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Helen Oyeyemi: "Was du nicht hast, das brauchst du nicht"
Von Geisterfischen und magischen Schlüsselmomenten

Helen Oyeyemi, die britische Autorin mit nigerianischen Wurzeln, bringt nun nach fünf preisgekrönten Romanen einen Band mit Short Stories heraus. Im Zentrum der Geschichten stehen magische Schlüssel: es geht humorvoll zu, phantastisch und detailgenau - auch von siamesischen Kampffischen ist zu lesen.

Von Heidemarie Schumacher | 04.02.2019
    Buchcover: Helen Oyeyemi: "Was du nicht hast, das brauchst du nicht"
    Schlüsselerlebnis: Helen Oyeyemis erster Band mit Shortstories (Buchcover: CulturBooks Verlag, Foto: CulturBooks Verlag/Manchul Kim)
    In den neunziger Jahren entwickelte der französische Soziologe Bruno Latour ein Konzept, das Dingen und unbelebten Gegenständen Handlungspotential zuschrieb.
    In seinem Essay über den Berliner Schlüssel, einem Durchsteckschlüssel für die Benutzer von Hinterhöfen, der sich nachts nur abziehen ließ, wenn der Nutzer die Tür hinter sich schloss, tagsüber nur, wenn er die Tür offen ließ, schlussfolgert Latour, dass Dingen ein Aktionsprogramm eingeschrieben ist, das von uns Menschen bestimmte Handlungen einfordert.

