Donnerstag, 18. April 2024

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Heile Welt

"Ich bin ein liberaler Menschenfreund und Lebenskünstler, dessen Devise heißt: Leben und leben lassen" - ausgestattet mit dieser gewiß nicht sonderlich originellen, gleichwohl erfreulichen und vermutlich nicht sehr verbreiteten Weltanschauung überzeugter Bürgerlichkeit, hat sich Walter Kempowski im literarischen Leben nicht nur Freunde gemacht, jedenfalls nicht bei Teilen der Literaturkritik, die sein Werk häufig unter der Rubrik gehobener Unterhaltungsliteratur abheftete. Dem steht Kempowskis enormer Publikumserfolg gegenüber; seine Bücher sind fast alle zu Bestsellern geworden, auf Lesereisen hat er ausverkaufte Säle.

Klaus Modick | 23.11.1998
    Dieser Erfolg beruht jedoch - jedenfalls teilweise - auf einem produktiven Mißverständnis seines Publikums. Idyllen und gemütliches Geplauder sind bei diesem Autor nämlich nur um den Preis einer selektiven Lektüre zu haben, die aus den Texten liest, was "erbaut", und das ignoriert, was erschreckt. Das Nette, Pausbäckige, Onkelhafte, das Schwelgen in guten, alten Zeiten, ist hier fast immer ironisch gebrochen und konterkariert vom Grauen unseres mörderischen Jahrhunderts. Jörg Drews hat deshalb einmal sehr treffend bemerkt, daß gerade wegen der täuschenden Harmlosigkeit des Tonfalls bei Kempowski das Banale wie das Niedliche hochgradig ambivalent auftauchen. Kempowskis Erzählprojekt ist also ein Drahtseilakt über den Sümpfen der Trivialität und eines wohlfeilen common sense, und mit seinem neuen Roman "Heile Welt" beweist der Artist einmal mehr, daß Abstürze von ihm nicht zu erwarten sind. Im Gegenteil ist Kempowski hier endgültig auf der Höhe seiner Möglichkeiten angekommen, und selbst wenn manches nach Routine aussieht, dreht er doch noch ein paar traumwandlerisch sichere Pirouetten, die man in dieser Kunstfertigkeit von ihm noch nicht kannte.

    Der Inhalt des Romans ist schnell erzählt. Im April 1961 erscheint ein junger Mann namens Matthias Jänicke in einer norddeutschen Kreisstadt, die irgendwo zwischen Bremen und Hamburg auf dem platten Lande liegt, um sich beim zuständigen Schulrat als Lehrer vereidigen zu lassen. Jänicke übernimmt die vakante Stelle des Dorfschullehrers in Klein-Wense, einem idyllischen Heidedorf. Der Neuankömmling, der aus der DDR kommt, die in jenen Tagen im Westen noch Ostzone heißt, wo er eine Haftstrafe verbüßt hat, ist auf der Suche nach einem Neuanfang, wozu ihm die Abgeschiedenheit des Dorfs gerade recht kommt. Mit seiner menschenfreundlich-unkonventionellen Art setzt er sich schnell über das anfängliche Mißtrauen der Einwohner hinweg. Er wird ins Dorfleben halbwegs integriert, bleibt aber zugleich auf Distanz - als Außenseiter und scharfer Beobachter dieser kleinen Welt, die sich sukzessive als Mikrokosmos entpuppt, in dem sich Wirtschaftswunder- und Restaurationsjahre der Bundesrepublik brennglasartig bündeln. Natürlich erweist sich die kleine Welt nicht als heil, weil unter ihren spießigen Oberflächen, weil hinter dem Halbausgesprochenen und ganz Verschwiegenen, die braune Vergangenheit nistet wie eine Untote, die, wird sie angerufen, herumzugeistern beginnt. Hier hat fast jeder den sprichwörtlichen Dreck am Stecken, die sprichwörtliche Leiche im Keller. Aus zahlreichen Andeutungen, Gerüchten, Nachreden und Dorfklatsch entsteht das überaus tiefenscharfe Bild einer Gesellschaft, die ihre Vergangenheit auf sich beruhen lassen will und eben deshalb nicht zur Ruhe kommt. "Überall standen Leute in der Dunkelheit, und alle beobachteten alles" heißt es einmal zusammenfassend, aber solche ins Allgemeine zielende Sätze kommen bei diesem Autor höchst selten vor.

