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Heiner Müller
Lyrik war für ihn mehr als eine Marginalie

Heiner Müller hat als Dramatiker Theatergeschichte geschrieben. Dass er auch als Lyriker zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwartsliteratur gehört, wurde erst kurz vor seinem Tod 1995 deutlich. In dem Gedichtband "Auf der Gegenschräge" sind nun 220 bisher unveröffentlichte Gedichte und Entwürfe erschienen.

Von Michael Opitz | 08.04.2015
    Der Dramatiker Heiner Müller. Der DDR-Schriftsteller und Dramaturg Heiner Müller, aufgenommen Ende August 1995 auf dem Helsinki Festival. Das Berliner Ensemble Theater führte dort sein Stück "Quartett" auf.
    Der Dramatiker Heiner Müller im August 1995. (dpa / pa / Peltonen )
    Heiner Müller verstand sich als Dramatiker. Aber der Dramatiker hat Zeit seines Lebens auch Gedichte geschrieben. Der von Kristin Schulz unter dem Titel "Warten auf der Gegenschräge" herausgegebene Band versammelt neben den 135 bereits zu Müllers Lebzeiten veröffentlichten Gedichten auch 181 Gedichte und 39 Gedichtentwürfe, die sich im Nachlass des 1929 geborenen Autors fanden. Damit liegen nun Müllers sämtliche Gedichte vor, sodass der vorliegende Band den 1998 im Rahmen der Heiner Müller-Werkausgabe erschienenen ersten Band "Die Gedichte" ersetzt. Heiner Müller hat als Dramatiker Theatergeschichte geschrieben. Dass er auch als Lyriker zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwartsliteratur gehört, wurde offensichtlich, als 1992 der noch von ihm autorisierte Band mit Gedichten im Alexander Verlag erschien, und nachdrücklich wird dies mit dem von der Herausgeberin akribisch kommentierten Band "Warten auf der Gegenschräge" bestätigt. Heiner Müller fand in seinen Gedichten nicht nur für den rohen Geschichtsverlauf eine ganz eigene, unverwechselbare Sprache, sondern auch für das Intime. Das lyrische Ich, das sich in einer Schreibkrise befindet, fragt sich in dem 1992 entstandenen Gedicht "Müller im Hessischen Hof", wie tauglich sind Drama, Prosa und Lyrik, wenn es gilt, aus der Krise herauszufinden:
    "In der Nacht im Hotel ist meine Bühne
    Nicht mehr aufgeschlagen Ungereimt
    Kommen die Texte die Sprache verweigert den Blankvers
    Vor dem Spiegel zerbrechen die Masken Kein
    Schauspieler nimmt mir den Text ab Ich bin das Drama
    MÜLLER SIE SIND KEIN POETISCHER GEGENSTAND
    SCHREIBEN SIE PROSA Meine Scham braucht mein Gedicht"
    Krankheit inszenierte in seinem Körper ein Drama
    Heiner Müller sah einen Grund für seine Krebserkrankung darin, dass er jahrelang keine Möglichkeit hatte, ein Stück zu schreiben. Die Krankheit inszenierte in seinem Körper ein Drama, in dem der Tod Regie führte. Sie machte den Spieler zum Objekt in einem Schauspiel, dessen Ausgang er kannte. In seinen letzten Gedichten wurde der Tod für Müller zu einem Dialogpartner. Zur Buchpremiere von "Warten auf der Gegenschräge" standen auf der Bühne des Berliner Ensembles Corinna Harfouch und Hermann Beyer. In dem Theater, in dem Müller von 1992 bis 1995 Intendant war, lasen sie seine Gedichte.
    "Berlin 14.12.94
    FREMDER BLICK ABSCHIED VON BERLIN
    Aus meiner Zelle vor dem leeren Blatt
    Im Kopf ein Drama für kein Publikum
    Taub sind die Sieger die Besiegten stumm
    Ein fremder Blick auf eine fremde Stadt
    Graugelb die Wolken ziehn am Fenster hin
    Weissgrau die Tauben scheissen auf Berlin"
    Das Schreiben von Gedichten - insbesondere das Schreiben von Gedichten in einer strengen Form -, erwies sich in der Zeit, als Müller gegen den Krebs kämpfte, als ein probates Mittel gegen den Schmerz. Wenige Wochen nach seiner Kehlkopfoperation las er das 1994 entstandene Gedicht "Theatertod"
    "Theatertod
    Leeres Theater. Auf der Bühne stirbt
    Ein Spieler nach den Regeln seiner Kunst
    Den Dolch im Nacken. Ausgerast die Brunst.
    Ein letztes Solo, das um Beifall wirbt.
    Und keine Hand. In einer Loge, leer
    Wie das Theater, ein vergessnes Kleid.
    Die Seide flüstert, was der Spieler schreit."
    Inszenierung des Dramas des eigenen Sterbens
    In den späten Gedichten inszeniert Heiner Müller schonungslos das Drama des eigenen Sterbens. Schutzlos, ohne Maske, steht er in diesen Gedichten dem Tod gegenüber. "Die Masken sind verbraucht", heißt es in dem Gedicht "Vampir", in dem von der Liebe zu seiner Frau und der Sorge um seine Tochter die Rede ist.
