also, die Entwicklungspolitik – und das ist ja das Gute dabei eigentlich – ist ja Teil auch innenpolitischer Entwicklungen in anderen Ländern. Und …
    Wieczorek-Zeul: Das Thema Todesstrafe habe ich auch bei Fidel Castro angesprochen
    Burchhardt: Und somit auch Außenpolitik.
    Wieczorek-Zeul: Und somit auch Außenpolitik. Also, das mitzugestalten, finde ich, ist natürlich wichtig. Und trotzdem muss man auch bestimmte … Ich habe in jedem Land, in dem ich war, in dem die Todesstrafe noch in den Regelungen steht, das Thema angesprochen, auch mit Fidel Castro übrigens.
    Burchhardt: Wenn wir noch mal zurückkommen auf das Palästinenser-Problem, in Anführungsstrichen … Sie könnten ja eigentlich sich damals schon legitimiert gefühlt haben durch die sogenannte Venedig-Resolution von 1980, wo ja unter anderem auch auf Initiative von Hans-Dietrich-Genscher ein Papier zur Anerkennung der Zweistaatentheorie erfolgt ist. Nur, danach ist nichts mehr gekommen, was in diese Richtung ginge, abgesehen jetzt von der Oslo-Initiative. Aber das war immer alles nur … Ich sage es jetzt mal ein bisschen flapsig, das waren Papierdinge, die dann von der einen oder anderen Seite nicht anerkannt wurden. Ist dieses Problem überhaupt zu lösen?
    Wieczorek-Zeul: Also, ich bin der Überzeugung … Es gibt ja jetzt auch wieder den Versuch, dass ein Beschluss des UN-Sicherheitsrates wirklich, in dem alle ja auch zustimmen – im Moment geht es immer noch um die Frage, ob die USA ihr Veto von vor einigen Jahren dann da noch aufrechterhalten oder nicht –, das im Grunde sagt, Verhandlungen innerhalb dieses Zeitraums unter den und den Bedingungen, dann kann es funktionieren. Wenn nicht, setzt die Regierung Netanjahu immer neue Fakten, immer neue Landnahmen, und die Wut und die Erbitterung auf allen Seiten setzt sich fort. Und das wird keine Lösung … Es ist so eine Situation, wo ich mich mein ganzes Leben engagiert habe und trotzdem eigentlich sage: Ich weiß nicht, ob es ein wirklich gutes Ergebnis gibt.
    "Dass die Welt aus den Fugen ist, haben die Industrieländer mitzuverantworten"
    Sie hören das "Zeitzeugen"-Gespräch im Deutschlandfunk. Heute mit der ehemaligen Entwicklungsministerin Heidemarie Wieczorek-Zeul.
    Wieczorek-Zeul: Das ist unakzeptabel. Dann gerät die Welt immer mehr aus den Fugen.
    Kampf gegen wachsende Gewalt. Mut zur Nutzung der Vereinten Nationen.
    Burchhardt: Frank-Walter Steinmeier hatte eine Formel gebraucht – das ist schon ein paar Monate her, sie gilt bis heute –, die Welt sei aus den Fugen. Was heißt das eigentlich für die konkret zu praktizierende Politik, auch gerade hier von Deutschland aus? Muss man vielleicht auch unter moralischen Aspekten nicht doch den Mut zu dem einen oder anderen Alleingang haben?
    Wieczorek-Zeul: Auch da ist meine Position relativ clear cut: Dass die Welt aus den Fugen ist, haben die Industrieländer mitzuverantworten. Ich erinnere an den Krieg der Regierung George W. Bush gegen den Irak, hat den Auflösungsprozess im Nahen Osten, der natürlich ohnehin schon ein Stück am Laufen war, natürlich noch mal massiv verstärkt.
    Burchhardt: Und heute erleben wir die Folgen.
