Dienstag, 19. März 2024

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Heimkehr aus Kriegsgefangenschaft
"Auf die Freude folgte Enttäuschung"

Vor 75 Jahren kehrten die ersten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion zurück. Obwohl die Familien sich über die Rückkehrer freuten, folgte darauf häufig die Enttäuschung, sagte Historiker Harald Jähner. Väter hätten es oft nicht geschafft, sich in die neue Familiensituation einzufügen.

Harald Jähner im Gespräch mit Christoph Heinemann | 26.07.2021
Deutsche Kriegsgefangene im Lager auf dem Chodynskoje Feld bei Moskau. Undatiert.
Viele Deutsche Kriegsgefangene, wie hier noch in einem Lager auf dem Chodynskoje Feld bei Moskau, konnten sich zurück in Deutschland nur schwer wieder in die Gesellschaft und ihre Familien eingliedern (picture-alliance / dpa | Tass)
Am 27. Juli, vor 75 Jahren, kehrten die ersten deutschen Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion (*) zurück. Sie kamen im Heimkehrerlager Gronenfelde bei Frankfurt/Oder an. Viele haben jahrzehntelang geschwiegen. Sie konnten oder wollten nicht darüber sprechen, was sie in dieser Zeit und in den Jahren zuvor erlebt hatten.
Die letzten deutschen Kriegsgefangenen kehrten erst 1956 zurück. Das Jahrzehnt nach dem Krieg hat der Journalist und Historiker Harald Jähner, ehemaliger Feuilleton-Chef der "Berliner Zeitung", in seinem Buch "Wolfszeit" beleuchtet.
Das Rundfunkorchester Günter Fuhlisch spielt in der Sendung "Zum Tanztee", Deutschland 1950er-Jahre
Jähner: "Die 50er-Jahre waren wesentlich lebendiger, kritischer"
Die Nachkriegsjahre seien sie viel konfliktreicher gewesen als heute kolportiert, sagte der Publizist Harald Jähner. Viele Menschen hätten versucht ihren "inneren Nazi" loszuwerden, das aber ihren Kindern gegenüber nicht zugegeben.

Im Dlf-Interview beschreibt Harald Jähner Deutschland in der Zeit als ein "seltsam ausgelassenes Land". Über morgen habe kaum jemand nachgedacht, sagte er. "Die Zeit hatte etwas Wölfisches. Die Menschen hatten deswegen Angst voreinander. Es gab die einsamen Wölfe, kriminelle Typen, entwurzelt, gewissenlos, traumatisiert. Vor denen hatte man natürlich Angst, insbesondere die Frauen."

Kriegsrückkehrer haben sich oft als Opfer gesehen

Andererseits hätten die Menschen auch Sehnsucht nacheinander gehabt. "Sie waren oft isoliert, vereinsamt. Familien waren auseinandergerissen", so Jähner.
Mit Blick auf die Rückkehr in die Familien sagte Jähner, dass Heimkehrer oft traumatisiert und schlecht gelaunt gewesen seien. "Die Frauen hatten sich in der Zwischenzeit sehr emanzipiert", so Jähner. "Sie hatten gelernt, dass eine Stadt auch ohne Männer betrieben werden kann. Sie hatten die Jobs der Männer übernommen und deren Privilegien alle vollständig entzaubert." Dies habe dazu geführt, dass besonders 1947 und 1948 die Scheidungsrate gestiegen sei.
Wehrmachtssoldaten hätten sich zunächst häufig als Opfer gesehen, sagte Jähner. "Viele Soldaten fühlten sich verraten von ihren Vorgesetzten. Insofern gab es teils eingebildete, teils auch relativ plausible Gründe, sich zum Teil als Opfer zu fühlen." Das habe es leicht gemacht, zu verdrängen, dass man Täter gewesen ist.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:
Christoph Heinemann: Herr Jähner, welches Land fanden die ersten Heimkehrer 1946 vor?
Harald Jähner: Ein trostloses und ein ratloses. Das Land war weitgehend zerstört. Die Hälfte aller Menschen, die in Deutschland lebten, war nicht dort, wo sie hinwollten oder eigentlich hingehörten. Der Krieg hatte als eine gewaltige Mobilisierungsmaschine gewirkt und die Menschen irgendwo ausgespuckt, und nun mussten sie zueinanderfinden.
Es war aber auch trotz allen Leids eine relativ lustige Zeit. Die Menschen hatten diesen Schrecken überlebt und freuten sich des Daseins, freuten sich des Tages. Und, wie man so umgangssprachlich sagt: Sie hauten mächtig auf den Putz. Es wurde sehr viel gefeiert. Es wurde sehr viel geliebt. Es war ein seltsam ausgelassenes Land, trotz aller Schrecken, die hinter ihnen lagen, vielleicht auch wegen der Schrecken.
Harald Jähner - "Wolfszeit"
In "Wolfszeit" beschäftigt sich Harals Jähner mit Deutschland und den Deutschen unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die Mitte der 1950er Jahre − mit überraschenden Ergebnissen. Dafür erhielt er den Sachbuchpreis der Leipziger Buchmesse.