    Soziale Beziehungen finden nicht nur zwischen Menschen sondern auch zwischen Mensch und Dingen statt. Die junge britische Autorin Helen Oyeyemi gießt diese Idee in eine literarische Form. Ihr Erzählband "Was du nicht hast, das brauchst du nicht" versammelt eine Reihe von Short Stories, in denen es leitmotivisch um Schlüssel geht, darum, zu welchen Schlössern sie führen und was hinter dem, was sie öffnen, sichtbar wird. Oyeyemi sagt dazu im Interview:
    "Ich wollte ein Buch über Schlüssel schreiben. Ich hatte mich dazu entschlossen, Schlüssel in den Mittelpunkt zu stellen und etwas darüber zu schreiben, was sie für unser Leben bedeuten. D.h. im weiteren Sinne was Objekte, mit denen wir leben, über uns wissen, weil sie Zeugen unseres alltäglichen Denkens, unserer Träume und Hoffnungen, unseres Innenlebens sind. Also wollte ich herauskriegen, wie Schlüssel sich Zugang zu unserem Bewusstsein und unserem Charakter verschaffen."
    Ein Kampffisch im grünen Nebel
    Bei Helen Oyeyemi sind die Schlüsselerlebnisse in einen die einzelnen Geschichten übergreifenden Kontext eingebettet. Hauptfiguren aus der einen Geschichte tauchen in anderen Erzählungen als Nebenfiguren wieder auf. Im Stil des magischen Realismus wird zwar erzählt, geisterhafte Erscheinungen können jedoch auch im Kontext psychischer Erkrankung gelesen werden. In der Geschichte "Sorry versüsst ihr nicht den Tee" soll der Erzähler für einen Freund dessen Haustier, einen siamesischen Kampffisch, versorgen. Der Kampffisch versteckt sich in einem grünen Nebel und das Haus des Freundes ist ebenso unheimlich:
    "Eigentlich ist mir dort nie etwas zugestoßen. Jedenfalls noch nicht. Aber immer wenn ich dieses beschissene Haus betrete, besteht die Gefahr, verrückt herauszukommen. Wegen der Türen. Sie lassen sich nicht schließen, es sei denn man schließt sie ab. Sobald man das getan hat, hört man dahinter Geräusche. Geräusche, die einen denken lassen, dass man jemanden eingeschlossen hat. Aber wenn man diese Türen unverschlossen lässt, gehen sie bis zur Hälfte von selbst auf, so weit, dass man gerade nicht ganz ins nächste Zimmer sehen kann, und es ist, als würde jemand hinter der Tür stehen und sie mit Absicht halb geöffnet halten."
    Im weiteren Verlauf der Geschichte stellt die Autorin interessante Parallelen zwischen dem allesfressenden Kampffisch und einem narzisstischen Popstar her.
    Die Geschichte eines unentschiedenen jungen Mannes, dessen Freundin einen Kurzfilm mit dem Titel 'Tödliches Beige' gedreht hat, Titel: 'Freddy Barandov checkt ein', oder die Rotkäppchen-Variante 'Dornicka und die Martinsgans' entfalten den Charme, der schon Oyeyemis Romane prägte: Die Lust am Phantastischen, den Witz der Autorin und ihre genaue Beobachtung.
    Männerbündnisse und Frauenzimmer
    Die beiden Puppenspieler-Geschichten mit dem Titel 'Ist dein Blut auch so rot? Ja / Ist dein Blut auch so rot / Nein' wirken dagegen so, als sollten alle nur möglichen Erzählkonventionen exemplarisch gebrochen werden: Figuren wechseln Namen und Geschlecht, werden zu Dingen, Dinge zu Personen. Hier wird durch ein Übermaß an unzuverlässiger Konstruktion der Lesefluss arg strapaziert.
    Die College-Geschichte 'Eine kurze Geschichte der Gesellschaft hässlicher Frauenzimmer' wiederum wird überwiegend konventionell erzählt. Im Geist Virginia Woolfs geschrieben, die einst in 'A room of one´s own' den Geschlechterunterschied aufzeigte, indem sie ein reiches College für männliche Studenten und ein ärmliches, karg ausgestattetes für Frauen beschrieb: Die Bettencourt-Gesellschaft, eine studentische Verbindung in Cambridge, ist ausschließlich männlichen Mitgliedern vorbehalten.
    Bigarrure
    Frauen werden nur zu festlichen Anlässen zugelassen und auch nur, wenn sie besonders hübsch sind. Zum Zweck der Aussonderung erstellen Mitglieder der Verbindung eine Liste der hässlichsten Studentinnen von Cambridge. Einige der eingeladenen Frauen tuen sich mit denen zusammen, die auf der Liste stehen und gründen die "Gesellschaft hässlicher Frauenzimmer". Die Studentin Dayang will der Gesellschaft unbedingt beitreten. Man rät der Aspirantin in einer E-Mail, sich sorgfältig vorzubereiten. Helen Oyeyemi:
    "Deine Antwort ist ein Schlüssel, der Welten aufschließen wird, deshalb antworte so vollständig und bigarrure wie möglich." Dayang Sharif (2. Jahr Englisch, Queens College) brauchte ein paar Tage, um sich eine bigarrure Antwort zu überlegen. Sie schlug das Wort bigarrure nach und fand heraus, dass es sowohl 'ein Gemisch aus allerlei Farben, die ineinanderfliessen' als auch 'eine Abhandlung, die seltsam und abenteuerlich von einem Thema zum nächsten verläuft' bedeuten konnte."
    Oyeyemis Erzähungen selbst folgen diesem Prinzip, sie sind très bigarrure.
    Identität als offenes Konzept
    Im Subtext der Geschichten finden sich klare Botschaften: - Identität ist ein umfassend offenes Konzept, - Gewalt gegen Frauen rächt sich, - Sexismus scheitert, wenn Frauen solidarisch sind, - wünschenswert ist ein Miteinander der Geschlechter.
    Hervorzuheben an dem Band ist auch die ausgezeichnete Übersetzung von Zoe Beck, die gleichzeitig Verlegerin von Culturbooks ist. Besonders gelungen ist ihre Übersetzung des Buchtitels "What is not yours, is not yours". Mit der Überführung ins Deutsche zu: "Was du nicht hast, das brauchst du nicht" wird Ausgrenzung eine Absage erteilt und dazu aufgefordert, auf der eigenen Identität zu beharren. Sei es in Genderfragen, in ethnischer Hinsicht oder in Fragen der sexuellen Orientierung, und er lässt sich im Sinne eines: Was du nicht bist, musst du nicht sein lesen.
    Helen Oyeyemi spielt mit Orten, Zeiten, Genderzuschreibungen und mit der Herkunft ihrer Figuren. Das Motto, das dem Band vorangestellt ist, lautet: "Öffne mich vorsichtig" (ein Satz, den die Lyrikerin Emily Dickinson einst auf einen Briefumschlag schrieb). Bei vorsichtiger Annäherung an ihre Texte öffnet uns Helen Oyeyemi den Blick für eine Vielfalt literarischer Möglichkeiten und gibt darüber hinaus wichtige Denkanstöße.
    Helen Oyeyemi: "Was du nicht hast, das brauchst du nicht"
    aus dem Englischen von Zoë Beck
    Culturbooks Verlag, Hamburg, 288 Seiten, 20 Euro.