Donnerstag, 18. April 2024

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Heil: Koch schürt Ängste

SPD-Generalsekretär Hubertus Heil äußert Zweifel an der Führungsstärke der Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzenden Angela Merkel. "Man könnte fast sagen, sie kellnert für den Koch", sagte Heil in Anspielung auf die Forderungen des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) in Bezug auf härtere Strafen für jugendliche Kriminelle. "Ich finde es schon bedauerlich, dass Frau Merkel sich vor diese Kampagne spannen lässt", sagte Heil.

Moderation: Christiane Kaess | 14.01.2008
    Christiane Kaess: Der Streit über den Wahlkampf des hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch entwickelt sich zunehmend zum Sprengsatz für die Große Koalition. Zwei Wochen vor den Wahlen in Hessen und Niedersachsen ist der Unionsfraktionschef Volker Kauder besorgt über den Zustand des Regierungsbündnisses. Und Kanzlerin Angela Merkel ruft die SPD zur Mäßigung auf. Letztere versucht ihrerseits neben dem Streit um die Jugendkriminalität das Thema Mindestlohn wieder auf die politische Tagesordnung zu setzen.

    Vor wenigen Minuten habe ich mit dem Generalsekretär der SPD, Hubertus Heil, gesprochen. Ich habe ihn zuerst gefragt, ob die Zweifel von Unionsfraktionschef Volker Kauder daran, dass die SPD noch zur Großen Koalition steht, berechtigt sind.

    Hubertus Heil: Nein. Die SPD steht zu dieser Koalition. Wir tragen seit neun Jahren Verantwortung, bald im zehnten Jahr in Deutschland in der Bundesregierung. Das gleiche kann man umdrehen auf die Union. Was wir an Ausfällen in letzter Zeit erlebt haben, ist dem Wahlkampf geschuldet, aber die Große Koalition muss weitergehen. Das ist ganz klar.

    Kaess: Sie sprechen von Ausfällen. Was meinen Sie da genau?

    Heil: Ich finde beispielsweise die Art und Weise, wie Herr Koch diese Kampagne intoniert hat, nicht in Ordnung. Tatsache ist: Wir wollen hart gegen Kriminalität und Ursachen von Kriminalität vorgehen. Das ist die Position der SPD. Aber Herr Koch versucht, auf diesen Ereignissen und bei diesem Thema tatsächlich auch Ängste zu schüren und für den Wahlkampf zu missbrauchen. Ich finde es schon bedauerlich, dass Frau Merkel sich vor diese Kampagne spannen lässt. Man könnte fast sagen, sie kellnert für den Koch.

    Kaess: Entschuldigung, wenn ich unterbreche. Warum glauben Sie denn, dass Frau Merkel nicht genauso davon überzeugt ist?

    Heil: Ich habe da so meine Zweifel. Das ist dem Wahlkampf geschuldet. In den ersten Tagen, als erste Reaktionen, gab es von Herrn Schäuble und auch von Frau Merkel noch sehr zurückhaltende Äußerungen. Dann schreit man aus Wiesbaden aus der CDU, angerufen zu haben und auf die sinkenden Umfragen von Herrn Koch hingewiesen zu haben. Jetzt versucht die gesamte CDU, in dieses Horn zu tuten. Das wird nicht verfangen, weil die Menschen merken: Es geht ja gar nicht der Union um das Thema Sicherheit und Schutz von Bürgern vor Kriminalität, sondern es geht einzig und allein darum, ein Thema aufzupuschen, damit Herr Koch daraus Wahlkampfmunition schnarren kann.

    Kaess: Herr Heil, die Situation ist eskaliert, nachdem SPD-Fraktionschef Peter Struck Herrn Koch unterstellt hat, insgeheim froh über den Angriff auf einen Rentner in München zu sein, weil er, wie Sie eben auch gesagt haben, damit ein Thema für die Landtagswahl bekommen habe. Ist so eine Unterstellung eine Entschuldigung Wert?

    Heil: Nein. Wir haben ja tatsächlich erlebt, dass Herr Koch in den letzten Monaten krampfhaft versucht hat, ein Thema zu finden. Er regiert seit neun Jahren in seinem Land. Jetzt kurz vor Weihnachten hat er das Thema Burka-Verbot an hessischen Schulen versucht, nach oben zu poppen. Das ist nicht gelungen, weil sich nicht ein einzelner Fall von burkatragenden Mädchen an Hessens Schulen fand. Dann hat er weiter gesucht, und dann hat er die Situation nach dem Überfall in München offensichtlich genutzt, diese Kampagne zuzuspitzen. Das ist ja ganz offensichtlich. Insofern muss man auch darauf hinweisen.

    Aber was nützen die Forderungen nach schärfsten Gesetzen, wenn Herr Koch beispielsweise zu wenig Richter, zu wenig Polizisten, zu wenig Staatsanwälte, zu wenig Jugendhelfer eingestellt hat. Er ist selbst verantwortlich. Auch deshalb wird diese Kampagne nach hinten losgehen.