Heinemann: Was genau verbirgt sich hinter dem Begriff "Wolfszeit"?
Jähner: Wolfszeit sagten viele Leute damals selbst. Es fußt auf dem alten Sprichwort, "homo homini lupus", jetzt wird der Mensch dem Menschen zum Wolf, und das markiert den Beginn der Anarchie. Jeder dachte nur noch an sich selbst beziehungsweise an sein Rudel. Es war ein radikaler Rückzug aufs Private, ungeheurer Egoismus, ein extremer Kampf ums Dasein für den Moment. Über morgen dachte kaum jemand nach. Die Zeit hatte etwas Wölfisches. Die Menschen hatten Angst voreinander deswegen. Es gab die einsamen Wölfe, kriminelle Typen, entwurzelt, gewissenlos, traumatisiert. Vor denen hatte man natürlich Angst, insbesondere die Frauen.
Andererseits hatten die Menschen Sehnsucht nacheinander. Sie waren oft isoliert, vereinsamt. Die Familien waren auseinandergerissen. Man brauchte einander und man suchte sich und man war bereit für ein neues Leben und für einen neuen Partner und ging entsprechend auf die Suche.

"Die Frauen hatten sich in der Zwischenzeit sehr emanzipiert"

Heinemann: Wie wurden die Heimkehrer in diesen ersten Nachkriegsjahren in Deutschland aufgenommen?
Jähner: Zwiespältig. Es gab natürlich Freude in den Familien, dass sie wieder da waren, und vielfach folgte auf diese Freude tiefe Enttäuschung. Das hing damit zusammen, dass die Heimkehrer oft traumatisiert waren, verbittert, träge, rabiat, schlecht gelaunt. Die Frauen hatten sich in der Zwischenzeit sehr emanzipiert. Sie hatten gelernt, dass eine Stadt auch ohne Männer betrieben werden kann. Sie hatten die Jobs der Männer übernommen und deren Privilegien alle vollständig entzaubert. Sie hatten mit ihren Kindern ganz kooperative Überlebens-Teams gebildet, sehr kooperative Beziehungen, für die die Kinder eigentlich viel zu klein waren, aber das war keine Überforderung, sondern oft waren die Kinder stolz auf diese Nähe zu den Müttern. In diese enge Gemeinschaft brach nun der heimkehrende Vater und der wollte möglichst alles wieder so haben, wie er es von früher gewöhnt war, und er war auch nicht richtig fähig, mit dieser Anarchie umzugehen. Soldaten können schlecht improvisieren. Sie können befehlen oder gehorchen.
Insofern waren sie oft nicht in der Lage, mit dieser neuen Situation umzugehen, und waren den Familien eine große Last, und das spürten sie und waren dann noch mal mehr verbittert, waren eifersüchtig, reagierten mit viel Gemecker und Gemoser, mit Eifersüchteleien, oft auch mit Gewalt, und das endete dann in einer großen Scheidungswelle. 47/48 gab es einen statistischen Ausschlag der Scheidungen, gefolgt von einem ebenso großen Anstieg, einem Boom der Heiratenden ein Jahr später. Man suchte wirklich nach neuen Partnern, enttäuscht von den alten.
Deutscher Überfall auf die Sowjetunion
Nach dem Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, rechneten Hitler und die Wehrmacht-Führung mit einem Feldzug von höchstens zwei Monaten. Eine grandiose Fehlspekulation.

