Freitag, 19. April 2024

Archiv


Heilige Rockoper

Unter den Popmusik-Komponisten unserer Zeit ragt ein Name besonders aus der Anonymität hervor: Andrew Lloyd Webber. Das Musical "Jesus Christ Superstar" war sein erster sensationeller Kassenerfolg. Vor 40 Jahren wurde es erstmals am New Yorker Broadway aufgeführt.

Von Matthias Nöther | 12.10.2011
    Nicht jeder war nach der offiziellen Uraufführung von Jesus Christ Superstar glücklich. Nachdem die Rockoper am 12. Oktober 1971 erstmals im Mark Hellinger Theater in Manhattan gezeigt worden war, schrieb das New York Magazine:

    "Was wir im Mark Hellinger serviert bekommen, liegt der Gosse näher als einem Gospel: ein mittelmäßiges Tonwerk mit noch mittelmäßigerem Text in einer aufgeblasenen, größenwahnsinnigen Produktion. Ich werde, aus Mangel an Platz, gar nicht erst versuchen, alles zu beschreiben, was der Regisseur Tom O'Horgan aus dem Ärmel geschüttelt hat, wie Schiebewände und alles einhüllende Stoffbahnen, das Hoch- und Herunterziehen des Bühnenbildes und einiger Schauspieler, unheimliche Objekte wie umgestülpte Elefantenrüssel mit heraushängenden Zungen und Soldaten in Rüstungen, die dafür entworfen zu sein scheinen, sodomitische Praktiken zu ermöglichen."

    Kein Zweifel, die extravagante Aufführung schob sich vor die Geschichte von den letzten sechs Tagen Jesu. In der grellen, poppigen Inszenierung war nicht mehr zu erkennen, worum es dem Texter Tim Rice ging: aus den biblischen Figuren greifbare, moderne Menschen zu machen. Jesus und Judas wissen bereits um die Bedeutung der Passionsgeschichte für die künftige Menschheit und werden durch die Vorherbestimmtheit ihrer Handlungen schier erdrückt. Trotzdem war das Stück als solches bereits reine Popkultur, es gab also in New York nicht viel zu entweihen, und die Musik kannte auch schon jeder: Vermutlich ist kein anderes Musical bereits vor seiner Uraufführung so bekannt gewesen. Der Komponist Andrew Lloyd Webber erinnert sich:

    "Das ganze Kapitel Jesus Christ Superstar begann damit, dass Tim Rice und ich niemanden fanden, der das Stück als Musical produzieren würde. Wir hatten es als durchgehendes Musikstück gedacht, das einfache Stilelemente aus dem Bereich der Oper übernimmt. Wir haben es dann jedem Produzenten in London vorgespielt. Aber niemand wollte es machen. Niemand wollte so etwas anfassen. Schließlich kam die Schallplattengesellschaft MCA. Sie nahm es auf, und die Kritiken der Platte waren ganz gut, nicht ekstatisch, aber auch nicht schlecht. Die meisten meinten, es könnte kein großer Erfolg werden, weil es nur ein bisschen Pop für Klassikliebhaber und ein bisschen Klassik für Popfans wäre."

    Es kam anders. Bereits ein Jahr vor der offiziellen Uraufführung in New York hatte sich die neue Platte rasend schnell verbreitet. Die katholische Kirche protestierte nur schwach gegen die neue Jesus-Musik, und viele evangelische Gemeinden in den USA und Australien hörten die Songs von der Platte ab und bastelten sich daraus ihre eigenen, nicht autorisierten Aufführungen. Sie störten sich nicht daran, dass es in Jesus Christ Superstar wenig biblisch zugeht: Jesus und Maria Magdalena sind vergnügungssüchtige Softies, Judas wird zur eigentlichen intellektuellen Hauptfigur. Der Übertritt Christi in die Popwelt war das geringste Problem – auch in Deutschland, wo es schon seit Jahren Massentaufen von Hippies in Baggerseen gab.

    Reporter:

    "Erzählst du mal, was du jetzt fühlst, nachdem du getauft bist?"

    Fan:

    "Das kann ich nicht erzählen, ich bin vollkommen frei! Alles ist weg, keine Probleme, ich bin erlöst einfach durch Jesus Christus, ich kann das nicht erzählen ..."

    Die Rockoper des damals 23-jährigen dreiundzwanzigjährigen Andrew Lloyd Webber war durch und durch Pop, und doch war sie voll von raffinierten musikalischen Wendungen. In einer Zeit, in der John Lennon verkündete, die Beatles seien populärer als Jesus Christus, musste man sich als Komponist schon einiges einfallen lassen, um den Zimmermann aus Nazareth doch noch einmal zum Superstar zu machen.