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Helfen als Form der Flucht

Alix Ohlins Roman "Inside" erschien 2012. Unter dem Titel "In einer anderen Haut" liegt er nun im Deutschen vor. Die Kanadierin erzählt darin die Lebenswege von vier Personen über drei Kontinente hinweg und einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren nach.

Von Claudia Kramatschek | 10.07.2013
    "Auf den ersten Blick verwechselte sie ihn mit irgendetwas. Im winterlichen Dämmerlicht hätte er auch ein Ast oder ein Holzscheit, ja, selbst ein Reifen sein können. In all den Jahren, die sie nun auf dem Mount Royal langlaufen ging, hatten schon ganz andere Dinge ihren Weg gekreuzt. Die Leute verloren ihre Schals, ihre Schuhe, ihre Hemmungen: Sie war auf Menschen gestoßen, die unter freiem Himmel miteinander schliefen, selbst bei bitterster Kälte."

    Der Mann aber, mit dem die 35-jährige Kanadierin Grace an diesem Wintertag im Januar 1996 während ihres Skiausflugs im Umland von Montreal fast zusammenstößt, hat versucht, sich zu erhängen. Grace, von Beruf Therapeutin, tut, was sie tun muss: Sie ruft die Polizei, begleitet den Mann erst ins Krankenhaus, dann nach Hause – und muss kurze Zeit später feststellen, dass sie sich verliebt hat. Mit dieser Szene eröffnet Alix Ohlins Roman "In einer anderen Haut", der die Lebenswege von vier Personen über drei Kontinente hinweg und einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren nacherzählt: Da sind Grace und der Selbstmordkandidat Tug, die ein Paar werden; da ist Mitch, der Ex-Ehemann von Grace, wie sie ein Therapeut – und Annie, eine junge und von quälendem Selbsthass geplagte Klientin von Grace.

    "Grace ist der Dreh- und Angelpunkt des Romans. Alles, was passiert, kreist um sie herum; alle weiteren Figuren sind definiert durch die Beziehung zu ihr im Verlauf dieser zehn Jahre. Zugleich ist Grace’ Identität bestimmt vom Willen, anderen zu helfen. Anderen zu helfen aber – und das möchte ich in diesem Buch zeigen – kann manchmal sehr nutzbringend sein. Und manchmal sehr gefährlich. "

    Tatsächlich wird sich am Ende des Romans erweisen, dass Helfen auch eine Form der Flucht sein kann – oder eine Form, Macht über andere auszuüben und die eigene Machtlosigkeit zu kompensieren. Und dass jene, die schwach wirken, ihre eigene Stärke haben. Grace’ Liebe etwa wird Tug letztlich nicht davon abhalten, seinem Leben wie gewollt ein Ende zu setzen – sie selbst wird viele Jahre später nach einem Autounfall auf die Hilfe ihres Ex-Ehemannes angewiesen sein. Der hat wiederum die Frau verlassen, die er eigentlich liebt – vorgeblich wegen einer beruflichen Verpflichtung, in Wirklichkeit aber flieht er vor ihrem autistischen Sohn. Annie wiederum wird mit Anfang 20 aus ihrem überbehüteten Elternhaus nach New York gehen und sich dort nicht zuletzt unter Einsatz ihres Körpers eine Karriere als Schauspielerin erkämpfen; erst spät erfahren wir, dass sie als junges Mädchen vergewaltigt worden ist. Solche emotionalen Kippmomente im Inneren der einzelnen Figuren wie auch zwischen den Figuren sind tatsächlich das Wasserzeichen dieses Romans – programmatisch darf daher schon sein erster Satz verstanden werden, der so unscheinbar wirkt: "Auf den ersten Blick verwechselte sie ihn mit irgendetwas."

    "Lange Zeit war dies der einzige Satz, mit dem ich wirklich glücklich war, als ich den Roman schrieb. Denn er formuliert die Essenz meines Buches. Ein Großteil des Unglücks, das ich beschreibe, resultiert schließlich daraus, dass man die Anderen nicht so nehmen kann, wie sie sind. In meinen Augen aber gehört es zu einer wirklichen Liebesbeziehung, den Anderen mit all seinen Fehlern zu akzeptieren. Und genau diese Reise unternehmen alle meine Figuren: zu lernen, den Anderen so zu sehen, wie er ist – und nicht, wie man ihn sehen will."

