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Heinrich Zille, Zeichner und Fotograf gestorben

Drangvolle Enge in lichtlosen Gassen, Mietskasernen mit fünf Hinterhöfen, kleine und muffige Wohnungen, in die kein Sonnenstrahl je fällt, bröckelnde Wände, schmuddelige Rinnsteine und an jeder Ecke eine Destille. So lebte im kaiserlichen Berlin, was man damals Proletariat nannte. Ein Leben aus Arbeit und Armut, Krankheit, Suff und Prügelei - kinder- und sorgenreich. Niemand hat dieses "Miljöh" dem Bürgertum eindringlicher nahe gebracht als ein bärtiger Mann aus Sachsen: Heinrich Zille.

Von Rainer B. Schossig | 09.08.2004
    Man kann einen Menschen mit einer Wohnung erschlagen wie mit einer Axt.

    Das hat nicht August Bebel sondern Heinrich Zille gesagt. Und er musste es wissen, verbrachte er doch selbst ein Gutteil seiner Kindheit in den Armenvierteln Berlins. Der Gottvater der Berliner Schnoddrigkeit starb am 9. August 1929 im Alter von 71 Jahren. Und erstaunlicherweise gehen uns auch 75 Jahre danach seine Zeichnungen noch nahe - die Eckensteher und Paupers, die drallen Huren und ihre lumpigen Freier, die kleinen und großen Ganoven, diese unüberschaubaren Familien, die in allem Elend aber ihren rotzfrechen Mutterwitz bewahrt haben; vor allem aber: die vielen, zwischen Mülleimern und Brandmauern herumwuselnden, wunderbar lebendigen Kinder.

    Heinrich Zille mochte es gern drastisch: Sitzt ein bedauernswertes, schwindsüchtiges Mädchen, in fadenscheinige Decken gewickelt, zwischen Mülltonnen im Hinterhof, und sein buckliger, kleiner Bruder ruft nach oben:

    Mutta, jib doch die zwee Blumentöppe raus, Lieschen sitzt so jern ins Jrüne.

    So was kann nur von Heinrich Zille gezeichnet sein. Er war kein engagierter Sozialromantiker. Geboren 1858 im sächsischen Radeburg, als Sohn eines Mechanikers, erfährt er früh die Härten des Lebens ganz unten. Der Vater landet in Schuldhaft, und die bettelarme Familie zieht in den Berliner Osten - ins Elendsviertel. Doch langsam arbeitet sich der junge Heinrich hoch: er lernt Lithograph, besucht Abendkurse im Zeichnen, arbeitet für die Photographische Gesellschaft. Er macht sprechende Fotografien vom Bau der Mietskasernen, dunstigen Spelunken und Wäschedurchflatterten Höfen. Er kann nun heiraten, und seine Hulda gebiert ihm eine Tochter und zwei Söhne. 1907 wird Zille entlassen. Doch da ist er schon kein Unbekannter mehr, seit 1903 Mitglied der Berliner Secession, kann er als freier Zeichner leben. An Feierabend sitzt er gern in der Sophie-Charlotte-Straße mit Freunden am Stammtisch - den Bildhauern August Kraus und August Gaul, mit Käthe Kollwitz und Max Liebermann und der unvergesslichen Claire Waldoff.

    Zilles subversive Schlüpfrigkeit widmet sich mit Vorliebe allerlei Nackedeis am Wannsee, drallen Matronen im Eva-Kostüm. Ein berühmtes Foto zeigt Zille selbst in einem Charlottenburger Freibad in quergestreifter Badehose über der Plautze. - Spricht bang das pubertierende Söhnchen am Müggelsee:

    Mutta, da sollen Aale in's Wasser sein". - "Quatsch nich, Paule, halt die Hand druff'!

    ...versetzt die Mutter verständnisvoll. Zille mag nackte Tatsachen, seine idyllischen Badestudien strahlen die erhabene Zeitlosigkeit von Unsittenbilder aus. Gerade seine erotischen Zeichnungen werden gern vergessen, doch wer Zille nur als bieder strichelnden Milljöh-Opa sieht, verschweigt den proletarischen Pornozeichner. Da tanzen Huren um einen Riesen-Phallus, da nutzt eine nette Näherin den Streik ihrer Zunft zum Liebesakt im Lehnstuhl. Und auf einer "Landpartie" vergnügen sich gleich zwei Paare unterm Federbett.

    1924 wurde er zum Mitglied der Preußischen Akademie der Künste berufen. Und 1928, ein Jahr vor seinem Tod, war er Mitbegründer des Satiremagazins "Eulenspiegel", der "Zeitschrift für Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung". Politik war ihm immer ein Gräuel, doch noch nach seinem Tod wurde er für politische Zwecke ausgeschlachtet. Der Berliner Oberbürgermeister hielt eine staatstragende Rede und die Kommunisten erschienen mit einer Hundertschaft und unzähligen roten Fahnen. Doch vor allem die "normalen" Berliner nahmen Abschied von ihrem Pinsel-Heinrich, Hunderte kamen auf den Stahnsdorfer Friedhof, darunter viele, die ihm als Modell gedient hatten. Kurt Tucholskis Nachruf:

    Zilles Seele ist ganz Berlin: weich, große Schnauze, nach Möglichkeit warme Füße, und: Allens halb so schlimm.

    Heute ruht Heinrich Zille friedlich aus - in der Nachbarschaft von Engelbert Humperdinck, Marlene Dietrich und Rudi Dutschke.