    Wieczorek-Zeul: Heute erleben wir die Folgen. Und was ich besonders kritisiere, das gilt auch mit Blick auf die Bundesregierung: Wenn wir wachsende Gewalt und Gesetzlosigkeit weltweit haben, dann muss der Westen – in Anführungszeichen – eigentlich derjenige sein, der ganz bewusst das Völkerrecht achtet, der ganz bewusst die globalen Regeln achtet. Wir wollen wir anderen beibringen, dass sie die Menschenrechte und die Regeln achten müssen und das Völkerrecht, wenn selber jeder Krieg nach Belieben führen kann? Und deshalb ist meine Aufforderung eigentlich erstens, dass die Bundesregierung selber die UN stärker nutzen muss, auch weiter reformieren muss – ja, ist jetzt ohnehin notwendig wegen der Frage Nachhaltigkeitsentwicklungsziele –, aber auch häufiger, wie wir es ja auch bei Syrien jetzt hoffentlich erreichen, sozusagen die Entscheidung im UN-Sicherheitsrat suchen muss. Und dann kommt das Argument, das kenne ich ja, im UN-Sicherheitsrat wird blockiert. Ehrlich gesagt, die Regelung zu Syrien, die da blockiert worden ist, die ist … Das, was jetzt verhandelt wird, hat Kofi Annan damals als Vermittler schon vorgeschlagen. Nur, mittlerweile sind 300.000 Menschen gestorben und Opfer in dem Krieg. Das heißt also: mehr die politische Lösung auch im UN-Sicherheitsrat suchen. Wenn das nicht geht – was ja oft sein kann –, gibt es immer die Möglichkeit, das nennt sich Uniting for Peace, in die UN-Generalversammlung zu gehen und dort dann eine auch zu erreichende Legitimation zu finden. Und das wird viel zu wenig gesucht. Und dann, wie gesagt, ist die Welt … Jeder führt Krieg, wie es jetzt gerade … Saudi-Arabien im Jemen … Ja, das ist unakzeptabel. Dann gerät die Welt immer mehr aus den Fugen.
    Wieczorek-Zeul: Bei Konflikten stärker die Vereinten Nationen nutzen
    Burchhardt: Aber gerade für Sie als europäisch denkende Politikerin oder weltweit natürlich auch in Ihrem Ministeramt von ehedem muss dann doch eigentlich eine Sorge umtreiben, dass eine solche immense Sprachlosigkeit im Augenblick zwischen potenziellen Konfliktparteien besteht, die eigentlich schon wieder Reminiszenzen an den Kalten Krieg wecken. Also beispielsweise gerade der NATO-Russland-Rat, jetzt gerade wiederbelebt, ist ja nicht so schlecht, aber das reicht doch nicht, oder?
    Wieczorek-Zeul: Nein. Deshalb setze ich eigentlich durchaus auch Hoffnungen auf diesen OSZE-Prozess. Wenn man es mal überlegt – und Deutschland hat ja augenblicklich den Vorsitz in dieser OSZE –, bei der aktiven Umsetzung, um mit dazu beizutragen, dass eben aus den heißen Konflikten keine kalten oder erkalteten werden, sondern dass die Diskussion neu aufgenommen wird … Das, denke ich, erhoffe ich mir jedenfalls auch von der Arbeit innerhalb der OSZE. Und natürlich auch den Versuch zu machen, was die Verantwortung im Nahen Osten anlangt, stärker wie gesagt die Vereinten Nationen zu nutzen, was im Moment höchstens ansatzweise passiert.
    Burchhardt: Willy Brandt hat ja mal einen bis heute zutreffenden Satz gesagt: Der Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts. Wie sehr hält sich die Sozialdemokratie eigentlich daran, ich sage jetzt auch mal unter Führung von Sigmar Gabriel, der als Bundeswirtschaftsminister wahrscheinlich auch eine sehr schwierige Position hat, er muss auf der einen Seite auf Exporterlöse hinweisen, oder Erfolge, Stichwort Waffenlieferungen, und auf der anderen Seite natürlich die von Ihnen ja nun ausführlich beschriebene europäische Solidarität beachten und auch die menschlichen Aspekte? Ist das nicht eigentlich ein Widerspruch, der auch zur Ursachenbekämpfung der augenblicklichen Konflikte nichts beiträgt?
