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Herero

Neun Uhr! Ausschiffung! Vom Schornstein brüllt die Dampfpfeife und ruft den Schlepper zum Ankerplatz. An der Reling stapelt sich das Gepäck, vorne und achtern werden von der Mannschaft die Persennings von den Luken abgezogen und das Ausladen vorbereitet. Kapitän Meyer, weißbärtig und rotgesichtig, mit vergnügt zwinkernden Augen, gibt an der Relingspforte jedem seiner zwölf Passagier die Hand und wünscht: "Viel Glück im deutschen Afrika!" Das Aussteigen per Ladebaum und Netz bleibt ihnen erspart, denn die See ist heute friedlich, und so geht es das Seefallreep hinunter ins auf- und abwiegende Brandungsboot.

Joachim Scholl | 12.08.2003
    Ankunft in einer deutschen Kolonie. Ende 1903 reist der junge Kartograph Carl Ettmann nach Deutschsüdwestafrika, um in der Hauptstadt Windhoek eine Stelle anzutreten. Gerade ist seine Frau nach kurzer Ehe gestorben, er will den Schicksalsschlag vergessen und einen neuen Anfang wagen, ganz woanders, ganz weit weg. Zur selben Zeit langt auch die Photographin Cecilie Orenstein auf dem schwarzen Kontinent an. Sie ist für damalige Verhältnisse eine enorm emanzipiertes Fräulein, verdient ihr eigenes Geld und plant einen Fotoband über Land und Leute. Kaum sind sich die Neuankömmlinge begegnet, werden sie schon wieder auseinandergerissen. Im Januar 1904 erheben sich die Eingeborenen gegen die völlig überraschte deutsche Besatzungsmacht, und Carl Ettmann, der frühere Artillerist, sieht sich plötzlich in Uniform, mit Gewehr und Marschgepäck durch die Wüste stolpern. Auf diesen Stoff und Plot ist Gerhard Seyfried durch einen kurios kulturellen Zufall gestoßen. Das Goethe-Institut hatte den renommierten Zeichner nach Namibia eingeladen, um dort über den Nutzen von Comics im Sprachunterricht zu sprechen. Das traf sich:

    Ich bin schon immer sehr geschichtsinteressiert gewesen, bin auch relativ geschichtskundig und wusste auch über die deutsche Kolonialgeschichte, zumindest in groben Zügen, Bescheid. Und als ich da runter kam nach Namibia, da hatte ich vier bis fünf Tage Zeit zum akklimatisieren, hatte ein Auto zur Verfügung und bin herumgefahren. Ich habe mir die Schauplätze des Herero-Aufstands angesehen und war erstaunt, dort alles möglich wiederzufinden, alte Festungen, die Kanonen stehen buchstäblich an dem Platz, an dem die Deutschen sie stehen gelassen haben, und es fehlt keine. Auch das Land hat mich sehr fasziniert und hat einen richtig am Wickel, wenn man diese Art Landschaft mag.

    Die Verblüffung über die historische Präsenz wich der Neugier. Was war damals eigentlich wirklich passiert? Der Herero-Aufstand ist als eines der zahllosen düsteren Kapitel der Kolonialzeit in die Geschichte eingegangen, am Ende stand die fast völlige Vernichtung des Herero-Stammes. Doch genauso dunkel sind die exakten Vorgänge geblieben, bis heute weiß man nicht einmal die Zahl der umgekommenen Eingeborenen, die zwischen zehn- und neunzigtausend Toten schwankt. Trotz zahlreicher Darstellungen und Aufzeichnungen von Augenzeugen ist das Ereignis kaum ins kollektive Gedächtnis gedrungen, die historiographische Aufarbeitung verblieb im Akademischen. Dass sich die Schriftsteller, abgesehen von Thomas Pynchon in seinem Roman "V", auch nicht für das Thema interessierten, mag einen einfachen Grund haben: wer kommt schon nach Namibia? Gerhard Seyfried hatte die Entscheidung für einen Roman rasch getroffen.

    Das Romanschreiben hat sich in Stufen entwickelt. Zuerst habe ich gedacht: da weiß ja keiner etwas drüber, da sollte man mal was drüber schreiben, vielleicht eine Artikelserie, und dann hat mich aber da unten auf dem Soldatenfriedhof die Frage bewegt, wie mag es mir ergangen sein, wenn ich da runtergekommen wäre, als ahnungsloser Deutscher, der nur seine Arbeit dort machen will, in der Denkart der damaligen Zeit, und plötzlich gibt man mir ein Gewehr und schickt mich gegen die Eingeborenen. Wie spielt sich so was ab? Das ist praktisch das Denkmodell oder die Frage, die dem Roman zugrunde liegt.

    Tag für Tag, in einer Art Journal, entwickelt der Autor die Ereignisse. Um seine beiden fiktiven Hauptfiguren gruppiert er zahlreiche historische Gestalten, von den militärischen Kommandeuren bis hin zu einfachen Soldaten. Auch um einen Herero-Krieger windet Gerhard Seyfried einen eigenständigen, allerdings weit dünneren Erzählstrang, weil die authentischen Quellen fehlten, wie der Autor bekennt. Überhaupt zögert Seyfried bei der Fiktion, wenn es um die konkreten Ereignisse des Aufstands, den Verlauf der Kämpfe und ihre Folgen geht. Konsequent bleibt er bei den Fakten, die er zahlreichen Büchern und autobiographischen Schriften entnommen hat. Akribisch recherchierte er die Lebensverhältnisse von Zeit und Ort: Wetter, Kleidung, Waffen, Ausrüstung, kein Uniformknopf war ihm zu klein, dass er nicht einen genauen Blick darauf geworfen hätte, auch was ein Käsebrot im Windhuk des Jahres 1904 kostete, bekam der Autor raus. Exaktheit – das war für ihn das Wichtigste.

