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Helmut Schmidt
"Das Vermächtnis eines großen Deutschen"

Brauchen wir heute noch Vorbilder? Mit dieser Frage hat sich Helmut Schmidt in seinem neuen Buch "Was ich noch sagen wollte" auseinandergesetzt. Er erzählt dabei von Menschen, die ihn geprägt und inspiriert haben. Dadurch sei es ein sehr persönliches Buch geworden, wie es in der Vorrede heißt.

Von Rainer Burchardt | 11.05.2015
    Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt bei einem Empfang in Berlin, anlässlich seines 95. Geburtstages 2013.
    Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt bei einem Empfang in Berlin, anlässlich seines 95. Geburtstages 2013. (picture alliance / dpa / Maurizio Gambarini)
    "Bei der Lektüre der ‚Selbstbetrachtungen' des Mark Aurel hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass dieses Buch ein für mein weiteres Leben richtungweisendes Buch werden würde. Meine unmittelbare Empfindung war: So will ich auch werden."
    Welch ein hehres Ansinnen. Doch selbst die Lektüre dieses Buches verrät: Auch beim besten Willen ist es dem ehemaligen Kanzler nicht wirklich gelungen, dem römischen Kaiser Mark Aurel nachzueifern.
    Zur Konfirmation hatte der jugendliche Helmut Schmidt von einem Onkel die "Selbstbetrachtungen" des Marcus Aurelius geschenkt bekommen und war besonders fasziniert von der Abhandlung über die "Kunst der inneren Gelassenheit". Doch: Nicht zu Unrecht hat sich der kesse Politiker aus Hamburg im Laufe seines Lebens den Beinamen "Schmidt-Schnauze" erworben, eben weil er in heftigen Debatten und engagierten Diskussionen selten ein Blatt vor den Mund nahm. Da war wenig von innerer Gelassenheit zu spüren.
    Doch Mark Aurel ist nur eines seiner Vorbilder, die Schmidt in seinem jüngsten Buch erwähnt. Es beschreibt auch nur einen Teil der Vita eines der wichtigsten, aber auch umstrittensten Staatsmänner der deutschen Nachkriegszeit. Gerade während seiner Regierungszeit von 1974 bis 1982 erarbeitete er sich den Ruf eines ökonomischen Staatenlenkers, weltweit respektiert und bewundert.
    In Deutschland indessen geriet er wegen seiner Politik pro Kernkraft und der Befürwortung des NATO-Doppelbeschlusses zur Nachrüstung vor allem bei der Jugend und letztlich auch in der eigenen Partei immer mehr in die Kritik. Helmut Schmidt ließ sich jedoch nicht beirren und setzte als erklärter "Atlantiker" auf eine enge Kooperation mit den USA.
    "Unter den vier amerikanischen Präsidenten, mit denen ich in meiner Zeit als Bundeskanzler zu tun hatte - Nixon, Ford, Carter und Reagan - war Gerald Ford derjenige, der mir durch seine persönliche und politische Zuverlässigkeit am nächsten stand. Für die Europäer war Ford ein Glücksfall. Mit seiner Entscheidung, den KSZE-Prozess aktiv zu begleiten, hat er 1975 maßgeblich dazu beigetragen, den Ost-West-Konflikt zu entschärfen."
    Gefährlicher Rückfall in die Ost-West-Konfrontation
    Umso enttäuschter ist Schmidt über die aktuelle Entwicklung der Ost-West-Beziehungen. Und er lässt – wenn auch nur zwischen den Zeilen – anklingen, dass er der jetzigen Administration in Washington mehr Weitsicht und Gelassenheit à la Mark Aurel gewünscht hätte.
    "Tatsächlich ist der Friede der Welt im Jahre 2015 von einem gefährlichen Rückfall in die überwunden geglaubte Ost-West-Konfrontation bedroht. Mein Vertrauen in die Kontinuität und Zuverlässigkeit der amerikanischen Eliten ist im 21. Jahrhundert deutlich geringer, als es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewesen ist."
