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Heiteres Denkmal für die Fleetstreet

Michael Frayn gehört zweifelsohne zu den erfolgreichsten britischen Dramatikern. Seine Stücke wie "Kopenhagen" über die Begegnung von Heisenberg und Bohr 1941 oder "Demokratie" über Willy Brandts Sturz wurden weltweit aufgeführt. Für seine Romane wurde er mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet. Doch erst sein letzter Roman "Spionagespiel" verhalf ihm auch in Deutschland als Autor zum Durchbruch.

Von Johannes Kaiser | 16.04.2008
    "Phantasie ist Nachdenken und Nachdenken ist Phantasie. Es gibt verschiedene Formen des Denkens und der Phantasie, aber selbst das strikteste wissenschaftliche Denken erfordert sehr viel Phantasie und wenn man Berichte von Wissenschaftlern darüber liest, wie sie denken, dann erfährt man, dass sie intuitiv hin und her springen. Sie denken sich, das klingt plausibel und dann probieren sie es aus und denken sich Experimente aus, um zu überprüfen, ob ihre Hypothese richtig ist. Aber zuerst einmal machen sie ziemlich dasselbe, was ein Schriftsteller macht: Sie stellen Vermutungen an, etwas scheint ihnen so, wie die Dinge tatsächlich sein könnten und dann müssen sie es ausprobieren. Das ist genau das, was man machen muss, wenn man Romane schreibt."

    Der inzwischen 74-jährige Michael Frayn weiß sehr gut, wovon er redet, hat er doch in seinem langen Schriftstellerleben bereits zahlreiche Bühnenstücke und Romane verfasst. Und seine Phantasien haben die Probe aufs Exempel immer wieder bestanden, denn die Realität stand bei ihnen stets unübersehbar Pate, ob er sich nun in seinem letzten Bühnenwerk "Demokratie" mit Willy Brandts Sturz durch Guillaume beschäftigt hat oder in seinem Roman "Gegen Ende des Morgens" mit der britischen Zeitungslandschaft in den sechziger Jahren. Die deutsche Übersetzung ist erst jetzt 40 später herausgekommen. Die Verhältnisse, die Michael Frayn in seinem Roman beschreibt, gehören denn auch einer grauen Vorzeit an, die wohl längst vergessen wäre, wenn er ihr nicht mit seinem Buch ein heiteres Denkmal gesetzt hätte. So wirkt es jedenfalls heute auf den Leser. Damals Mitte der sechziger Jahre, als der junge Schriftsteller seine Geschichte über drei Zeitungsjournalisten schrieb, war sein Roman eine aktuelle Bestandsaufnahme und er selbst gehörte durchaus noch dazu. Er verdiente sich sein Brot als Kolumnist der Sonntagszeitung "Observer", nachdem er zuvor bei der Tagezeitung "Guardian" erst als Reporter, dann als Kolumnist gearbeitet hatte. So geben seine Beschreibungen des Redaktionsalltags eigentlich nur wieder, was er selbst erlebt hat und seine Figuren beruhen auf realen Vorbildern, wie er auch unumwunden zugibt:

    "Es ist eine fiktive Zeitung, ein bisschen vom "Guardian" und ein bisschen vom "Observer". Aber es stimmt, dass die zentrale Figur Dyson tatsächlich auf einem meiner Kollegen beim Observer basiert. Er war der Redakteur, der meine Beiträge annahm. Ich mochte ihn ziemlich, aber er war schon eine komische Figur, Dyson sehr ähnlich. Er konnte keine Idee für sich behalten, platzte damit immer sofort heraus. Und er wollte stets ein Gentleman sein. Er verkörperte etwas, was viele Journalisten, überhaupt eine Menge Engländer anstrebten: der Wunsch als Gentlemen zu gelten, selbst wenn man es nicht war. Das steckte tief im englischen Charakter drin. Heute ist das verschwunden, selbst Engländer sind darüber hinaus."

    Wer das elektronische Zeitungsgewerbe heute kennt, dem kommt der im Buch beschriebene Zustand anachronistisch vor. Statt in einem Großraumbüro sitzt John Dyson zusammen mit zwei Mitarbeitern in einem kleinen, dunklen, voll gestopften Redaktionsraum. Auf den Schreibtischen stehen noch mechanische Schreibmaschinen. Man redigiert per Hand und einer schreibt seine Artikel sogar noch mit dem Füllfederhalter. Zeitdruck, Redaktionsschlusshektik, Aktualitätszwang sind Fremdworte. Dysons kleine Abteilung kümmert sich um Buntes, das Kreuzworträtsel, die Kolumne "Täglich aufs Land" und ähnliches. Es bleibt genug Zeit, um mittags ausführlich mit den anderen Kollegen aus der Fleetstreet im Pub ein paar Pint zu trinken.