    Wieczorek-Zeul: Na ja, also, einmal ist es natürlich so, dass es schon ein Unterschied ist, das ist jetzt ein kleines Schrittchen, aber immerhin: In der Zeit, als ich dem Bundessicherheitsrat angehört habe – und das war ja elf Jahre lang –, war die Verpflichtung der absoluten Geheimhaltung. Ich hätte mit niemandem über einzelne Fälle sprechen können und dürfen, ohne mich strafbar zu machen.
    Burchhardt: Aber das gilt doch bis heute?
    Wieczorek-Zeul: Nein. Also, ich war dafür, dass wir sozusagen im Bundestag auch ein Gremium schaffen …
    Burchhardt: Na ja, gut.
    Wieczorek-Zeul: Nein, heute …
    Burchhardt: Fünf Leute oder so.
    Wieczorek-Zeul: Nein, nein, nein, nein, einen richtigen Ausschuss, der auch die Fragen sozusagen mit berät. Was wir jetzt haben – und das ist ja schon wichtig –, ist Transparenz. Der Bundessicherheitsrat und das Wirtschaftsministerium als der Zuständige in dem Bereich informiert die Ausschüsse des Deutschen Bundestags. Das heißt, Sie haben Transparenz und insofern kann alles und muss auch alles kritisch …
    Burchhardt: Und die Ausschüsse tagen öffentlich?
    Wieczorek-Zeul: Ja, ja, sicher. Die einzelnen Situationen sind ja auch durchaus in der öffentlichen Debatte. Und was ich gut finde, dass Sigmar Gabriel vor allen Dingen restriktiv jetzt bei der Frage Kleinwaffen, sogenannte Kleinwaffen … Das sind ja die, die noch Jahrzehnte nach ihrem Einsatz töten und mit der Munition zusammen die sind, die in Bürgerkriegen eingesetzt werden und wo Kinder zu Kindersoldaten entsprechend manipuliert und gemacht werden. Also, da ist er restrik… Es ist ein schwieriger Job natürlich, völlig klar. Aber ich denke … Also, das Stück Transparenz ist schon mal ein Vorteil.
    Heidemarie Wieczorek-Zeul 
    Heidemarie Wieczorek-Zeul war unter Rot-Grün von 1998 bis 2009 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. (picture alliance / dpa / Foto: Tim Brakemeier)
    "Ich habe versucht, ein Bündnis gegen Steuerflucht zu schaffen"
    Wieczorek-Zeul: Heute ist eigentlich, finde ich, die weltweite oder europäische Aufgabe, dass sich sozusagen Demokratie wo auch immer für solche Bewegungen öffnet.
    Sprecherin: Das Selbstbewusstsein der SPD. Die Sozialdemokratie bleibt eine Dauerbaustelle.
    Burchhardt: Stichwort Transparenz, das bringt mich zum Abschluss unseres Gesprächs natürlich auf die Panama-Papiere. Wie denken Sie eigentlich darüber? Es ist ja wohlfeil zu sagen … Also, wir haben hier Sigmar Gabriel, er hat es auch getan und gesagt, das sind die neuen Asozialen, die da ihre Papiere verstecken und dergleichen Dinge mehr. Ich würde das jetzt mal ein bisschen erweitern, nicht nur auf den gesellschaftlichen Dissens, der dadurch entsteht, sondern auch auf die Frage, inwieweit eigentlich unter moralischem Gesichtspunkt ein, ja, materieller Zynismus damit verbunden ist, der genau das Gegenteil von Solidarität erzeugt?
