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Heimat für Waisen

Vor 50 Jahren legte Hermannn Gmeiner den Grundstein für das erste deutsche SOS-Kinderdorf in Dießen am Ammersee. Eine weltweite soziale Initiative entstand: Die Dörfer geben Kindern, die keine Eltern haben oder nicht bei ihnen leben können, eine neue Familie und ermöglichen ein Aufwachsen in Geborgenheit.

Von Regina Kusch | 15.12.2006
    Eine ältere Dame hatte 300.000 Mark gespendet und ein Architekt die Baupläne unentgeltlich entworfen. Eine Baufirma schenkte Holz, eine andere Sand und ein Münchner Arzt stiftete einen Laster und Ziegelsteine. So konnte Vereinsgründer Hermann Gmeiner am Samstag, den 15. Dezember 1956, den Grundstein legen für das erste SOS-Kinderdorf auf deutschem Boden, in Dießen am Ammersee. 16 Häuser sollten hier entstehen und 54 Kinder eine neue Heimat erhalten. Nicht ohne Stolz über so viel Hilfsbereitschaft in Bayern berichtete der "Ammersee-Kurier":

    "Jedes Familienhaus erhält im Erdgeschoss einen großen gemeinsamen Wohnraum, das Zimmer der Mutter, die Küche, WC und Nebenräume. Im Obergeschoss sind die Schlafräume der Kinder, WC und Bad untergebracht. Den Zimmern im Obergeschoss ist nach Süden ein durchlaufender Balkon vorgelagert. Reine Wohnfläche je Haus: 110 qm."

    Der Österreicher Hermann Gmeiner, der in einer katholischen Bergbauernfamilie mit acht Geschwistern ohne Mutter aufgewachsen war, engagierte sich schon sehr früh für Kinder in Not, vor allem für die zahlreichen Waisen und für heimatlose Kinder nach dem Zweiten Weltkrieg.

    "Ich war noch ein junger Student, da sind mir fünf Geschwister begegnet. Die Eltern hatten sie verloren. Und nun sollte ein neues Unglück geschehen, die Kinder sollten auseinander gerissen werden. Und damals hab ich mir gesagt, man kann aus einem Unglück kein zweites machen. Wir müssen die Geschwister beisammen lassen, wir wollen für sie zusammen ein Haus bauen. Dieses Haus hat den Namen 'Haus Frieden' bekommen. Das war das erste Haus, das ich gebaut habe, ein SOS-Kinderdorf in Imst in Tirol."

    Hermann Gmeiner entwarf eigens für seine SOS-Kinderdörfer einen neuen Beruf, den er Mutterschaft auf sozialer Ebene nannte. Eine Kinderdorfmutter wird zur permanenten neuen Bezugsperson von bis zu neun Kindern. Diese wachsen wie Geschwister in einer großen Familie auf und leben in einem eigenen Haus.

    "Ein SOS-Kinderdorf funktioniert eigentlich wie jedes andere Dorf dieser Welt. Es gibt in diesem Dorf 15, 20 Familienhäuser, in jedem Dorf etwa 150 Kinder mit den Kinderdorfmüttern. Ein SOS-Kinderdorf ist kein Internat. Die Kinder gehen wie jedes andere Kind jeden Morgen mit der Schultasche hinaus in die Schulen. Die Idee des SOS-Kinderdorfes ist die Integration, dass wir nichts Besonderes machen mit den Kindern, dass die leben dürfen wie jedes andere Kind in der Welt."

    Als "freundlichstes Wunder der Nachkriegszeit" bezeichnete der Arzt und Theologe Albert Schweitzer die SOS-Kinderdörfer. Vom Gmeinerschen Vorbild angetan, stellte er seinen Namen für die Albert-Schweitzer-Kinderdörfer zur Verfügung, die nach einem ähnlichen Konzept funktionieren. Mit groß angelegten Werbekampagnen gewann Hermann Gmeiner für seine Kinderhilfsorganisation tausende Spender und Helfer. So konnten dem Dießener Projekt bis heute allein in Deutschland 14 weitere Kinderdörfer folgen und zahlreiche Jugendhilfe-, Berufsbildungs- und Beratungseinrichtungen.

    Bereits Anfang der 60er Jahre weihte Hermann Gmeiner das erste überseeische Kinderdorf in Südkorea ein, dessen Bau er finanzieren konnte, indem er Reiskörner für einen Dollar das Stück verkaufte. Während des Vietnamkrieges reiste er nach Saigon, um dort ein SOS-Kinderdorf ins Leben zu rufen. Er errichtete Projekte in Indien, Lateinamerika und Afrika, weil er weltweit Kindern in Not helfen wollte.

    "Wir kommen, um Kindern zu helfen, ganz gleich in welchem Land, in welcher Religion, in welcher Weltanschauung sie sind. Wir möchten mit unseren Kindern Frieden schaffen. Wir möchten, dass über alle Ideologien hinweg die Menschen beginnen, sich ein bisschen zu verstehen, zueinander ein bisschen ja zu sagen, dass endlich dieser Krieg und dieser Hass über unsere Kinder weniger wird."

    Als Hermann Gmeiner 1986 an Krebs starb, hatte er 40.000 Kindern in 85 Ländern ein neues Zuhause schaffen können. In Dießen am Ammersee sind seit der Grundsteinlegung über 450 Kinder aufgewachsen. In einer Festschrift zum 50-jährigen Jubiläum schreibt eine Kinderdorfmutter:

    "Das schönste ist, wenn wir Erfolge bei den Kindern erkennen. Wenn sie mehr Zutrauen zu sich und anderen entwickeln. Etwas wagen, was sie vorher nicht gemacht hätten, Gefühle äußern, die sie vorher zurückgehalten haben. Wenn sie ganz konkret etwas geschafft haben, sei es in der Schule, im Sport, im Kreativen."