    "Es beschreibt etwas, das verschwunden ist, eine untergegangene Welt und als das Buch vor ein paar Jahren in England wieder veröffentlicht wurde, musste ich eine Einführung schreiben, um zu erklären, was Fleetstreet war. Fleetstreet war zu der Zeit, als ich das Buch schrieb, das Zentrum der Zeitungsindustrie in England. Nahezu jede nationale Zeitung hatte ihre Büros in oder in der Nähe der Fleetstreet und jeder wusste, was Fleetstreet war. Es war das Synonym für die Zeitungsindustrie. Heute ist dort keine einzige nationale Zeitung geblieben. Sie sind alle in die Vororte Londons gezogen und Fleetstreet ist nur noch ein langweilige Londoner Straße."
    Auch wenn sich John Dyson nicht gerade überarbeitet, so ist er doch ein ehrgeiziger Mann und hat die Zeichen der Zeit erkannt. Das Fernsehen ist im Kommen und er würde gerne mitmischen, berühmt und bekannt werden. So lässt er sich als Afrika-Experte für eine Diskussionsrunde im Fernsehen anheuern. Immerhin schreibt er für den Radiodienst der BBC Kommentare über afrikanische Ereignisse, auch wenn er nie vor Ort war und wenig von der Materie versteht.

    Michael Frayns Beschreibung der Diskussionsrunde im Fernsehen ist kabarettreif, eine spöttische und sarkastische Abrechnung mit medialem Expertentum, die bis heute nichts an Gültigkeit verloren hat.

    Während sich Dyson nach Ruhm verzehrt und dabei der Lächerlichkeit preisgibt, ist sein Mitarbeiter Bob Bell der Prototyp eines schwachen, antriebslosen Mannes. Karriere interessiert ihn nicht. Er ist ein Phlegmatiker, zufrieden mit dem, was er hat. Die eindeutigen Angebote seiner Vermieterin, der Frau eines Kollegen, ignoriert er, um Unannehmlichkeiten und Ärger zu vermeiden. Als eine Jugendfreundin auftaucht und sich bei ihm einnistet, lässt er das mit sich geschehen, ohne zu protestieren, rutscht in eine Heirat hinein, ohne sie wirklich zu wollen. Und als er plötzlich die große Chance bekommt, sich zu profilieren, weil John Dyson von einer irrwitzigen PR-Reise, einem von Michael Frayn genussvoll ausgemalten Alptraum, nicht rechtzeitig für einen Fernsehauftritt zurückkehrt, da überlässt er dessen Vertretung seinem gerade in die Redaktion eingetretenen Kollegen Erskine Morris. Und der weiß die Situation gut zu nutzen, so wie er überhaupt sehr genau weiß, was er will:

    "Er ist der kommende Mann, der neue Mann, der den Journalismus in England übernehmen wird. Er ist alles das, was Dyson nicht ist: Er arbeitet sehr hart, ist sehr effizient, sehr ambitiös, sehr skrupellos und hat ein Vision, wie er die Zeitung und den Journalismus ändern will, damit sie die moderne Welt besser widerspiegelt, während es Dyson nur möglichst bequem haben will, so wie es in der Vergangenheit war."

    Erskine Morris ist der alerte, gut gekleidete, gesellschaftlich akzeptierte Karrierist, wie man ihn heute allerorten antreffen kann. Damals verkörperte er die Zukunft des Journalismus, was Michael Frayn nur ahnen, nicht wissen konnte.

    Erstaunlicherweise bleibt die Politik aus seinem Roman völlig ausgespart. Die neue Jugendkultur der Sechziger, die aufkommende Protestbewegung scheinen noch nicht einmal am Horizont auf. Michael Frayn hat sich darauf beschränkt, eine Satire auf die damalige Presselandschaft zu schreiben. Das ist ihm glänzend gelungen. Nicht zuletzt dank seiner Personnage ist sein Roman, damals höchst aktuell, 40 Jahre später ein vergnüglich zu lesender Abgesang auf eine längst vergangene Epoche.

    Michael Frayn: "Gegen Ende des Morgens"
    Übersetzung Miriam Mandelkow
    Dörlemann Verlag, München 2007