    Ich bin schon immer detailvernarrt, das kennt man von meinen Zeichnungen, die ganze Arbeit war für mich eine Art Zeitreise, und je mehr ich über Zeit und den Ort weiß, an dem ich mich gedanklich bewege, desto besser funktioniert das Hineinträumen. Wenn ich nicht weiß, was die Leute für Uniformen anhaben, habe ich einen Filmriss. Ich mochte auch in Büchern immer sehr gern, wenn möglichst viele Details beschrieben sind, wie was funktioniert. Wenn da eine Eisenbahn fährt, dann will ich wissen, was für eine, wie schnell sie fährt, wie sie aussieht, wie es ist, wenn man drinsitzt.

    So entsteht eine überaus dichte Atmosphäre von gestochen scharfen Bildern. Seyfried erzählt in einer schnörkellosen, ruhigen, fast langsam zu nennenden Sprache, die eigentümlich mit den Tatsachen und den Bedingungen des Landes korrespondiert. Denn das Gebiet und die Entfernungen sind riesig, die Schauplätze über Tausende von Quadratkilometern verstreut. Das Militär braucht Wochen und Monate, um von einem Ort zum anderen zu wechseln. Es ist backofenheiß, das Wasser stets knapp, die Protagonisten schleppen sich durch Staub und Schmutz. Bisweilen scheint sich der Roman nur im Zeitlupentempo zu bewegen, oft passiert über lange Strecken gar nichts, bis dann doch blitzartig die Gewalt ausbricht, Kanonen donnern und Menschen sterben. Dabei scheint der Autor die Zeitspannen präzise berechnet zu haben. Die große entscheidende Schlacht am Waterberg wird auf wenigen Seiten geschildert, ehe es dazu kommt, sind Leser wie Kämpfer über Hunderte marschiert.

    Doch der Text hält eine enorme Spannung aufrecht, auch wenn sich manchmal die Erschöpfung der Charaktere auf die eigene Lektüre überträgt. – Wie aber nun steht es um die Moral, was macht der Roman aus der verdrängten, jedoch offenkundigen Problematik von Völkermord, Kolonialismus und chauvini-stischer Deutschtümelei? Als Zeichner und Karikaturist ist Gerhard Seyfried in der altlinken Sponti-Szene immer noch ein Star, aber dieser und jeglicher Ideologie bietet er keinerlei Ansatz. Eine strikt neutrale Position hat er sich verordnet, Sachlichkeit und Distanz.

    Es hängt mit der Literatur zusammen, die ich gelesen habe. Die Masse, 90 Prozent, sind Teilnehmer-Berichte, Augenzeugenberichte und das Kolonialzeug aus der Nazi-Zeit. Und das ist natürlich völlig schwarzweiß. Die Schwarzen sind die Schufte, wenn sie Glück haben, sind sie gutmütige Krausköpfe und brauchbare Diener, und die Deutschen sind die Helden. Dann gibt es eine neuere Schule von DDR-Historikern, die kehren das um, ähnlich schwarzweiß. Da ist der Schwarze grundsätzlich der Held, und der Deutsche der Schuft. Das ist mir beides zu einfach, ich wollte das einigermaßen neutral machen, soweit das möglich ist. Aber ich lasse meinen Prota- gonisten auch seine Erfahrungen machen und sein Teil denken, und er versucht, immer Schlüsse daraus zu ziehen, einen Ausweg aus der Situation, den ich aber für ihn nicht sehe, den er auch nicht findet.

    Der kurzfristigen emotionalen Versuchung, seinen Helden Ettmann etwa zu den Hereros überlaufen zu lassen und ein romantisch politisch-korrektes Abenteuer zu inszenieren, hat Seyfried widerstanden, wie er weiter erzählt. Für solche Desertionen gab es keine Belege. Vor allem an der Darstellung einer heute noch bekannten, historischen Figur wird Seyfrieds objektives Verfahren überzeugend deutlich. Als die Rebellion sich hinzog und die Nachrichten von getöteten Siedlern und Soldaten im Deutschen Reich für Unruhe sorgten, entsandte Wilhelm II. den berüchtigten General Lothar von Trotha nach Südwestafrika. Er schlug den Aufstand nieder, jedoch mit solch grausamen Methoden, dass der Kaiser unter dem Druck der Öffentlichkeit schließlich seinen Schlächter zurückbeordern musste.

    Auch hier verläßt sich Seyfried ganz auf seine Quellen. Der Protest und das Entsetzen angesichts Trothas Rabiatheit ist vielen Berichten und persönlichen Notizen der obersten Militärs zu entnehmen. Das Urteil über den General haben bereits die Zeitgenossen gefällt. So ist Gerhard Seyfrieds Herero nicht nur ein stattlicher, opulenter Roman geworden, sondern auch zu einer bedeutenden Dokumentation. Allenthalben wird der Autor denn auch in Fachkreisen als ausgezeichneter Experte begrüßt und für seine Arbeit gelobt. Und die literarische Welt hat nunmehr einen neuen, bemerkenswerten Romancier in ihren Reihen.