    Wieczorek-Zeul: Absolut. Und es ist ja, wenn man so will, eines der elemen… Wir haben ja 30 Jahre, mindestens 30 Jahre Vorherrschaft des Marktradikalismus gehabt in der Welt. Mittlerweile ist eigentlich das Bewusstsein der Bevölkerung in den Fragen natürlich, auch nach der Finanzkrise 2008/2009, völlig anders und sehr viel kapitalismuskritischer. Also, das überholt mich ja zu meinen wildesten Juso-Zeiten zum Teil. Aber die Strukturen, die geschaffen worden sind, und die "Vested Interests", die existieren, die sind ja noch aus den Zeiten. Also, ich habe als Entwicklungsministerin versucht, ein Bündnis zu schaffen aus Industrieländern, aus Entwicklungsländern, aus NGOs, aus Gewerkschaften, das das Ziel hatte, sozusagen Steuerflucht zu verhindern, Flucht in entsprechende Oasen zu verhindern und Transparenz zu schaffen. Weil wir gesagt haben schon damals auch in einem Gutachten, die Länder des Südens verlieren etwa 500 Milliarden US-Dollar, die sie eigentlich gut nutzen müssten. Stichwort Afrika, verliert heute 50 Milliarden jährlich dadurch, dass Firmen nicht – und zwar angeblich legal –, dass Firmen dort keine Steuer zahlen, wo sie eigentlich produzieren, sondern sich billigrechnen bei der Steuerzahlung durch Industrieländer.
    Burchhardt: Das ist die marktkonforme Demokratie, wie Frau Merkel mal gesagt hat, ja.
    Wieczorek-Zeul: So ist es. Und die ist aber im Bewusstsein ja längst der Menschen überwunden. Und deshalb … Und umgekehrt, die Industrieländer verlieren auch 500 Milliarden US-Dollar. Und dass da jetzt Schlussfolgerungen daraus gezogen werden, das ist wirklich absolut überfällig.
    Burchhardt: Wäre nicht eine der Schlussfolgerungen, dass die SPD endlich mal die Vermögenssteuer betreibt?
    Wieczorek-Zeul: Zum Beispiel, ja, absolut. Oder wie gesagt, ich habe im Jahr 2002 die Finanztransaktionssteuer gefordert, wo großes Entsetzen, antikapitalistische Initiative … Die Wahrheit ist: Also, als ich die das erste Mal gefordert habe auf der Konferenz von Monterey, habe ich das vertreten, hat das Jacques Chirac vertreten und Fidel Castro.
    "Es gibt Dinge, für die muss man sich das ganze Leben engagieren"
    Burchhardt: Ein Trio Infernale!
    Wieczorek-Zeul: Ein interessantes Trio! Und heute hat es Wolfgang Schäuble schon in die mittelfristige Finanzplanung eingeplant.
    Burchhardt: Aber es kommt nichts!
    Wieczorek-Zeul: Und mein Nachnachfolger im Entwicklungsministerium Gerd Müller hat sie jetzt auch gefordert. Ja, aber es gibt so Dinge, da muss man das ganze Leben sich für engagieren und sie kommen dann auch, wenn auch leider Gottes oftmals mit großer Verzögerung. Und das, glaube ich, ist auch für die Sozialdemokratie wichtig. Man muss ja wegkommen davon, dass es mittlerweile eine Bewegung gibt, die sagt: Ach, die Parteien und die Politik, die haben alle irgendwie mit uns nichts zu tun. Willy Brandt war doch derjenige, der sozusagen die Sozialdemokratie mit diesen verschiedenen Bewegungen nach der Außerparlamentarischen Opposition, nach der Friedensbewegung, der Umweltbewegung miteinander verbunden hat. Und heute ist eigentlich, finde ich, die weltweite oder europäische Aufgabe, dass sich Sozialdemokratie wo auch immer für solche Bewegungen öffnet.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.