Dienstag, 16. April 2024

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Helmut Krausser: "Trennungen, Verbrennungen"
Rondell der Eitelkeiten

Vom Professor in der Wannsee-Villa über seine studentischen Hilfskräften bis zum serbischen Tellerwäscher: Helmut Krausser erzählt sich quer durch die heutige Berliner Gesellschaft. Mit bissigem, doch stets augenzwinkerndem Blick treibt er dabei die Debatten unserer Gegenwart auf die Spitze.

Von Shirin Sojitrawalla | 16.04.2019
Porträtfoto des Schriftstellers Helmut Krausser
Der Schriftsteller, Drehbuchautor und Komponist Helmut Krausser (imago)
Auf Facebook verkündete Helmut Krausser kürzlich, dass der Titel seines neuen Romans auch eine kleine Hommage an Theodor Fontane im Fontanejahr sei. Um Irrungen und Wirrungen und Liebesnöte in unterschiedlichen sozialen Milieus geht es schließlich auch in "Trennungen, Verbrennungen". Zehn Jahre nach seinem grandiosen Episodenroman "Einsamkeit und Sex und Mitleid" schaut Krausser wiederum einem bunten Personenkarussell beim Durchdrehen zu. Handlungsort ist abermals Berlin, diesmal im Jahr 2017, und erneut geht es quer durch alle Schichten: Von der Professorenvilla am Wannsee führt der Weg zu den studentischen Hilfskräften an der Universität bis hinab zum serbischen Tellerwäscher. Ein Panoptikum der deutschen Hauptstadt und ein Gesellschaftsroman, der die Debatten unserer Gegenwart auf die satirische Spitze treibt. Etwa wenn der 60 Jahre alte Archäologieprofessor Frederick Reitlinger mit seiner 19 Jahre alten Tochter in Fragen der Sprachsensibilität aneinander gerät.
"'Warum redest Du immer von Flüchtlingen?' hatte sie ihn angefaucht. 'Das ist eine linguistische Herabsetzung. Man sagt jetzt Geflüchtete. 'Ach, sagt man das? Dann will ich Dir sagen, daß das maskuline Suffix -ling tatsächlich manchmal einen pejorativen Beiklang besitzt, aber nicht grundsätzlich, die Wörter Häuptling, Säugling, Frühling und Liebling sind ein paar Gegenbeispiele. Aber warum soll man einem Flüchtling, der sehr wahrscheinlich klein ist im Sinne von macht- und mittellos und auf Hilfe angewiesen, warum soll man ausgerechnet dem die Silbe -ling wegnehmen und seine Realität pink pinseln? Damit er sich prompt besser fühlt, kräftiger, stärker, würdevoller? Bei einem geflohenen Diktator, der sich mit viel Geld ins Ausland abgesetzt hat, würde ich auch nicht von einem Flüchtling sprechen.'"
Digitale Wahlverwandtschaften
Es mag sein, das Helmut Krausser die nervige Professorentochter nur erfunden hat, um ihr all die moralischen Korrektheiten, die durch gegenwärtige Diskurse schwirren, in den Mund zu stopfen, doch selbst wenn sie als Figur sehr holzschnittartig daherkommt, ihrem Vater bietet sie immer wieder hinreißende Steilvorlagen. Zum Glück hat Reitlinger auch noch einen Sohn, der sich den väterlichen Bevormundungen auf andere Weise widersetzt und eine Ehefrau, die mit dem Einverständnis ihres Mannes eine Affäre mit einem in der Nachbarschaft lebenden Hotelmanager pflegt. Eine pragmatische Vereinbarung, von der nur leider die Ehefrau des Nachbarn nichts weiß, was Krausser die Gelegenheit gibt, die schöne neue Technik in Form handelsüblicher Smartphones als detektivisches Hilfsmittel im Eifersuchtskampf boulevardesk einzusetzen. Wie es ihm überhaupt gelingt, seine Wahlverwandtschaften ins digitale Zeitalter zu überführen: Seitensprünge über die Dating-App Tinder, Sex gegen Geld im Netz anleiern und jedermann ist jederzeit erreichbar, wenn auch nicht zur Stelle. Nicht einmal zwei Wochen nimmt die erzählte Zeit dieses leichtfüßigen Romans, der nicht nur Gesellschaftsroman, sondern auch Berlin-Roman ist, in Anspruch. Wie so oft bei Krausser scheint einer Verfilmung nichts im Wege zu stehen: klar umrissene Typen, filmische Erzählweise und leinwandtauglich arrangierte Konflikte.
Sarkastisch über Selbstgerechtigkeit
