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Heimatgefühle
"Etwas zutiefst Subjektives"

Es sei falsch, wenn man den Begriff der Heimat kollektiviere und behaupte, es gäbe etwas, was viele Menschen mit Heimat verbinden, sagte der Schriftsteller und Historiker Per Leo im Deutschlandfunk. Heimatgefühle seinen etwas zutiefst Subjektives. Jeder verbinde etwas anderes damit.

Per Leo im Gespräch mit Änne Seidel | 01.08.2016
    Der Schriftsteller Per Leo, aufgenommen am auf der Leipziger Buchmesse in Leipzig.
    Der Schriftsteller Per Leo (dpa/picture alliance/Arno Burgi)
    Änne Seidel: Heimat – dieser Begriff ist wieder schwer in Mode gekommen. Von Buchcovern und Werbeplakaten springt er uns entgegen. Wir stolpern über ihn, wenn wir durch die Programmhefte der Theater blättern oder auch durch das Parteiprogramm der AfD. In "Kultur heute" wollen wir dieser neuen Heimat-Faszination auf den Grund gehen und fragen dafür in diesen Wochen Kulturschaffende, Schriftstellerinnen und Wissenschaftler, was sie mit Heimat verbinden. Und da dieser Begriff ja eine nicht ganz unkomplizierte Geschichte hat, soll heute an dieser Stelle ein Historiker zu Wort kommen. Ich habe gesprochen mit Per Leo, geboren 1972 in Erlangen, studierte und promovierte im Fach Geschichte und hat dann kurzerhand einen Roman über seine eigene Geschichte geschrieben, oder besser gesagt, über die Geschichte seiner Familie. "Flut und Boden" heißt das Buch, erschienen 2014, und es ist so etwas wie ein Heimatroman geworden – richtig, Herr Leo?
    Per Leo: Ja und nein. Also ich selbst habe diesen Begriff niemals bemüht. Und der ist mir beim Schreiben auch überhaupt nie in den Sinn gekommen. Er ist mir zugetragen worden. Es ist eine Zuschreibung letztlich einer Germanistin gewesen, die halb ironisch, halb ernst diesen Roman als Heimatroman bezeichnete, natürlich wissend, was für eine komplizierte Kategorie und eigentlich auch eine abschätzige Kategorie das ist. Aber sie verband es mit einem Lob. Und da fühlte ich mich plötzlich erkannt. Ich dachte, ja, das kann man machen, so versuchsweise.
    "Ein Konzept, mit dem wir erst mal alle etwas Positives verbinden"
    Seidel: Und was genau gefällt Ihnen an diesem Begriff Heimatroman, oder warum halten Sie ihn für treffend?
    Leo: Mir gefällt daran, dass Heimat ja tatsächlich ein Konzept ist, mit dem wir erst mal alle etwas Positives verbinden, was aber darin sofort kompliziert wird, dass dieses Positive sozusagen auf eine ganz schnelle Weise kippen kann ins Schlechte, ins Gemeine. Das ist auf ästhetischer Ebene der Kitsch, und auf politischer Ebene ist es natürlich diese Instrumentalisierung, die Politisierung eines sehr komplizierten Gefühls, die wir im Moment erleben. Und genau auf dieser Schnittstelle sozusagen mich zu bewegen, ohne abzurutschen in den Kitsch und in die Politik, das hat mich gereizt, oder ich habe rückblickend sozusagen in diesem Reiz eigentlich etwas wiedererkannt, was ich tatsächlich versucht habe.
    Seidel: Sie haben in diesem Buch die Geschichte Ihrer eigenen Familie erforscht, ich habe es schon gesagt. Ihr Großvater war Nazi, war bei der SS. Das heißt, Sie haben sich, nehme ich an, zwangsläufig auch mit dem Heimatbegriff der Nationalsozialisten beschäftigt. Wenn Sie sich heute so umgucken, wie viel ist von dieser Rhetorik, dieser alten Rhetorik der Nationalsozialisten noch lebendig? Was würden Sie sagen?
