Freitag, 19. April 2024

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Hengsbach: "Die Agenda 2010 ist in meinen Augen gar keine Reform"

Gerd Breker: Von allen Seiten prasselt es auf uns ein: Reformen seien notwendig, Reformen müssen im Zeitalter der Globalisierung sein. Wir hätten über unsere Verhältnisse gelebt, die Sozialsysteme seien nicht mehr bezahlbar. Der Ökonom als Kandidat der Opposition für das Amt des Bundespräsidenten stimmt ein in diesen Chor. Die Agenda 2010 sei der Schritt in die richtige Richtung, aber noch nicht ausreichend. Die Union selber legte gestern nach und forderte drastische Einschnitte in das Tarif- und Arbeitsrecht. Das wurde zwar abgeschwächt, aber die Reformdiskussion in diesem Lande bleibt uns und dem Land erhalten. Am Telefon begrüße ich nun Pater Friedhelm Hengsbach, er leitet das Nell-Breuning-Institut an der katholischen Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. Guten Tag, Herr Hengsbach.

08.03.2004
    Pater Friedhelm Hengsbach: Guten Tag, Herr Breker, ich grüße Sie.

    Breker: Der Begriff Reform hatte ja einmal einen positiven Beigeschmack. Nun, so scheint es, ist der Begriff zu einem Synonym für Sozialabbau degeneriert?

    Hengsbach: Ja, also, ich verstehe unter Reform etwas, dass sich die Lebenslage, zumindest der Mehrheit oder der gesamten Bevölkerung, verbessert. Ich könnte sogar aus einer sozial-ethischen Perspektive sagen, Reformen sollen diejenigen treffen, denen es schlecht geht, die benachteiligt sind und deren Situation sollte sich eigentlich durch eine Reform verbessern. Das geschieht nicht, also die Agenda 2010 ist in meinen Augen gar keine Reform. Es ist ja auch nur ein Spektakel, auch jetzt, was da jetzt angekündigt wird, es lebt von der Ankündigung, es sind heiße Versprechen, die aber schon jetzt im internen Parteienstreit wahrscheinlich auch wieder abgeflacht werden und insgesamt dann also auch vom Tisch kommen.

    Breker: Nun sagt der Kandidat Horst Köhler, die Richtung der Agenda 2010 stimme, sie sei allerdings noch nicht weitreichend genug. Da müssen Sie als Sozialethiker widersprechen?

    Hengsbach: Ja, ich wundere mich über diese Aussage, weil Herr Köhler bekannt ist, dass er den internationalen Währungsfond auf einen Reformkurs gebracht hat insofern, dass er bei seinen Anpassungsmaßnahmen, die er von den verschuldeten Entwicklungsländern verlangt, berücksichtigt, dass Gesundheitsausgaben, Bildungsausgaben und auch die sozialen Ausgaben für die ärmeren Teile der Bevölkerung nicht in dieses Kürzungspaket hineingepackt werden. Also, insofern habe ich gedacht, der Herr Köhler ist lernfähig, wie der internationalen Währungsfond lernfähig geworden ist. Aber für Deutschland schlägt er etwas vor, was gleichsam, würde ich sagen, selbst vom internationalen Währungsfond bereits auf den Müll gekippt worden ist, dass man Sozialpolitik als Hebel gebrauchen kann, um Wachstum und Beschäftigung in Gang zu setzen.

    Breker: Lernfähig hat sich auch die Sozialdemokratie in diesem Lande nach der Hamburg-Wahl gezeigt, allerdings nicht in der Sache, sondern in der Methode. Nach der Hamburg-Wahl, nach diesem Desaster für die SPD will sie den Bürger mitnehmen. Warum ist das so schwer, die Menschen auf diesem Weg der Reformen mitzunehmen?

    Hengsbach: Also, ich halte das für eine seltsame Methode und auch für eine seltsame Denkvorstellung. Das sind wirtschaftliche und politische Eliten, die nie in ihrem Leben mit dem Risiko von Arbeitslosigkeit und Sozialhilfebezug konfrontiert sind, und die entscheiden zu Lasten derjenigen, die arm sind oder derer, die in einem gefährdeten Wohlstand leben, und wundern sich, dass die Betroffenen das nicht mitmachen, weil sie auch an den Entscheidungsprozessen gar nicht beteiligt waren. Und dann heißt es, es ist ein Vermittlungsproblem. Es ist kein Vermittlungsproblem. Diejenigen, die betroffen sind, wissen genau, dass das, was als Reform propagiert worden ist, im Grunde ihre Situation verschlechtert.

    Breker: Warum macht man das? Liegt das daran, dass der Griff in die Taschen der Kleinen am leichtesten ist und am meisten bringt?