    Die enorme Tiefenschärfe des Erzählens kommt vielmehr dadurch zustande, daß Kempowski sich mit geradezu abenteuerlicher Exaktheit an den Oberflächen abarbeitet, die nur dem oberflächlich sind, der sie nicht zu lesen versteht, an den Nuancen und Details der Dinge, insbesondere aber auch der Sprechweisen. Insofern läßt sich hier von einer Literatur absoluter Konkretheit sprechen, die dennoch mit naturalistischer Faktenhuberei nichts zu tun hat. Ideologische oder moralische Deutungen sind radikal ausgeschieden; Kempowski läßt die Menschen und Dinge sozusagen für sich selbst sprechen, wobei diese Methode weit davon entfernt ist, dokumentarisch zu werden. Ganz selten, im Grunde nur ein einziges Mal, dann aber um so wirkungsvoller, wird mit symbolischen Leitmotiven gespielt, wenn der Gestank nach Ratten aus dem Keller der Schule im Verlauf der Handlung stetig zunimmt. Hier wird keine Welt beschworen, hier werden eine Welt, ein Denken und eine Atmosphäre bis in ihre subtilsten und banalsten Verästelungen hinein rekonstruiert. Doch strahlt diese Rekonstruktion nichts Museales aus; sie ist höchst lebendig, sie atmet sozusagen, weil sie zugleich eine kunstvolle Konstruktion aus Autobiographie, Recherche und fiktionaler Energie ist.

    "Heile Welt" spielt nicht nur geographisch in jenen Landstrichen, die durch Arno Schmidt literaturfähig geworden sind; Kempowski und Schmidt haben darüber hinaus Gemeinsamkeiten, die sich erst auf den zweiten Blick erschließen, dann aber frappierend sind. Beide sind Meister der Textmontage, beide Fanatiker des Details, beide interessieren sich für das Bodenlose im Banalen. Während Schmidt seine kreative Energie immer stärker in sprachliche Feinstrukturen verschob, zielt jedoch Kempowskis Projekt auf eine Art Rettung der Dingwelt und eine, bisweilen übrigens urkomische, Archivierung der Umgangssprache, die bekanntlich raschen, modischen Wandlungen unterworfen ist. Das Authentische an diesem Roman sind die Dinge und die Sprache eines historischen Moments, der uns längst als eine Art Vormoderne erscheint. Die Dinge und die Sprache dieser Epoche sind aus der Wirklichkeit verschwunden, aber in diesem Roman in die krisensichere Existenz der Literatur gerettet worden.

    "Heile Welt" ist übrigens auch sehr wesentlich ein Schulroman, der zwar unverhohlen Sympathien für die versunkene Welt der sogenannten Zwergschulen aufbringt, zugleich aber mit ätzendem Witz den Bildungsnotstand jener Jahre aufdeckt und zeigt, wie das, was Bildung zu sein hätte, zur psychischen Deformation wird, zu Untertanengeist und Opportunismus - und zwar für Schüler wie Lehrer gleichermaßen. Auf dieser Handlungsebene arbeitet Kempowski den unfreiwillig komischen Vortrag eines Lehrers zur Aufsatzkunde ein, und in diesem Vortrag hat er, listig und durchtrieben wie häufig, Spuren seiner eigenen Poetologie eingeschrieben. "Am Anfang jeder schriftlichen Äußerung stehe das Sprechen", heißt es nämlich da; um jedoch "das Sprechen zu provozieren, müsse es zu einer intensiven Sachbegegnung kommen." Und genau dies ist der innere Zusammenhang zwischen dem unangestrengten Plauderton Kempowskis, diesem Gestus eines scheinbar kunstlosen, literarisch konsequent heruntergespielten Stils, der sich dem Sprechen verdankt, dem Erzählen und dem sehr genauen Hinhören aufs Erzählte, der also seine Exaktheit wie seine Lockerheit aus oraler Überlieferung bezieht. Die "intensive Sachbegegnung", wie es im Pädagogen-Lingo heißt, ist aber nichts anderes als eine genaue Beobachtung des Details. Wer aber die Welt nicht beobachten kann, wer den Menschen nicht aufs Maul schaut, der hat auch nichts zu erzählen. Kempowski hat viel zu erzählen, und er tut es mit List und jener raffinierten Tücke, die im trügerischen Idyll das Bodenlose und Abgründige ahnen läßt.