Dienstag, 19. März 2024

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Heinz Strunk: "Das Teemännchen"
Über dicke, doofe, hässliche und frustrierte Helden

Der Mensch als armes Würstchen, dessen Elend auch noch völlig unbemerkt bleibt: In 50 Kurz- und Kürzest-Geschichten entführt Entertainer und Autor Heinz Strunk den Leser ins Riesenreich asozialer Tristesse, wo die Chancenlosen zuhause sind und es eigentlich nichts zu lachen gibt. Man lacht aber trotzdem.

Von Walter van Rossum | 14.12.2018
    Heinz Strunk und sein Roman "Das Teemännchen"
    Heinz Strunk schreibt über die Fußlahmen und Zukurz-Gekommenen (Buchcover Rowohlt Verlag, Autorenportrait Jelina Berzkalns)
    Beginnen wir doch mal einfach mit der Geschichte vom Teemännchen, die dem Buch von Heinz Strunk seinen Titel gibt. Mit Teemännchen ist in seinem Fall kein Teesieb in Männchenform, sondern ein Menschenkind gemeint, das vermutlich schon ohne Temperament auf die Welt gekommen ist. Keine Power. Nirgendwo. Unter der schläfrigen Oberfläche dieses Helden verstecken sich weder Tiefe noch Triebe.

    "Ein Leben, so ruhig wie ein Bild an der Wand oder ein Teich im Wald und von Tag zu Tag immer noch ruhiger. Wenn er alleine ist, überkommt ihn die Angst, in seine Bestandteile zu zerfallen. Die setzt ein, wenn er sich abends schlafen legt. Völlig sinnlos, die Angst, denn sterben müssen wir doch sowieso. Zusammenfassung: Michael, zu früh zum Schlafen, zu dunkel zum Lesen."
    Lebensversager, die keiner sieht und niemand braucht
    Dabei ist nicht mal sicher, ob der Teemännchen-Typ aus Strunks kurzer Geschichte jetzt wirklich Michael heißt. Der Lebenslauf treibt ihn irgendwie vor sich her. Endlos studiert er irgendwas Kulturelles, bis den Eltern der Kragen platzt, ob der Herr nicht mal gedenke, auf eigenen Beinen zu stehen, für seinen Lebensunterhalt aufzukommen usw. Brutal zur Realität gezwungen, kommt ihm die rettende Idee: ein Teeladen. Tee trinkt er ja selbst ganz gerne. Der Rest wird sich finden. Einen kleinen Kredit bekommt er auch, und schon eröffnet das "Aromatica" – ein selten dämlicher Name – und passend dazu ist der Laden von Anfang an ein Rohrkrepierer. Nach ein paar Monaten steckt Michael – oder wie auch immer das Teemännchen heißen mag – auf.
    "Selbst auf der stark reduzierten Ware bleibt er sitzen. Am allerletzten Tag schleppt er die grünen Kästen in seinen Renault Kangoo. Vielleicht hofft er, sie im Verlauf seines verbleibenden Lebens austrinken zu können, wenn er sich ranhält. Ich habe dann nie wieder was von ihm gehört, wahrscheinlich ist er ohne viel Aufhebens auf leisen Sohlen aus der Welt verschwunden."
    Der blonde Schuss vom "Brostelgrilleck"
    So geht das öfters zu in den Geschichten von Heinz Strunk: Figuren lösen sich einfach auf, implodieren leise, kippen beiläufig von der Bühne, auf der sie mehr oder weniger unbemerkt gestanden haben. Z. B. auch die Anja, Superschuss mit dem Zeug zur Miss-Wahl. Da ist sie allerdings nie angetreten, hat stattdessen Marcel geheiratet, was ziemlich schnell schiefging. Und nur mal so zur Überbrückung und bloß vorübergehend nimmt die Blondine eine Stelle im "Borstelgrilleck" an. Und im "Borstelgrilleck" vergeht ihr Leben dann im Zeitraffer. Nach endlosen Jahren darf sie am Schluss im Keller Kartoffeln schneiden und Teller waschen.
    "Das Modell oben/unten hat sich bewährt. Der Chef ist zufrieden, mit allem, mit ihr, die er allerdings schon lange nicht mehr gesehen hat. Außer ihren gummibehandschuhten, verkrüppelten Händen, wenn sie etwas heraufreicht, zusammen mit einer Wolke schwach urinösen Geruchs. – Nur vor ihrer Stimme fürchtet er sich, dem heiseren Flüstern, das da manchmal von unten kommt."
    In einer anderen Geschichte spült ein winzig kleiner Mann sich aus Versehen selbst das Klo runter. Und im Hilton Düsseldorf droht ein gereizter Geschäftsmann von seinem Zimmer verschluckt zu werden.
    Fünzigmal Schwinden und Verschwinden
    Fünfzig Geschichten versammelt das Buch, einige kaum eine halbe Seite lang, andere erstrecken sich über knapp zehn Seiten. Hat man ein, zwei Geschichten gelesen, glaubt man, beim Großmeister des Miseren-Impressionismus gelandet zu sein – kein Blues, sondern Hochämter der Vergeblichkeit. Aber irgendwas stimmt dann doch nicht mit diesen eigentlich todtraurigen Verlierer-Geschichten. Denn manchmal muss man einfach laut lachen, wo es doch eigentlich nichts zu lachen gibt.
    Man weiß zwar, dass Strunk im Satire-Magazin Titanic allmonatlich sein Tagebuch unter dem Titel "Intimschatulle" veröffentlicht – allein das übrigens ein Grund, die Zeitschrift zu abonnieren. Doch eine direkte Belustigungsabsicht ist hier nicht auf Anhieb zu erkennen. Andererseits erstrebt Strunk wohl auch nicht die Goldene Palme für Trauerarbeit, seinen durchweg tristen Helden wünscht man beinahe die Gnade des Verschwindens. Empathie will nicht aufkommen. Manchmal glaubt man, der "Bäckerblume" sei ein Kafka entsprungen. Denn ohne mit der Wimper zu zucken, wechselt Strunk vom abgenudelten Klischee zum rührenden Detail, vom Stammtisch zu feinster Prosa - und gleich wieder zurück.
    Bliebe bloß noch eine Kleinigkeit zu erklären. Wie ist es möglich, dass man nach ein paar Seiten trotzdem beinahe süchtig wird nach diesem Schepper-Sirenengesang? Hofft man insgeheim, am Ende des Gangs durch die Steppen der Nichtigkeit lauere doch noch so etwas wie eine Botschaft? Stattdessen erwarten uns Monster im Schattenreich der Autobahnraststätten:
    Monster an der Raststätte Allertal
    "Das adipöse Pärchen betritt die Raststätte Allertal. Sie sind so dick, dass man ihr Alter nur schwer schätzen kann, irgendwas zwischen Mitte zwanzig und Mitte dreißig. Er besteht praktisch nur noch aus Hals und Rumpf, sie aus Beinen, so dick, als wären sie zusammengewachsen, wie bei einer Meerjungfrau. Selbst für sehr Dicke sind sie über die Maßen formlos, wie Waffeleis, das zu Boden gefallen ist. Cartoongestalten, die in Trickfilmen in die Luft gesprengt werden. Sie wirken eher wie Geschwister als wie ein Paar. Sein Haar kurz und gelb wie der Flaum eines Kükens, ihres schlaff und dünn. Alles, was einem zu ihnen einfällt, stimmt wahrscheinlich: Stotterschritt, Restharn, entzündetes Nierenbecken, Schließmuskellähmung."

