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Herbarien der Zeitgeschichte

Emine Sevgi Özdamars pikaresken Romane sind lebensprall, anekdotisch und fantastisch. Die Istanbul-Berlin-Trilogie lässt sich in "Sonne auf halbem Weg” nachvollziehen, das ihre im Verlauf von elf Jahren publizieren drei Romane "Das Leben ist eine Karawanserei”, "Die Brücke vom Goldenen Horn” und "Seltsame Sterne starren zu Erde” zu einer großen Erinnerung an ihre Herkunft, ihre Migrationen und ihre Ankunft und Bleibe in der Fremde zusammenführt.

Von Wolfram Schütte | 22.11.2006
    "Kein türkischer Autor, außer dieser Schriftstellerin, hat je etwas Vergleichbares geschrieben - nämlich einen Roman, der quer durch zwei Kulturen galoppiert”, hat der spanische Schriftsteller Juan Goytisolo gejubelt. Und sein englischer Kollege John Berger bewunderte in ihr "eine Poetin des Verschwundenen, des Unsagbaren: komisch und schrecklich zugleich”.

    Die Rede war von Emine Sevgi Özdamar. Zwei europäische Autoren und Intellektuelle von literarischem Rang, die beide auf je eigene Art sich von der Kultur ihrer Herkunft entfernt und sei es der Fremde des Arabischen, sei es dem bäuerlichen Leben in Savoyen zugewandt hatten, haben in ihrer jüngeren türkischen Kollegin und deren Debütroman "Das Leben ist eine Karawanserei” eine Geistesverwandte entdeckt und erkannt. Nur dass die 1946 in Anatolien geborene Sevgi Özdamar radikaler als ihre beiden älteren Kollegen nicht nur eine andere Kultur und Lebensweise entdeckte und sympathetisch begleitete; sie hat sich selbst, mit 44 Jahren erst, und einzig in der deutschen Sprache - also nicht, wie sie sagt, in ihrer türkischen "Mutterzunge” - als Schriftstellerin zur Welt gebracht. Ihr Oeuvre gehört zur deutschen Literatur.

    Zum Vergleich fällt einem einzig der Pole Korzeniowski ein, der als "Joseph Conrad” einer der größten englischen Erzähler wurde. Wie dieser von der Abenteuern der Seefahrt, in der er den ersten Teil seines Leben verbrachte, so erzählt Emine Sevgi Özdamar von den Abenteuern ihrer familiären Odyssee in der Türkei und ihren Lebensreisen als theaterbegeisterte Schauspielerin und Regisseurin in der Türkei, Frankreich und Deutschland. War das ersehnte Ziel des polnischen Emigranten die englische Handelsmarine, so der magische Hafen der jungen türkischen Mädchens und der erotisch emanzipierten Frau aus Anatolien das Ost-Berliner Brecht-Theater, das Benno Besson an der Volksbühne fortführte. Beide Autoren sind an ihren poetischen Orten angekommen, aber erst zu Schriftstellern geworden, indem sie ihre verwickelten Lebensläufe in ihren Adoptivsprachen erzählerisch nachvollzogen und aus ihnen die Stoffe für ihre Prosa entwickelten.

    Hybride Existenzen führten beide, hybrider und widerständig-eigenwilliger ist die poetische deutsche Prosa Sevgi Özdamars, die immer auch autobiografisch unterfüttert war: erzählerisch ebenso wie semantisch. Ihre doppelte Identität ließ sie Türkisch denken und Deutsch schreiben, eine authentische sprachliche Originalität in Metaphorik und Grammatik, die auf das Verwunderlichste sowohl ans barocke Deutsch als auch an das Fantastische und Märchenhafte orientalischen Erzählens anknüpft und sich im Laufe der Zeit und Jahre ausnüchtert, ohne den verfremdenden Blick auf die Welt und Gesellschaft zu verlieren.

    Man kann jetzt die einzigartige Sprachwerdung und Erzählverwandlung Emine Sevgi Özdamars an der fast 1100-seitigen Istanbul-Berlin-Trilogie lesend nachvollziehen, die unter dem Titel "Sonne auf halbem Weg” ihre im Verlauf von elf Jahren publizieren drei Romane "Das Leben ist eine Karawanserei”, "Die Brücke vom Goldenen Horn” und "Seltsame Sterne starren zu Erde” zu einer großen Erinnerung an ihre Herkunft, ihre Migrationen und ihre Ankunft und Bleibe in der Fremde zusammenführt. Es sind ineinander übergehende Romane der Grenzgängerei: nicht nur in der türkischen Heimat, wo die Eltern mit der Großmutter und den beiden Kindern zwischen dem hintersten Anatolien, Ankara und Istanbul sich bewegen, sondern auch beim zweimaligen Sprung der jungen Frau ins Abenteuer Europa: zum ersten Mal als Industriearbeiterin in West-Berlin Mitte der 60er und zum zweiten Mal als Regieassistentin in Ost-Berlin ab Mitte der 70er Jahre, wobei die Grenzgängerin von der West-Berliner Wohngemeinschaft zur Ost-Berliner Arbeitsstätte wechselte. Dazwischen war sie in die Türkei zurückgekehrt, hatte eine Schauspielschule besucht und war mit einer Theatertruppe durch ihr Heimatland getourt, in dem das Militär die Macht übernommen hatte.

    Ihre pikaresken Romane sind lebensprall, anekdotisch und fantastisch: Herbarien der Zeitgeschichte, die in ihnen unsentimental jedoch warmherzig, in der grotesk-komischen visueller Gestik einer epischen Erzählhaltung vergegenwärtigt wird. Deren ästhetische Spannweite reicht vom hochpoetischen Märchenteppich des Debüts bis zur offenen Form der letzten, der ins Tagebuch-Zitat überwechselt. Als Surplus dieses noch gar nicht von der deutschen Kritik entdeckten Epos' eines geschichtsgesättigten weiblichen Schelmenromans zwischen Istanbul und Berlin hat der Verlag noch 40 Seiten mit Zeichnungen aus der Theaterarbeit Emine Sevgi Özdamars beigefügt, um das Lesevergnügen abzurunden.