    Kaess: Da hält Roland Koch dagegen, heute seien rund 1000 Polizisten mehr als bei seinem Regierungsantritt auf den Straßen in Hessen, und die Straßenkriminalität sei seit seinem Antritt um 25 Prozent zurückgegangen.

    Heil: Dass Herr Koch mit der Wahrheit hin und wieder in Wahlkämpfen auf Kriegsfuß steht, das wissen wir spätestens seit den jüdischen Vermächtnissen. Tatsache ist: Es sind 1200 Polizistenstellen in Hessen gestrichen worden. Er zählt jetzt in seinen Statistiken ganz einfach Hilfssheriff, also Laienpolizisten, Bürgerwehren mit. Das ist nicht in Ordnung. Wir müssen tatsächlich feststellen: was nützen die schärfsten Gesetze, wenn beispielsweise 80 Prozent der Jungstraftäter, die in den hessischen Gefängnissen sitzen, anschließend wieder rückfällig werden. Also noch mal: Herr Koch ist verantwortlich. Die Gesetze sind da. Das Land Hessen wendet sie nicht an.

    Kaess: Noch einmal zurück zum Ton der Auseinandersetzung. Die Reaktion von Peter Struck auf eine von der CDU gewünschte Entschuldigung, nämlich "die kann mich mal", die halten Sie für angemessen?

    Heil: Peter Struck ist Vorsitzender des Vereins deutliche Aussprache. Tatsache ist, dass solche Forderungen ziemlich albern sind. Was haben wir alles erlebt von Angriffen der Union auf sozialdemokratische Politiker, auch in diesem Wahlkampf.

    Kaess: Auch in diesem Ton?

    Heil: Auch in diesem Ton. Da gab es ja schon den einen oder anderen Ausfall, wenn ich an wüste Tiraden aus der CSU denke, die uns versuchen, in eine kommunistische Ecke zu stellen, oder Ähnliches. Lassen wir das mal beiseite. Es geht um die Sache, und da geht es darum, dass wir in Hessen und in Niedersachsen im Wahlkampf stehen und dass Hessen und Niedersachsen eine bessere Politik verdienen. Unbeschadet dessen muss die Koalition auf Bundesebene weitergehen. Wir haben viel vor. Wir müssen den Mindestlohn beispielsweise voranbringen. Dazu arbeitet Olaf Scholz in dieser Großen Koalition. Da darf es auch keinen Stillstand geben, nur weil Wahlkampf ist und die CDU die Wahlkampfbremse einschaltet.

    Kaess: Und wie soll man nach den Landtagswahlen genau auf dieser Sachebene, die Sie ansprechen, wieder zusammenarbeiten nach diesen Auseinandersetzungen?

    Heil: Ich glaube, dass wir auf Bundesebene auch vor den Landtagswahlen auf Sachebene zusammenarbeiten können und müssen. Ich sage noch mal: Es geht darum, dass wir, nachdem wir jetzt für Gebäudereiniger, vor Jahren schon für Bauarbeiter und auch für den Bereich der Briefdienstleister den Mindestlohn realisiert haben, jetzt weiterkommen. Dazu hat Olaf Scholz Vorschläge gemacht. Die Gesetzesentwürfe liegen vor. Sie werden jetzt abgestimmt in der Koalition. Und es muss unverzüglich weitergehen in dem Bereich, damit Menschen, die hart arbeiten, von ihrer Arbeit auch leben können. Dazu brauchen wir flächendeckende Mindestlöhne in unserem Land.

    Kaess: Roland Koch verlangt jetzt Jugendstrafrecht in Ausnahmefällen auch auf Kinder unter 14 Jahren anzuwenden. Was ist Ihre Antwort darauf?

    Heil: Ich warte noch darauf, dass er fordert, Jugendstrafrecht auch für Fünfjährige anzuwenden. Also langsam wird es wirklich grotesk. Noch mal der Hinweis: Hart gegen das Verbrechen ist in Ordnung, Bürger vor Gewalt und Kriminalität schützen auch, aber das Beste, was man tun kann, ist, an die Ursachen ranzugehen.

    Kaess: Aber wie wollen Sie denn mit dem Problem krimineller Kinder, die ja straffrei ausgehen, umgehen?

    Heil: Es ist richtig, dass man in diesem Bereich auch über Erziehung und Arbeit mit den Eltern nachdenkt. Man kann ja die Eltern nicht aus der Verantwortung entlassen. Es gibt gute Projekte. In Bonn beispielsweise hat uns die Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann berichtet, dass dort, als es solche Vorfälle gegeben hat, die Polizei nicht nur die Personalien festgestellt hat, sondern Jugendarbeit und Polizei gemeinsam am nächsten Morgen gleich die Eltern aufgesucht hat, was wunderbare Folgen gehabt hat in diesem Zusammenhang. Also es gibt da intelligentere Lösungen.

