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Heikle Lagen

"Mein Roman ist der Felsen, an dem ich hänge", schrieb Gustave Flaubert. Wenn Ulrich Treichel dieses Zitat in den Titel seines Buchs erhebt, betont er den vorsätzlichen Versuch eines Schriftstelles, sich in eine besonders heikle Lage zu bringen. In diesen Texten zeigt sich ein freimütiger Autor, der auch Zwischenmenschliches nicht ausspart.

Von Martin Krumbholz | 15.06.2005
    Kafka ist im geistigen Kosmos des Hans-Ulrich Treichel eine feste Grösse. Und zwar nicht der "Kafka der jüngeren Forschung", wie der Autor und Germanist augenzwinkernd betont: denn das wäre ein Kafka, der sage und schreibe Motorrad gefahren sein soll – eine grausige Vorstellung, selbst wenn es sich wohl eher um so etwas wie ein Moped gehandelt hat. Treichel serviert uns "seinen" Kafka mit einer schönen Ironie: Der Kafka der alten Forschung ist das Kafka-Klischee des linkischen, weltfremden und vor allem asketischen Mannes, der nie lächelt. Und dieses Klischee wird auf wenigen Seiten mit ein paar gut gesetzten Strichen entzaubert.

    Treichel ist ein eleganter Autor. Dass und warum er überhaupt ein Autor ist, davon handelt dieser Band mit Aufsätzen, die vorzugsweise von Literatur, aber auch von Reisen in die Ferne, von Heimatgefühlen und anderen Melancholiematerialien erzählen. Der Weg von Versmold in Ostwestfalen hinüber zu Kafka und Flaubert wird hier beschritten; die Aschenputtel-Transformation eines traurigen, dicklichen, angeblich "unsympathischen" Jungen, der unter den Hopper-artigen Nicht-Idyllen seiner heimatlichen Provinz leidet, in den eleganten, welterfahrenen Schriftsteller, der Treichel heute ist. Einen Schriftsteller mit einem "guten Stil". Diesen, so betont Treichel, habe er sich keineswegs ausgesucht. "Der Stil ist der Mensch selbst" heisst ein bekannter Aphorismus von Buffon, der zwar gern zitiert wird, aber so vieldeutig schillert, dass er kaum weiterhilft.

    Treichel interessiert etwas anderes: jene geheimnisvolle Transformation, die aus einem eher schwachen, komplexbeladenen, also wenig souveränen Menschen einen guten oder gar glänzenden, also einen scheinbar souveränen Autor machen kann; die den "unsicheren Menschen" sozusagen in "guten Stil" verwandelt. Wie im einzelnen diese Transformation vonstatten geht, verrät Treichel freilich auch nicht – keinesfalls wohl mit Hilfe von Dogmatikern älterer oder jüngerer Provenienz, die uns einbläuen wollen, ein Satz dürfe aus nicht mehr als fünfzehn Wörtern bestehen; oder im gelungenen Roman drehe sich alles nur um den Konflikt und dessen Lösung. "Wie man einen verdammt guten Roman schreibt", heisst ein aus Amerika stammender Ratgeber für kreatives Schreiben; und da Treichel selbst so etwas wie kreatives Schreiben unterrichtet – er nennt es literarisches Schreiben -, hat er diesen und andere Ratgeber pflichtschuldig gelesen. Aber auch nach solchen methodischen Lektüren bleibt es dabei, dass jedes echte Kunstwerk seine eigene Poetologie hervorbringt – die sich nicht imitieren lässt.

    "Mein Roman ist der Felsen, an dem ich hänge", schrieb Gustave Flaubert; und wenn Treichel dieses Zitat in den Titel seines Aufsatzes und des ganzen Buchs erhebt, betont er nicht den Aspekt der Selbsttherapie, der Traumabearbeitung oder der Suche nach Anerkennung als entscheidenden Impuls des Schriftstellers, sondern etwas anderes: den vorsätzlichen Versuch, "sich in eine besonders heikle Lage zu bringen." Laut Thomas Mann ist der Schriftsteller jemand, dem das Schreiben nicht leicht fällt.

    Hans-Ulrich Treichel sagt durchaus gerne unumwunden "Ich". Zuweilen sagt er aber auch lieber "der Autor meines Typs", etwa wenn es um Begleiterscheinungen der literarischen Tätigkeit geht, um Lesungen oder das damit verbundene "Gespräch mit dem Autor", das er "zu den großen Belastungen des Schriftstellerberufs" zählt. Der Autor seines Typs würde gerne Auskunft über das epische Präteritum geben, gefragt wird er aber in der Regel: "Warum schreiben Sie?", und auf diese und verwandte Fragen antwortet der Autor seines Typs ungern. Dabei ist dieser Autor von Haus aus diskret, aber keineswegs verschlossen. In seinen Aufsätzen, Glossen und Miszellen, die unter anderem auch von so intimen Dingen wie "Kinderlosigkeit" handeln, spricht er freimütig von den Aporien einer Kindheit in Westfalen, von "westfälischem Nihilismus", bedingt durch das Vertriebenenschicksal seiner Eltern; und es nicht übertrieben, zu sagen, dass man auch den Menschen Hans-Ulrich Treichel in diesen Texten auf eine Weise kennenlernt, wie es sich der heftig am Zwischenmenschlichen interessierte Besucher von Dichterlesungen besser nicht wünschen könnte.

    Bisweilen verbindet sich auch das Fachlich-Objektive mit dem Subjektiven zu amüsanten Konstellationen. Der Aufsatz "Ein falscher Capote?" erzählt, wie Treichel sich in ein wenig bekanntes Buch des Amerikaners verliebt und sich wieder entliebt, als ihm nach und nach klar wird, dass es sich bei diesem Text, obschon als Band 1111 in der ehrwürdigen Insel-Bücherei erschienen, höchstwahrscheinlich um eine schlichte Fälschung handelt, die von Capotes Tante Tiny verfasst und dem berühmten Autor einfach untergeschoben wurde. "War ich von einer plumpen und schwerfälligen Geschichte angerührt worden?" fragt Treichel sich und womöglich auch uns, und wir können nur antworten: Ja, so etwas kommt vor.
    Martin Krumbholz

    Hans-Ulrich Treichel: Der Felsen, an dem ich hänge. Essays und andere Texte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005. 188 S., 11,80 Euro.