    "Er selber diskreditiert in den Äußerungen, die man poetologisch findet, manchmal das Gedicht. Also, dass das Gedicht nur ein Nebenprodukt ist; was wiederum am Werk nicht nachzulesen ist, weil es nicht stimmt. [...] Es ist so ein Kokettieren auch mit der Form, dass es eigentlich nur der Anlauf ist, um zu dramatischen Arbeiten zu kommen. Aber das Gedicht kann eben auch etwas anderes: Es hat die Fähigkeit, Schreibkrisen zu thematisieren. Etwa bei "Mommsens Block", wo eben diese Umzingelung der Bücher, das Blockadehafte an Mommsen spiegelt, aber eigentlich auch auf seine eigene Situation zurückverweist. Das kenne ich aus keinen anderen Texten so unverstellt. [...] Oder die Bastion gegen die Schmerzen, wie er sagt, angesichts der Sonette aus der Intensivstation. Wenn er gegen seinen Krebs anschreibt, gegen die Nähe des Todes, die ihm bewusst ist, und die tatsächlich in diesen Gedichten zu spüren ist. Oder die leisen Töne zu seiner Tochter und zu seiner Frau, die in der Lyrik offenbar werden."
    Müllers Gedichte, die durch diesen Band wieder oder neu zu lesen sind, rufen nachdrücklich in Erinnerung, wie sehr seine Stimme im gegenwärtigen Literaturkanon fehlt: Müller hat den Geschichtskörper seziermesserscharf obduziert, indem er einzelne Teile herausschnitt, um sie auf verblüffende Weise erkenntnisfördernd wieder zueinander ins Verhältnis zu setzen. Sein hinterlassenes Werk wollte er nach der Vorgabe "brutale Chronologie" geordnet wissen. Doch eben diese Forderung stellt seine Herausgeber vor Probleme:
    "Das liegt einfach daran, dass es sich um eine posthume Ausgabe handelt und eine posthume Ausgabe kann einfach nicht so entscheiden, wie Müller das selber hätte entscheiden können, weil es anmaßend wäre, zu behaupten, ich mach jetzt eine Müller entsprechende Ausgabe. Der Begriff "brutale Chronologie" ist ja auch mehrdeutig interpretierbar. Bezieht sich das auf die Entstehungszeit, bezieht er sich auf die Zeit der Veröffentlichung - da liegen ja Jahre dazwischen. Und was macht man mit den Nachlasstexten, wo sortiert man sie ein, kann man sie überhaupt aufnehmen."
    Für die Gliederung ihrer Ausgabe war der 1992 von Heiner Müller autorisierte Gedicht-Band für die Herausgeberin gesetzt. Er sollte in seiner Dramaturgie erkennbar sein, weshalb der sich in vier Kapitel gliedernde Band "Warten auf der Gegenschräge" mit diesem Gedichtzyklus beginnt. Danach folgen die zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte, die ebenso wie die Gedichte aus dem Nachlass und die Gedichtentwürfe chronologisch angeordnet sind. Aber Chronologie wirft das Problem der Datierung auf.
    "Es ist tatsächlich so, dass, wenn er datiert hat, die Datierung eigentlich immer noch als Gedichtteil mitzulesen ist. Weil es dann oft spezielle Daten sind, die auf ein Datum verweisen. Der offensichtlichste Fall ist "Der Vater"-Text, wo er die Verhaftung auf den 31. Januar 1933 datiert, während der Vater real im März 1933 verhaftet wurde, das heißt, es ist eine funktionale Datierung. Mit dem Datum legt er auch eine Lesart fest. Ähnlich ist das auch bei den Gedichten. [...] Die Entstehungszeit habe ich versucht, zu erschließen aufgrund der Materialien, die sich drum herum befinden. Da ist es dann eben schön, dass Müller nicht nur die einzelnen Fassungen auf ein Blatt schreibt, sondern eben Materialien von "Germania 3" noch auf dem Blatt sind. Dann weiß man, dass das Gedicht in die neunziger Jahre gehört. Man muss sich immer die Umfelder oder die Rückseiten der Seiten ansehen und kann dann anhand des Papiers oder der Schrift versuchen zu bestimmen."
    Dialog mit den Toten im dramatischen Werk
    Der Titel des Bandes "Warten auf der Gegenschräge" zitiert eine Zeile aus Müllers Gedicht "Drama", das im November 1995, einen Monat vor seinem Tod entstanden ist. Darin steht das lyrische Ich den Toten gegenüber, die auf der Gegenschräge warten.
    "Müller ist im Dialog mit den Toten im dramatischen Werk, aber auch in der Lyrik. Das, was wir jetzt machen, ist in gewisser Weise ja auch einzutreten in diesen Dialog. Ich fand einerseits als Bild angemessen. [...] Es ist ein Warten auf der Gegenschräge. Also etwas, was kippen kann - ins Licht oder ins Dunkel, ins Offensichtliche oder ins Nichtoffensichtliche. Das gilt für uns als Leser, aber eben auch für die Texte - für beide Seiten gilt es, und damit für die Toten und für die Lebenden."
    Die Lyrik war im Schaffen des Dramatikers Heiner Müller mehr als eine Marginalie. Wie diese Gedichte in der Geschichte und im Leben des Autors verankert sind, welchen Raum sie eröffnen, wird ermessen können, wer das Zwiegespräch mit dem Lyriker Heiner Müller sucht. Wo Müller den Raum und die Zeit des Gedichts verortet, kommt in dem Gedicht "Unter dem Raum unter der Zeit" zum Ausdruck, das in den 1990er-Jahren entstanden ist, und das sich in Müllers Nachlass fand. Gelesen wird es von Corinna Harfouch:
    "Unter dem Raum unter der Zeit
    Unter dem Raum der Geschichte
    Unter der Zeit des Menschen
    Ist der Raum ist die Zeit des Gedichts"
    Heiner Müller: "Warten auf der Gegenschräge. Gesammelte Gedichte", hrsg. von Kristin Schulz, Suhrkamp Verlag, Berlin 2014, 675 Seiten, 49,95 Euro.