Heinemann: Viele Heimkehrer waren traumatisiert, hatten Schreckliches erlebt. Was wollten die Deutschen im ersten Nachkriegsjahrzehnt über das Schicksal der Kriegsgefangenen wissen?
Jähner: Gar nichts. Erschreckend wenig. Man wollte nach vorne schauen. Man hatte genug zu tun mit sich selbst und mit den enormen Anforderungen, die der (*2) Nahrungsmangel und die Suche nach Überlebensmöglichkeiten stellten. Da wollte man nichts von den Geschichten von früher hören, auch wenn sie nur ein, zwei Jahre her waren. Insofern waren viele Heimkehrer absolut alleine mit ihren schrecklichen Erfahrungen. Man kennt ja dieses typische "ach, jetzt fängt der wieder an mit seinen alten Geschichten". Die verstummten dann bald recht frustriert und blieben mit ihren Erinnerungen alleine, oder, wenn es ein paar eloquentere Typen waren, was aber relativ selten war, sie rauften sich zusammen in Heimkehrer-Verbänden.
Das waren dann die alten Kriegerverbände in der Kneipe und frischten irgendwelche Erinnerungen auf. Aber das war wirklich relativ selten, viel seltener, als man sich das vorstellt. Die meisten waren mit sich alleine und entsprechend vergiftet war dann die Atmosphäre in vielen Familien, was die Vergangenheit angeht und diese psychischen Probleme in vielen Nachkriegsfamilien, unter denen dann auch die 68er-Generation ja so gelitten hatte, die hängen mit dieser Mauer des Schweigens zusammen.

"Man schob einfach die wirklichen Opfer in den Hintergrund"

Heinemann: Fühlten sich diese ehemaligen Wehrmachtssoldaten als Täter oder als Opfer?
Jähner: Das ist eine ganz schwierige Frage. Sie fühlten sich natürlich, wie alle Deutschen, zunächst mal als Opfer. Das hört sich wirklich erst mal komisch an, aber die Deutschen fühlten sich (auch die, die Hitler zugejubelt hatten und lange in der Partei waren) nun von den NS-Bonzen betrogen. Manche empfanden, es sei ihnen eine psychische Droge irgendwie beigebracht worden, man hätte ihre Gutgläubigkeit ausgenutzt und so weiter. Sie fühlten sich dann natürlich auch verheizt gerade. Viele Soldaten fühlten sich verraten von ihren Vorgesetzten. Insofern gab es teils eingebildete, teils auch relativ plausible Gründe, sich zum Teil als Opfer zu fühlen. Das machte es leicht zu verdrängen, dass man Täter war. Man schob einfach die wirklichen Opfer, die ganz manifesten Opfer, die russische Zivilbevölkerung, die zu 16 Millionen umgebracht wurde, die Juden vor allem, die schob man einfach in den Hintergrund. Darüber wurde geschwiegen.
Heinemann: Herr Jähner, eine Diktatur hatte den Soldaten ja den Marschbefehl Richtung Osten erteilt, und in einer Diktatur hatten sie dann auch als Kriegsgefangene gelebt. Dann kehrten sie in ein Land zurück, das seit 1949 demokratisch verfasst war. Wie haben die Heimkehrer diesen Übergang von der Volksgemeinschaft der Nazis zu einer zunehmend pluralistischen Gesellschaft erlebt?
Jähner: Zunächst einmal haben sie die NS-Identität abgestreift wie eine Schlangenhaut. Das ist ganz eigentümlich, dass mit der Kapitulation die Deutschen auf einen Schlag aufhörten, Nazis zu sein. Natürlich steckt dahinter ein längerer Prozess. Die letzten Kriegsmonate, die letzte Kriegsphase hatte sie schon gelehrt, welche Teufel unter den S-Mützen steckten. Nach 1945, nach der Kapitulation wollte niemand wieder was mit dem Nationalsozialismus zu tun haben. Das war in deutschen Augen so eine Sache von Hitler und seinen Konsorten.
Und weil sie sich als Opfer fühlten, konnten sie auch ihre nationalsozialistische Identität einfach abstreifen, ohne sich irgendwie als Verräter zu fühlen. Sie waren jetzt Demokraten. Das mussten sie allerdings erst mal lernen. Dazu waren sehr hilfreich ein paar Interventionen der Alliierten. Die kontrollierte Presse war sehr wichtig. Da lernten sie, was Demokratie heißt, was demokratische Diskussionsprozesse heißt. Und sie lernten, Konflikte auszuhandeln. Da waren ganz wichtig die Entschädigungen für die Kriegsopfer, auch für die eigenen. Die Heimkehrer wurden entschädigt, die Vertriebenen wurden entschädigt, die Leute, die ausgebombt worden waren, ihr Haus und Hof verloren hatten, wurden entschädigt, und die Höhe dieser Entschädigung, die mussten die anderen, die nichts verloren hatten, natürlich bezahlen und versuchten, die zu drücken.