    Grace’ unbedingter Wille, die Welt als eine heile Welt sehen zu führt beispielsweise dazu, dass sie die offenen Fragen zwischen ihr und dem schweigsamen Tug viel zu lange ignoriert. Ihre Ehe mit Mitch wiederum zerbrach, weil Mitch von dem Moment an nicht mehr mit ihr schlafen konnte, in dem sie so erfolgreich war wie er – und nicht mehr die junge Studentin, die ihn einst bewundert hatte.

    "Nie sprachen sie über Sex, obwohl sie kaum noch miteinander schliefen. Nie sprachen sie über Probleme, weder ihre eigenen noch die anderer Leute. In anderen Worten, sie machten genau das, was professioneller Meinung nach durch und durch falsch war."

    Auch Ohlin arbeitet bewusst mit Leerstellen: Der Roman springt nicht nur zwischen den einzelnen Figuren, sondern auch in der Zeit hin und her – lange Strecken im Leben ihrer Protagonisten bleiben komplett im Dunkeln.

    "Ich mag Leerstellen, Aussparungen, die Anmutung von etwas Abwesendem in der Literatur. In meinen Augen ist jeder Roman eine Art Detektivgeschichte, auch wenn darin kein Detektiv oder kein Toter vorkommt. Denn letztlich geht es immer darum, das Rätsel zu lösen, wer die Menschen darin sind, was ihre Geschichte ist. Deshalb arbeite ich gern mit solchen Zeitsprüngen, da sie einem Roman genau diese Art von Geheimnis verleihen."

    Hier der Wunsch, sich mit Menschen verbinden zu wollen – aus welch ambivalenten Gründen auch immer; dort die Unmöglichkeit, in die Haut eines anderen zu gelangen: Auf dieses für den Roman grundlegende Widerspiel verweist der amerikanische Titel des Romans "Inside", also "Innen", nochmals deutlicher:

    "Es ist sehr schwer, zu verstehen, was der andere fühlt oder denkt. Und trotzdem tun wir genau das, wann immer wir Beziehungen haben. Der Titel hat aber noch eine andere Bedeutung – denn das Buch handelt ja von Menschen, die von Berufs wegen auch mit anderen Kulturen in Verbindung treten. In die Haut eines anderen zu schlüpfen, hat deshalb auch einen politischen Beiklang."

    Tatsächlich führen zwei der Lebenswege auf politisch brisantes Terrain: Mitch wird als Therapeut bei den Inuit in der Arktis arbeiten – und kläglich scheitern. Tug wurde einst als Helfer einer westlichen NGO zum Zeugen des grausamen Genozids in Ruanda – und sah Bilder, die ihm das Weiterleben letztlich unmöglich machen. Ohlin bettet beide Episoden lediglich als Nebenschauplätze ein. Das mutet angesichts der Gewichtigkeit beider Stoffe erzählökonomisch riskant an – auch, wenn Ohlin im Spiegel beider Binnenerzählungen die ambivalente Natur des Helfens auf einer sowohl nationalen wie internationalen Ebene reflektiert sehen möchte:

    "Für mich als Kanadierin ist die Rolle, die Kanada in Ruanda während des Genozids spielte oder eben nicht spielte, ein gewichtiger Teil unserer Geschichte. Als ich den Roman schrieb, las ich die Erinnerungen von General Dallaire, der seinerzeit in Ruanda Kommandeur der UN-Friedenstruppe war. Ich war erschüttert vom Ausmaß des Leids, das wir aus der Ersten Welt verursacht haben, weil wir nicht stärker intervenierten. Ebenso zentral für die Frage, wer oder was ist Kanada, ist für mich unser Umgang mit den Inuit. Noch immer empfinden wir ihnen gegenüber viel Scham und Schuld – auch wenn dieses Thema nicht mehr, wie noch in meiner Kindheit, totgeschwiegen wird, sondern inzwischen viel darüber debattiert wird, dass die Probleme, die sie haben – Armut, Alkoholismus etc. – in der Misshandlung wurzeln, die sie seitens des kanadischen Volkes erfahren haben."

    Stellenweise beschleicht einen daher das Gefühl, dass Ohlin in manchen Momenten zu viel auf einmal will. Aufgewogen wird dieses Fragezeichen durch einen ansonsten makellos strukturierten Roman, der sein Thema in vielfachen motivischen Spiegelungen und Resonanzen gekonnt orchestriert; der psychologisch dicht gewoben ist und doch jedes Pathos durch bewusste sprachliche Brüche vermeidet.

    Alix Ohlin: In einer anderen Haut. Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Sky Nonhoff. C. H. Beck Verlag 2013, 350 Seiten, 19,95 Euro.