    Ich fürchte nur, niemandem würden solche Diagnosewörter beim Anblick der beiden Vollfetten tatsächlich einfallen. Nicht einmal einem Arzt, die Diagnose wäre auch ziemlicher Blödsinn. Das weiß natürlich auch Heinz Strunk. Er gibt sich als Realist, der akribisch "nach der Natur" malt, aber das funktioniert nicht. Das funktioniert nie. Ziemlich ratlos reiht er also bildreiche Vergleiche aneinander und versucht’s am Ende Amateur-medizinisch. Was als Problemfilm beginnt, verwandelt sich in Collage. Strunk erzählt hier nichts Neues über adipöse Menschen, er versucht auch nicht, sie zu verstehen oder zu erklären. Der Erzähler lässt nicht einmal Sympathie erkennen. Doch so, wie er von Ihnen erzählt, wie sie ihm kalkuliert entgleiten, werden sie zu Märchengestalten, zu dunklen Riesen der Autobahnraststätten, unbegreifliche Massive.
    Figuren wie aus einem bösen Märchen
    Märchen sind kurz und einfach, sie schaffen Archetypen: die Guten und die Schlechten, die Unschuldigen und die Fiesen, die Mächtigen und die Reichen, die Liebenden und ihre ewigen Feinde. Deshalb kennt jeder die Märchengestalten seines Breitengrades. So wird es auch mit den Geschichten von Heinz Strunk kommen. Man wird sein Teemännchen nicht vergessen, man wird es überall entdecken. Ebenso wird die einstige Schönheit, die im "Borstellgrilleck" einfach vergeht, bleiben. Auch wir sind nur Hauch vom Hauche. Davon hat man schon gehört. Aber ich kenne keinen, der so wie Strunk davon erzählen kann. Ergreifend, mysteriös, komisch.
    Heinz Strunk: "Das Teemännchen"
    Rowohlt Verlag Hamburg, 208 Seiten, 20 Euro