"Ein enorm autoritäres Verhalten im Gepäck"

Heinemann: Der Lastenausgleich.
Jähner: Der berühmte Lastenausgleich, genau, eines der meistverwandten Worte in der Nachkriegszeit, heute fast vergessen. Aber da wurde zäh gerungen und gekämpft und gerade beim Lastenausgleich lernten sie, was Demokratie ist, dieses mühsame, zähe Aushandeln um einen Kompromiss.
Heinemann: Aber sie hatten ja etwas ganz anderes im Gepäck. Inwiefern haben die durch den Krieg brutalisierten Generationen die Geschichte und auch die Gesellschaft der jungen Bundesrepublik geprägt?
Jähner: Die hatten natürlich ein enorm autoritäres Verhalten im Gepäck, was sie auch nicht so schnell wieder loswurden. Das erklärt auch den enorm vitale, energischen, wütenden Protest der 68er-Generation. Es gab noch nie einen Generationskonflikt, der so erbittert ausgetragen worden war als Generationskonflikt, wie der in den späten 60er-Jahren. Der war auch begründet in einem autoritären verknöcherten, zum Teil auch gewalttätigen Verhalten der Väter, wie man es sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. Das wurden die erst sehr, sehr langsam wieder los. Und dieses auch mit Kindern Konflikte ausverhandeln, das musste auch mühsam gelernt werden. Willy Brandts berühmte Parole "mehr Demokratie wagen" war tatsächlich ein Wagnis für die Deutschen, ein Wagnis und ein Abenteuer.

"Integrität eigentlich verwirkt"

Heinemann: Wie haben speziell jetzt die ehemaligen Kriegsgefangenen, die ja teilweise Jahrzehnte ihres Lebens durch das Hitler-Regime verloren hatten, wie haben die auf die Anklage der jüngeren Generation reagiert?
Jähner: Im Grunde genommen nicht viel anders als die übrigen Deutschen auch. Ich gehöre ja selber zu der, wenn auch post-68er genannten, aber zu der aufbegehrenden Jugend. Wir haben uns natürlich alle ungeheuer ungerecht behandelt gefühlt. Im Nachhinein, muss ich sagen, war das Verständnis dieser Eltern-Generation relativ groß. Viele auch der Kriegsgefangenen haben gespürt, dass diese aufbegehrenden Kinder eigentlich recht hatten.
Sie hatten immer so getan, als hätten sie die moralische Integrität, diese Generation zu erziehen, aber insgeheim wussten sie, dass sie diese Integrität eigentlich verloren hatten. Ihnen blieb gar nichts übrig, als so zu tun, als hätten sie die moralische Integrität, denn sonst kann man Kindern nicht Gut und Böse beibringen. Aber sie hatten sie eigentlich verwirkt durch den Holocaust, auch wenn es nur das Dulden des Holocausts war, und insofern war diese Reaktion auf die heftigen Angriffe der Jugend natürlich harsch, aber irgendwie auch in sich gebrochen, halbherzig, mit halbem Dampf.
Heinemann: Herr Jähner, wir haben aufgrund Ihres Buches jetzt in die Bundesrepublik geschaut. Was ist bekannt über diejenigen, die aus der Kriegsgefangenschaft in die DDR entlassen wurden?
Jähner: Die hatten es in gewisser Weise besonders schwer, weil sie nicht thematisieren konnten die Grausamkeiten in der russischen Kriegsgefangenschaft. Die DDR hat natürlich betont, wie großzügig, wie menschlich es war, diese Kriegsgefangenen zu entlassen. Selbst bei den letzten 10.000, die ja erst zehn Jahre später kamen, haben sie das noch als einen Gnadenakt im Grunde genommen verstanden. Es gab ja tatsächlich etliche schwere Kriegsverbrecher und Massenmörder unter den in Russland inhaftierten, die nicht umgebracht wurden, sondern die auch nach ungefähr zehn Jahren entlassen wurden. Diese Tatsache stellte die DDR sehr groß heraus und stellte zum Teil dann auch alle Kriegsgefangenen unter Verdacht. Jedenfalls durfte nicht in dem Maße wie in der Bundesrepublik üblich über die Grausamkeiten der Gulaks und der Arbeitslager gesprochen werden. Das machte es für die Kriegsheimkehrer doppelt schwer.
In Westdeutschland gab es ja unter den rechten und stark konservativen Parteien Strömungen, die das Schicksal der Kriegsheimkehrer und der Kriegsgefangenen in den Straflagern sehr in den Vordergrund stellten, sehr drastisch ausmalten, zum Teil auch mit dem Ziel, die NS-Verbrechen zu entschulden. Das gab es in der DDR alles nicht.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
(*) irreführendes Wort gestrichen
(*2) An dieser Stelle wurde ein in diesem Zusammenhang falscher Begriff korrigiert.