Zu den Erwähnten kommen noch die beiden Studenten Gerd und Leopold und ihre Freundinnen, junge Leute in bizarren Beziehungen, denen das Geld und sonstige Oberflächenreize den Weg weisen. Zudem tauchen ein Callgirl und ihr Freund in wechselnden Rollen auf. Insgesamt ist es eine extrem unterschiedliche Personage, alt und jung, reich und arm, schlau und blöd. Der allwissende und allwitzige Erzähler kriecht in ihre Köpfe und berichtet, was da so vor sich geht. In kurzen Kapiteln schubst Krausser sein Rondell der Eitelkeiten an. Schlaglichtartig nimmt er seine Figuren abwechselnd in den Fokus, begleitet ihre kruden Gedanken und ihre grundlegende Selbstgerechtigkeit nicht selten mit herzerwärmendem Sarkasmus. So denkt etwa der Professor Frederick Reitlinger, genannt Fred, angesichts eines drohenden Treffens mit seinem Sohn Ansgar:
"Fred verspürte auch keine Lust, sich immer wieder den gleichen Sermon anzuhören, der im übrigen nicht einmal Sinn ergab, denn er hatte seinen Sohn keineswegs, wie dieser behauptete, großbürgerlich erzogen, was immer Ansgar damit zum Ausdruck bringen wollte. Machte er ihm zum Vorwurf, daß er eine behütete Kindheit gehabt hatte und Latein als erste Fremdsprache? Hatte ihn eine humanistische Erziehung lebensuntüchtig gemacht für die neoliberale Welt? Oder was? Der Junge war nie zu etwas gezwungen worden. Nie. Vielleicht zu ein paar Klavierstunden, das schon. Keines seiner Talente war unterdrückt worden. Im Gegenteil, wäre da irgendeines vorhanden gewesen, man hätte es gefördert, gedüngt und gewässert wie einen grünen Halm in schwarz verbrannter Erde."
Böse, mitleidlos und doch herzerwärmend
Ob man angesichts solcher Überlegungen von einer Satire oder von Realismus reden möchte, hängt von der eigenen Lebenswirklichkeit ab. Sicher ist, dass Kraussers Figuren allesamt übergeschnappt und doch kein bisschen aus der Luft gegriffen sind. Dezent passt der Erzähler seinen Sprachduktus der jeweiligen Figur an, erzählt aber immer aus der Distanz der dritten Person Singular. Schnell wechseln die Perspektiven, alle sind mit allen verbandelt, wobei Krausser geschickt unterschiedliche Wirklichkeiten ineinander verhakt. Der Blick seines Erzählers bleibt mitleidlos, kühl, mit einem feinen Grinsen um den spöttischen Mund. Frech schaut er unserer Gegenwart ins ungewaschene Gesicht.
Doch wie schon in "Einsamkeit und Sex und Mitleid" ist die Angst das Gefühl, das die unterschiedlichen Lebensläufe bindet: die Angst vorm gesellschaftlichen Abstieg, die Angst vor den Fremden und vor neuen Erfahrungen.
Erloschene Leidenschaften durchschnittlicher Hauptstädter
In klaren, schnörkellosen Sätzen beschreibt der Erzähler, was er sieht, wenn er seinen Protagonisten beim Leben zuschaut. Während die Jüngeren mit ihren sexuellen und gesellschaftlichen Ambitionen hadern, scheinen die plötzlich Alt gewordenen ihre großen Leidenschaften erfolgreich hinter sich gebracht zu haben:
"Margret und Arnie tranken ein Glas Rotwein zusammen, nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatten. Margret dachte darüber nach, ob sie ihrem Mann vorschlagen sollte, wieder einmal Sex zu haben. Er sollte nicht denken, daß sie Lust dazu hatte, dann würde er sich verpflichtet fühlen. Er sollte aber auch nicht denken, daß sie keine Lust hatte und es nur vorschlug, um ihm einen Gefallen zu tun. Am liebsten wäre ihr gewesen, Arnie hätte von sich aus ein dezentes Signal der Begierde ausgesendet. Nichts explizit Verbales, ein Kuß aufs Ohr zum Beispiel, ein Griff um die Hüfte. Kurioserweise dachte Arnold zur selben Zeit etwas ganz Ähnliches, nämlich ob es nicht wieder einmal soweit wäre, körperliche Lust vorzutäuschen, damit Margret nicht mißtrauisch wurde."
Den Herrlich- und Trostlosigkeiten des Liebeslebens spürt Krausser auch diesmal genau nach, augenzwinkernd, aber auch bissig und mit scharfem Blick für die Details. Sein neuer Roman gleicht einer gesellschaftlichen Bestandsaufnahme. An den Neurosen und Befindlichkeitsstörungen über-, unter- und durchschnittlicher Hauptstädter liest er den kulturellen Entwicklungsstand des Landes ab. Im Grunde genommen gar nicht so lustig, hier aber gottlob immer wieder zum Totlachen.
Helmut Krausser: "Trennungen, Verbrennungen"
Berlin Verlag, Berlin, 198 Seiten, 22 Euro