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Henri-Rousseau-Ausstellung
Die Unschuld des Archaischen

Das Palazzo Ducale von Venedig zeigt derzeit eine Ausstellung mit Werken des "naiven" Malers Henri Rousseau. Darin werden seine Bilder unter anderem denen von Zeitgenossen wie Franz Marc oder Wassily Kandinsky gegenübergestellt - ein überzeugender Beleg für das Interesse der damaligen Avantgarde an Rousseau.

Von Henning Klüver | 16.03.2015
    Die Bilder eines Henri Rousseau sind in ihren einfachen, naiven Formen von einer unglaublichen Treuherzigkeit. Er träumt sich mit Affen und wilden Tieren in eine grün wuchernde Tropenlandschaft. Oder wie Puppen, die einander gleichen, stehen Besucher mit gelben Hüten im Pariser Schlosspark des Jardin du Luxembourg. Und im Antikriegsbild "Der wilde Ritt der Zwietracht" rennt eine etwas pummelige Frau mit wirren Haaren im weißen Kleid durch die Luft. Und doch haben diese Arbeiten von Rousseau in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts Künstler der europäischen Avantgarde geradezu fasziniert.
    "Er wirft einen Stein über die historische Avantgarde hinaus, also über Futurismus und Kubismus. Ein Kandinsky etwa greift diesen Stein auf. Über Picasso lernt Kandinsky bereits 1908 Arbeiten von Rousseau kennen. Später erwirbt er welche. Eines davon, die Ansicht eines Hofes, lässt er sogar auf das Plakat der ersten Ausstellung des Blauen Reiter drucken. Wenn der Realismus so rein und unschuldig ist wie bei Rousseau, wird er zu einer Art Abstraktion."
    Gabriella Belli, die Leiterin der Vereinigung der kommunalen Museen von Venedig, hat diese Ausstellung über Henri Rousseau im Palazzo Ducale der Lagunenstadt eingerichtet.
    Pariser Avantgarde wurde aufmerksam
    Die Erneuerung der Malerei, der Versuch, zu ihren Anfängen, gleichsam zu ihrer Kindheit zurückzukehren, das war es, was ebenso Franz Marc, Paul Klee und andere Künstler des Blauen Reiter an den Arbeiten von Rousseau interessierte.
    In großen Museen wie dem Louvre kopierte Rousseau als die Meisterwerke. Seinen Lebensunterhalt verdiente er zunächst mit einer Anstellung bei der Zollbehörde, weshalb man ihm später den Spitznamen "Le Douanier" - "Der Zöllner" - gab. Auf der Pariser Weltausstellung 1889 beeindruckten ihn vor allem die Pavillons der damaligen französischen Kolonien in Afrika und Asien mit ihren primitiven Kunstwerken. Bei Ausstellungen im Salon der Vereinigung unabhängiger Künstler wurde etwa Odilon Redon auf seine naiven Bilder aufmerksam - und mit ihm die Pariser Avantgarde.
    "Weg mit dunklen Gedanken und verärgerten Gesichtszügen!" Der junge Lyriker Apollinaire ließ Rousseau auf einem Bankett, das Picasso 1908 zu Ehren des "Douanier" veranstaltete, mit einem Trinkspruch hochleben. Der Gefeierte saß dabei auf einem thronartigen Stuhl, um ihn herum standen Gäste wie Max Jacobs, Georges Braque oder Gertrude Stein.
    "Das Bankett war anfangs vielleicht als eine Art Studentenstreich geplant, aber es bedeutete doch auch eine Legitimation. Jetzt konnte man sich nicht mehr über ihn lustig machen. Auch weil Picasso, Delaunay und Apollinaire selbst seine Bilder sammelten."
    "Maler des Heiligen Herzens"
    Indem Gabriella Belli die Werke Rousseaus mit denen von Zeitgenossen konfrontiert, gelingt es der Ausstellung in einem großzügig gehängten Parcours überzeugend, das Interesse der Avantgarde mit entsprechenden Arbeiten zu belegen. Das reicht von Franz Marc bis Gabriele Münter, von Wassily Kandinsky bis Lyonell Feininger. Der Einfluss zeigte sich auch in späteren Jahren: Frida Kahlo bezog sich auf die Frauenporträts von Rousseau, Giorgio Morandi auf die Stillleben. Dazu verfolgt die Ausstellung Traditionslinien der naiven Malerei zu mittelalterlichen Totentänzen oder Votivbildern. Und schließlich geht sie auch parallelen Entwicklungen etwa in den naiven Arbeiten jenseits des Ozeans in den Vereinigten Staaten nach.
    Henri Rousseau starb im Jahr 1910, als nach den Künstlern ebenso die Kritiker langsam anfingen, sich ernsthaft mit diesem naiven Maler zu beschäftigen. Den Anfang machte der deutsche Kunsthändler und Autor Wilhelm Uhde, der am Montparnasse eine Galerie besaß und auch am Bankett für den "Douanier" teilgenommen hatte. Er prägte als erster den Begriff "naive Kunst". Und stellte Rousseau später, 1928, in den Mittelpunkt einer berühmten Pariser Ausstellung dieser Kunstrichtung unter dem Titel "Maler des Heiligen Herzens".