    Doch auch die Europäer bekommen ihr Fett weg. Für Schmidt ist die gegenwärtige EU-Politik außer Rand und Band geraten. Und so kritisiert er - völlig zu Recht - die auch von den Vereinigten Staaten mitbetriebene aggressive EU-Osterweiterung. Hier vermisst er das nötige politische Fingerspitzengefühl der Brüsseler Akteure, die, anstatt auf die Empfindlichkeiten Moskaus Rücksicht zu nehmen und die Russen einzubinden, sie ausgeschlossen haben.
    "Ich war nie ein europäischer Idealist. Die europäische Integration ist für mich kein politisches Ziel um seiner selbst willen. Schon gar nicht erstrebenswert scheint mir die ungehemmte Ausdehnung der EU in alle Himmelsrichtungen, im Gegenteil. Manches deutet darauf hin, dass sich die EU seit dem Maastrichter Vertrag von 1992 in einem geradezu größenwahnsinnigen Expansionsdrang übernommen hat - bei gleichzeitiger Vernachlässigung dringend notwendiger Reformen ihrer Institutionen."
    Welche Reform er damit meint, das lässt Schmidt allerdings eher im Ungefähren. Ebenso wenig erläutert er seine Vorstellungen, was denn genau anstatt der zugegeben schlecht gemanagten expansiven Osterweiterung die Alternative gewesen wäre. Den Polen oder den baltischen Staaten zu sagen, "ihr gehört noch nicht dazu", das kann es jawohl nicht sein.
    Auf Distanz zum Christentum
    Stattdessen fehlt natürlich keine Würdigung der in Schmidts Augen echten europäischen Patrioten, wie Charles de Gaulle, Jean Monet und Valerie Giscard d'Estaing. Mit Letzterem verbinde ihn bis heute eine enge persönliche Freundschaft. Allesamt Politiker, die, wie Schmidt meint, die nötige Grundlage für die europäisch-westliche Wertegemeinschaft geschaffen haben.
    Auch wenn die Terroraktionen in Europa und im arabischen Raum im Namen angeblich göttlicher Aufträge keine nennenswerte Erwähnung finden, so relativiert Schmidt mit deutlichen Worten seine Haltung zum Christentum.
    "Durch meine Ende der siebziger Jahre begonnene Beschäftigung mit den Weltreligionen sind mir die Grenzen des Christentums deutlich geworden. Der Vergleich mit anderen Religionen und Philosophien hat dazu geführt, dass ich dem Christentum heute sehr distanziert gegenüberstehe."
    Da verortet Schmidt sich eher in der Nähe von Staatsmännern und Philosophen wie Deng Xiaoping, Immanuel Kant, Max Weber und Karl Popper. Besonders beeindruckt hat ihn Deng, der Ende des letzten Jahrtausends den Umbruch in China auf den Weg brachte. Doch auch der kategorische Imperativ Kants, Webers Verantwortungsethik und die Gesellschaftslehren Poppers haben Schmidt gewissermaßen "vorbildlich" geleitet, erklärt er.
    Mit diesem Buch, so schreibt der Verlag, habe Schmidt "das politische Vermächtnis eines großen Deutschen" abgeliefert. Tatsächlich ist es eine beeindruckende Bilanz des großen, alten Mannes, der als deutscher Staatenlenker des vergangenen Jahrhunderts Beispielhaftes geleistet hat und bis auf den heutigen Tag, im Alter von 96 Jahren, noch immer, wenn auch bisweilen nervend und rechthaberisch, dabei offenbar fern von "innerer Gelassenheit", sich in die Tagespolitik einmischt.
    "Der Mut, eine mir wichtige Sache mit Leidenschaft und Augenmaß durchzusetzen, hat mir im Laufe meines politischen Lebens oft genug Kraft gegeben; er wird mich hoffentlich auch auf dem letzten Stück meines Weges nicht verlassen. Die Weisheit sollte darin bestehen, auf diesem letzten Lebensweg Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden."
    Helmut Schmidt: "Was ich noch sagen wollte"
    C. H. Beck Verlag, 239 Seiten, 18,95 EUR.