    Was wollen wir denn machen? Wollen wir dann irgendwann Vierjährige oder Fünfjährige einknasten? Das kann nicht die Lösung sein und es zeigt sich noch mal: Roland Koch geht es nicht um die Sicherheit, sondern es geht ihm um Wahlkampf.

    Kaess: Herr Heil, Olaf Scholz - Sie haben es angesprochen - spricht von einem Mindestlohn für alle. Aber die Union lehnt den flächendeckenden Mindestlohn nach wie vor ab. Verspricht die SPD also etwas, das sie letztendlich nicht halten kann?

    Heil: Nein. Wir machen Druck, weil unser Ziel ist, Mindestlöhne in Deutschland zu realisieren. Es hat sich ja gezeigt, dass der Druck der SPD, Mindestlöhne durchzusetzen, Erfolg hatte. Bei Gebäudereinigern und bei Briefdienstleistern hat die CDU am Anfang auch Nein gesagt, aber dann konnte sie die Augen nicht verschließen vor dem, was in den Branchen los ist.

    Kaess: Aber das zeigt ja genau, wie schwierig die Aufnahme neuer Branchen ins Entsendegesetz ist.

    Heil: Allerdings! Es ist nicht leicht, das behauptet ja gar keiner, weil die Union an diesem Punkt tatsächlich bremst. Aber jetzt haben wir in Meseberg im letzten Jahr zwei Verabredungen getroffen. Das eine ist, das so genannte Entsendegesetz zu ändern, so dass alle Branchen, in denen die Tarifvertragsparteien Mindestlöhne vereinbaren können, auch diesen allgemein verbindlich erklärt bekommen in ihrer Branche. Und für die Branchen, in denen Tarifverträge nicht mehr stark genug sind, gibt es das Zweite, das Mindestarbeitsbedingungsgesetz aus dem Jahre 1952, aus Ludwig Erhards Zeiten, was wir so verändern wollen, dass in diesen Bereichen auch Mindestlöhne möglich sind.

    Kaess: Das heißt auch das Ende der Tarifautonomie?

    Heil: Nein, das ist Quatsch. Im Gegenteil: Es stärkt die Tarifautonomie. Es bleibt beim Vorrang tarifvertraglicher Lösungen, und da ist es auch gut, dass wir Lohnfindungsprozesse zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften organisieren. Aber noch mal: In den Bereichen, in denen das nicht mehr so richtig funktioniert, brauchen wir eine Lohnuntergrenze, und insgesamt stärkt das die Tarifautonomie. Wenn wir das nicht machen würden, würden wir Stück für Stück erleben, dass auch reguläre Tarife immer weiter nach unten gedrückt werden, übrigens mit dem Ergebnis, das dann nicht soziale Marktwirtschaft ist, sondern dass immer mehr Menschen zwei, drei, vier Euro die Stunde bekommen und den Rest sich ergänzend an Arbeitslosengeld II abholen müssen, also aus Steuergeld. Das hat mit sozialer Marktwirtschaft, übrigens auch mit fairem Wettbewerb zwischen Unternehmen, dann nicht mehr viel zu tun.

    Kaess: Auf der anderen Seite - so sagt das Institut der deutschen Wirtschaft - gefährdet der Vorstoß von Olaf Scholz für flächendeckende Mindestlöhne bis zu vier Millionen Arbeitsplätze.

    Heil: Das ist falsch und grotesk. Wenn man sich in europäischen Mitgliedsstaaten umguckt, ich glaube, über 22 europäische Mitgliedsstaaten kennen Mindestlöhne, auch welche übrigens, die im Bereich der einfachen Dienstleistungen mehr Arbeitsplätze haben als wir. Ich glaube, dass das interessengeleitet ist. Sie haben das Institut der Wirtschaft - das ist ja kein unabhängiges - auch genannt. Das hat aber mit der Realität nichts zu tun. Es ist ja nicht so, wenn die Friseurin in Thüringen ein, zwei Euro mehr verdient, dass dann der Friseurbetrieb dicht machen würde, um nach Peking zu gehen. Das hat mit Globalisierung nicht viel zu tun.

    Im Gegenteil! Ich sage sehr deutlich: Es kommen immer mehr Arbeitgeber auch zu uns, nicht Funktionäre, sondern richtige Unternehmer, die sagen, macht in unseren Branchen Mindestlöhne, wir wollen unsere Leute anständig bezahlen, aber wir halten die Dumping-Konkurrenz nach unten nicht mehr aus. Insofern ist es nicht nur eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, Mindestlöhne einzuführen, sondern auch der ökonomischen Vernunft.

    Kaess: SPD-Generalsekretär Hubertus Heil zum Streit in der Großen Koalition und zu Mindestlöhnen. Vielen Dank für das Gespräch.

    Heil: Ich danke Ihnen.