    Hengsbach: Ich habe den schweren Verdacht, dass die Lebenslagen derer, die diese so genannten Reformen beschließen, weit entfernt sind von der Lebenslage derer, die gleichsam von diesen Entscheidungen in besonderer Weise betroffen sind. Und das ist erschreckend. Ich denke schon, dass die Zusammensetzung des Bundestags, auch die Zusammensetzung derer, die im Kanzleramt diese sogenannten Reformen auskochen, dass die praktisch mit den unmittelbaren Gefährdungslagen, in denen immerhin ein Drittel der Bevölkerung mehr und mehr hineingerät, nicht vertraut sind.

    Breker: Aber es ist ja nicht nur die Regierung. Wir haben ja jetzt an diesem Wochenende auch erlebt, dass die Opposition nicht wesentlich anders denkt. Herr Hengsbach, hat sich vielleicht die Bedeutung des sozialen Friedens, die ja einmal sehr hoch gehalten wurde in diesem Land, hat sich das im Zeichen der Globalisierung total gewandelt, der soziale Frieden ist nichts mehr wert?

    Hengsbach: Die Globalisierung halte ich für einen Vorwand, genauso wie die demographische Entwicklung. Es geht ja nicht darum, dass jetzt die Ausgaben für die sozialen Sicherungssysteme so hoch geworden sind, sondern es fehlen einfach die Einnahmen. Und die kommen praktisch durch die Beschäftigung und umgekehrt, sie gehen verloren durch die Massenarbeitslosigkeit. Und die Massenarbeitslosigkeit jetzt ist weder durch die zukünftige demographische Entwicklung, noch auch durch die Gefährdung durch die Globalisierung bedingt. Deutschland ist wettbewerbsfähig, der größere Teil des grenzüberschreitenden Handels wird mit anderen europäischen Ländern abgewickelt. Also, das ist nicht die eigentliche Ursache. Ich denke schon, dass was Sie genannt haben, schon das Entscheidende ist: Wir denken nicht mehr in den Kategorien von zwei Säulen, auf denen die soziale Marktwirtschaft ruht. Wir meinen, wir könnten, wenn wir die eine Säule, nämlich den sozialen Ausgleich, die Sicherheit, die Motivation der Beschäftigten, die Pflege des Arbeitsvermögens der Beschäftigten, wir können also diese eine Säule bröckeln lassen oder auch wirklich dann aufweichen und das Ganze würde in sich noch stabil bleiben. Und das ist nicht der Fall. Ich denke, die soziale Sicherung ist nicht in erster Linie ein Kostenfaktor, sondern ein Beitrag zur hohen Produktivität. Sie ist ein Beitrag vor allen Dingen, und das machen jetzt die Vorschläge der CDU/CSU deutlich, sie ist eigentlich ein Beitrag zur Friedensordnung und zur Konfliktregelung auf friedliche Weise. Was ist damit gewonnen, wenn ich den Leuten die Sicherheit, die Zuversicht, das Vertrauen und auch die Motivation nehme, eine Arbeit aufzunehmen und in dieser Arbeit zu bleiben. Diese gesellschaftlichen Werte werden, glaube ich, bei einer rein betriebswirtschaftlichen Kalkulation zu wenig berücksichtigt.

    Breker: Verstehen wir auch das Wirtschaftswachstum falsch, machen wir das Wachstum zum Götzen?

    Hengsbach: Wachstum alleine ist weder ein wirtschaftlicher, sinnvoller Wert, noch auch ein gesellschaftlicher. Wir müssten eigentlich an die Lebensqualität denken. Und die Lebensqualität wird nicht von solchen Größen wie Wachstum des Bruttosozialprodukts, ich müsste auf jeden Fall auch schon einmal die Verteilung berücksichtigen und zum anderen ist ja gar nicht damit gesagt, dass also, wenn das Bruttosozialprodukt wächst durch mehr Reparaturarbeiten an den Autos oder durch mehr Benzinverbrauch auf Grund von Staus, dass das auch die Lebensqualität positiv beeinflusst. Ich müsste eigentlich von der Lebensqualität der Menschen her denken. Es sind vitale Bedürfnisse da, werden sie befriedigt oder nicht? Die Menschen sind daran interessiert, ihr Arbeitsvermögen zu erhalten und nicht zu zerstören. Frauen sind daran interessiert, Gleichstellung und Autonomie sowohl für Männer, als auch für sie selbst durchzusetzen. Und das Bewusstsein für ökologische Nachhaltigkeit ist bei den Menschen vorhanden und die Frage ist, geht die Gesellschaft, gehen die Politiker auf diese elementaren Bedürfnisse und Interessen ein oder nicht?

    Breker: Pater Friedhelm Hengsbach war das in den Informationen am Mittag im Deutschlandfunk. Er leitet das Nell-Breuning-Institut an der katholischen Hochschule Sankt Georgen. Herr Hengsbach, ich danke mich für dieses Gespräch.

    Hengsbach: Bitte schön.