    Leo: Das kann man von zwei Seiten aufziehen. Man kann sagen, da passiert ganz viel plötzlich für uns alle sehr überraschend wieder, was wir meinten, längst überwunden zu haben. Andererseits muss man sehr vorsichtig sein, das, was gerade passiert, vorschnell mit dem zu identifizieren, was vor 70 Jahren in Deutschland passiert ist. Und wenn Sie gerade von dem Heimat-Begriff der Nazis gesprochen haben, das ist ja gerade das Problematische: Die Nazis hatten keine Begriffe. Die hatten Schlagworte, sehr starke, leicht emotionalisierbare, wirksame Schlagworte. Und genau das erlebt man ja auch heute gerade wieder. Es ist ja gerade kein Heimatbegriff. Wenn man den Heimatbegriff fassen wollte, dann müsste man ja tatsächlich mal anfangen zu überlegen, was das eigentlich ist. Da fängt es schon an, kompliziert zu werden.
    "Heimat ist immer ein Differenzbegriff zu dem, was nicht mehr ist"
    Seidel: Versuchen wir es doch mal.
    Leo: Ja, versuchen wir es. Als Historiker würde ich sagen, genau deswegen ist es wichtig, Heimat tatsächlich als Begriff zu fassen, weil wir sehen, er hat eine Geschichte. Das ist eine Rede, die eigentlich erst so im 19. Jahrhundert entstanden ist, und all das, was mit diesem Begriff beschworen wird, stellen wir fest, ist etwas, was genau in dieser Zeit – und daran hat sich bis heute nichts geändert – offensichtlich als etwas Bedrohtes wahrgenommen wird. Das heißt, das Erste wäre, Heimat ist immer ein Differenzbegriff zu dem, was nicht mehr ist, was es möglicherweise nie gegeben hat, was man dann auch umdrehen kann, wie Ernst Bloch das zum Beispiel getan hat, indem er sagt, Heimat ist eine Utopie, also etwas, was es noch gar nicht gibt. Und immer, wenn Sie dann anfangen, konkret zu werden, dann sehen Sie, das stimmt. Nicht umsonst ist also nichts so stark mit Heimatgefühlen verbunden wie zum Beispiel Kindheitserinnerungen. Da werden Länder, Welten beschworen, die es offensichtlich mal gegeben haben muss, aber die nicht mehr da sind. Das beruhigt uns, es ist etwas, was da ist in einer Welt, die permanent im Wandel ist. Genauso das Heimweh. Sie sind weg und erinnern sich an das, was gerade nicht ist, an einen anderen Ort. Oder Sie kommen nach Hause, Sie empfinden plötzlich Glück, wieder in der Heimat zu sein. Es ist immer in der Differenz. Und das ist etwas, was auf bewegte Zeiten sozusagen reagiert, es ist ein Kompensationsmodus. Das ist das erste Moment der Verkomplizierung. Das Zweite ist, es ist etwas zutiefst Subjektives. Jeder verbindet etwas anderes damit, auch vielleicht nichts ganz Präzises, Unterschiedliches, sich Überlagerndes. Und genau deswegen ist es so falsch sozusagen, wenn man diesen Begriff dann plötzlich kollektiviert und behauptet, es gäbe etwas, was viele Menschen, gar eine Gemeinschaft sozusagen an Heimatlichem verbände. Das stimmt nicht.
    Seidel: Heimat ist etwas Persönliches, etwas Individuelles, sagen Sie. Dann kommen wir zu Ihren ganz persönlichen Heimatgefühlen. In Ihrem Buch ist von zwei Dingen viel und immer wieder die Rede: Von Landschaften, also von der Natur einmal, und dann von Fußball. Das sind ja beides Dinge, von denen man sagen könnte, irgendwie typisch Deutsch. Verbinden Sie sie mit Heimat?
    Leo: Im weitesten Sinne schon. Wie gesagt, ich habe selbst diesen Begriff nicht mal im Kopf gehabt, als ich über all das schrieb. Was ich hingegen schon im Kopf hatte, war nicht ein Begriff, aber ein starkes Konzept sozusagen, eine Idee von Deutschland. Und da geht es ja schon los. Die einen würden behaupten, dass gerade Nationen zum Beispiel Heimatgefühle mobilisieren können. Und das macht es ja so gefährlich. Umgekehrt gibt es dann die Kritiker dieses Heimat-Diskurses, wie zum Beispiel der österreichische Schriftsteller Robert Menasse, der sagt, Heimat und Nation, das darf nicht zusammengehören, weil es ein Abstraktum ist, eigentlich konkret ist nur die Region, aus der wir kommen. Da ist viel dran, das ist mir sehr sympathisch, trotzdem halte ich es für falsch. Nicht per se – natürlich sind sehr viele Heimatgefühle regional gebunden. Aber in meinem Fall zum Beispiel war das nicht möglich, weil, als ich ein Kind war, wir sind sehr viel umgezogen, und zwar immer sozusagen die Nordsüdachse in Deutschland rauf und runter. Also mein ganzes jugendliches und kindliches Leben sozusagen spielt entlang dieser Nordsüdachse, A9, A7 sozusagen.
    "Eine streng individuelle, subjektive Position"
    Seidel: Entlang der Autobahn.
    Leo: Entlang der Autobahn, genau. Und ich habe, wenn Sie so wollen, stark heimatliche Gefühle – auch ein sehr deutsches Phänomen – für die deutsche Autobahn. Ich habe genauso Heimatgefühle, wenn ich Gustl Bayrhammer bayerisch sprechen höre, wie wenn ich in Nordfriesland platt höre. Das sind beides Heimatgefühle, und ich komme gar nicht umhin, die zusammenzubinden sozusagen zu einer Einheit der Mannigfaltigkeit. Und die nenne ich Deutschland. Und da ich mich dann in meinem Buch aber sehr kritisch natürlich auch mit politischen, nationalistischen Reden über Deutschland bis hin zum Extrem der Nazis auseinandergesetzt habe, war dann der Versuch sozusagen der nationalistischen Rede über Deutschland als Heimat sozusagen eine nicht-nationalistische, kompliziertere, die hell und dunkel zum Beispiel kennt, die Vielfalt kennt, die auch sich nicht scheut, aus der Vereindeutigung sozusagen in die Verkomplizierung zu gehen, entgegenzuhalten. Es gibt nichts antiliterarischeres sozusagen als die Rede von Heimat der Nazis, die gerade das, was lebendig und kompliziert ist an diesem Gefühl, vereindeutigt haben, und zwar mit dem Zweck sozusagen, Unruhe zu stiften, zu mobilisieren, aufzustacheln. Diese Rede von Heimat gibt es nicht ohne die, die nicht dazugehören, ohne den Ausschluss. Und das war mein Versuch, auf eine heimatliche, komplizierte Weise über Deutschland zu schreiben, ohne irgendjemand auszuschließen, weil es eine streng individuelle, subjektive Position ist. Und das nennen wir Literatur.
    Seidel: In Ihrem Buch spielt auch die DDR eine nicht ganz unwichtige Rolle. Ihr Großonkel Martin lebte dort. Was verbinden Sie heute mit diesem Land, das es ja nicht mehr gibt?
    Leo: Genau. Ich habe mich in der DDR, ob Sie es glauben oder nicht, heimisch gefühlt. Und das hatte natürlich damit zu tun, wen wir dort antrafen. Das waren sehr liebenswerte Verwandte, die ich gleich schätzen lernte, die ganz viel von dem vorlebten, was in unserem Zweig der Familie immer nur behauptet wurde, nämlich eine sehr in sich ruhende Bürgerlichkeit zum Beispiel, gelebte Bildung. Und das habe ich kurzgeschlossen sozusagen mit dem Anblick, den dieses Land mir immer wieder geboten hat, der Pfade in die Vergangenheit zu weisen schien. Das ist eine reine Illusion, aber in genau diesem Sinne, wie Heimat funktioniert, stark über die Phantasie. Ich habe gar nicht die DDR selbst gesehen, sondern das, was sozusagen an Spuren der Vergangenheit, der bürgerlichen Vergangenheit, auch altes Deutschland. Man hat nirgendwo so viel Kaiserreich, das ich ja selbst nur aus Filmen und Büchern kannte, plötzlich materiell ansehen können, wie in der DDR. Da ist ganz viel übriggeblieben, einfach alt geworden. Ganz nostalgische Gefühle sind das gewesen, die mich aber auf eine ganz persönliche Weise beruhigt haben. Ich mochte das. Es könnte ganz schnell zynisch werden, diese Rede, weil es natürlich als politisches Land nicht nur nicht funktioniert hat, sondern ein Unrechtsstaat war. Aber auf eine ganz persönliche Weise habe ich mich dort in dieser Familie, in dem Haus meiner Familie dort, sehr wohl gefühlt.
    Seidel: Heimat. Ein kompliziertes Gefühl. Das war der Autor und Historiker Per Leo. Am Donnerstag hören Sie an dieser Stelle Elisabeth Tietmeyer, Direktorin des Museums Europäischer Kulturen in Berlin. Und alle Gespräche unserer "Heimat"-Reihe können Sie auch im Internet nachhören unter deutschlandfunk.de/heimat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.