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Herkulesaufgabe und philosophische Streiflichter

Andreas Urs Sommer ist der Direktor der Nietzsche Stiftung in Naumburg. Bald kommt der erste Band des Nietzsche-Kommentars heraus. Wenn es stressig wird, kann Sommer kreativ sein und so arbeitet er zurzeit neben anderen Projekten an Zweisatznovellen, die sich mit Philosophie befassen.

Von Michael Köhler | 20.08.2012
    Andreas Urs Sommer lebt etwa 30 Kilometer nördlich von Freiburg im Breisgau. Frankreich und die Schweiz sind zum Greifen nah. Er wohnt mit Familie auf dem Dorf. Der Bahnhof ist fünf Kilometer entfernt. Hat der Zug Kenzingen verlassen und ist in Freiburg angekommen, bleibt er noch ein bisschen sitzen, bevor er aussteigt. Erst 20 Minuten später geht es nämlich weiter Richtung Basel: Zeit zum Denken und Schreiben, Zeit für Einfälle und Zu-Fälle. Dann geht’s zur Arbeit in die Stadt.

    "Dieser Übergang ist eigentlich sehr nützlich, er ist eine Art rite de passage, der mich von der einen in die andere Welt führt. Die Dorfwelt ist eine andere Welt als die Stadtwelt. Der Stadtwelt bin ich doch noch ein wenig fremd gegenüber. Freiburg ist sicher keine Großstadt, aber in gewisser Weise ist es eine Irritation, die jeden Morgen stattfindet, über die vielen Menschen, über den Verkehr, über die Autos, eine Irritation, die mir auch gut tut. Sie belebt."

    Er bräuchte die Stadt nicht als Lebensraum, überhaupt versteht er nicht die Versessenheit der Moderne auf Urbanität. Die Stadt sei etwas für Unentschlossene, die das Meer der Optionen bräuchten. Er geht auf dem Dorf viel mehr ins Kino als Stadtfreunde. Aber er ist alles andere als ein heideggerscher Hüttenphilosoph, der die Städte hasst und mit Zipfelmütze dem Sein nach sinnt.

    "Ich sitze gerade über den Fahnen unseres Nietzsche-Kommentars. 600 Seiten 'Götzendämmerung', Fall Wagner' , 850 Seiten zu 'Anti-Christ', 'Ecce Homo', 'Nietzsche contra Wagner' und 'Dionysos Dithyramben'. Eine Arbeit, die ungefähr das Geisttötendste ist, was man sich vorstellen kann und dennoch muss sie gemacht werden."

    In wenigen Wochen erscheint der erste Band, eine wissenschaftliche Herkulesaufgabe. Die Korrekturen der Druckfassung müssen gemacht werden. Andreas Urs Sommer kommt nicht nur aus Basel, der Stadt in der Nietzsche Philologieprofessor war, er ist auch Direktor der Nietzsche Stiftung in Naumburg. Um kreativ zu sein, bedarf er nicht bestimmter Rituale. Im Gegenteil, wenn Termine drängen, läuft´s am besten.

    "Es ist nicht so, dass wenn ich mich drei Monate irgendwohin verabschieden kann und dann kreativ sein darf, dass mir da irgendetwas gelingt, sondern , wenn ich zum Beispiel jetzt über diesen grauenhaften Druckfahnen sitze, dann doch nebenbei viele Ideen kommen, die ich verwerten kann. Entsprechend liegt hier mein Notizbüchlein neben den Fahnen, wo ich dann das ein oder andere notieren kann."

    Dieses kleine Notizbüchlein hat es in sich. Das ist kein Zettelkasten. Er schreibt alles in den Computer. Aber dieses kleine Insel-Buch mit dem Marmorpapier-Einband, das einem Tagebuch ähnelt, ist in 50 Jahren mal was für eine Vitrine im Marbacher Literaturmuseum der Moderne. Auf dem Titel steht ein Motto von Mark Twain.

    "Schreiben ist leicht, man muss nur die falschen Wörter weglassen."

    "Jenseits der Fahnenkorrektur trage ich mich mit dem Gedanken eine Philosophie des Relativismus zu schreiben. Mir scheint, der Relativismus ist etwas, was übel beleumundet ist, heutzutage. Die Philosophen und Theologen sind sich in seltener Einmütigkeit einig, dass der Relativismus das Grundübel der Gegenwart sei. Ich würde im Gegenteil behaupten, dass der Relativismus das ist, dessen wir bedürfen. Der Relativismus ist die einzige Lebensform, die Menschen angemessen ist. Mit dem Absoluten können wir nicht umgehen. Wir können mit dem Absoluten umgehen, wenn wir es in Relation zu uns setzen, es relativieren."

    Und dann rückt er mit ein paar Neuigkeiten aus der Werkstatt heraus. Das Projekt heißt "Zweisatznovellen", eine Sammlung von Kurztexten, die sich auf zwei Sätze beschränken und philosophische Streiflichter erzeugen.

    "Ich könnte kurz darauf etwas vorlesen, wenn Sie das möchten. - Na klar, darum machen wir ja die Werkstattbesuche. - Also ein paar Entwürfe aus den Zweisatznovellen."

    "Timo Wellwiss wird im April damit begonnen haben , einen Fahrplan für all die Züge auszuarbeiten, die in seinem Dorf Oberaschenbach halten müssten, obwohl es in Oberaschenbach doch nicht einmal einen Bahnhof gab. Zuerst ließ er in seinem Fahrplan die Regional- und Interregional-, im Hochsommer alle ICE- und IC-Züge in Oberaschenbach halten, sodass niemand nach Paris oder Berlin kam, ohne in Oberaschenbach Station gemacht zu haben. Vom 15. September an blieben freilich sämtliche Züge in Oberaschenbach, denn nun wusste Timo Wellwiss, dass jegliche Bewegung, nur eine Illusion ist, und in Wahrheit, alles in einem Punkt, Oberaschenbach , stillsteht.

    Reinhold Gerber hat sich die 2,5 Zimmer Eigentumswohnung, 68 Quadratmeter, Balkon auf den Hofpark, auf den 1. Juli kaufen wollen. Als er die Kaufsumme von 122.000 Euro auf das Notar-Anderkonto überwiesen hatte, wurde ihm klar, dass es Raum nur in seinem Bewusstsein, nicht in der Außenwelt gebe, er also auch keine Räume kaufen bräuchte."

    Er braucht für Zweisatznovellen und andere Erzeugnisse nicht Whiskyglas, Monteverdi-Opern und Schwarzwaldpanorama zur schöpferischen Beflügelung. Er bedarf es nicht bestimmter Umstände, um Werkstatterträge zu erzeugen

    "(Irgendwo), es ist nicht so, dass ich auf bestimmte Orte oder bestimmte Konditionen angewiesen bin. Wenn Sie so wollen, kann ich mir diesen Luxus nicht leisten , zu warten bis die idealen Konditionen eben mit Pfeife und Weinglas, mit Blick auf die romantische Abendstimmung im Weinberg ergibt, wenn ich das tun müsste, würde ich mit dem Schreiben nicht anfangen, im Gegenteil dieses Randständige ist auch immer eine ideale Schreibsituation, also die Bedingungen sind in der Ausnahmesituation immer besonders gut."

    Ein Friedrich-Nietzsche-Kommentar von knapp 1500 Seiten erscheint, eine Philosophie des Relativismus ist in Arbeit und die Zweisatznovellen entstehen zwischendurch. Ist das schon alles, sonst noch was?

    "Das Andere ist ein Buch über die Philosophie und das Verbrechen. Die Philosophie und das Verbrechen ist vielleicht eine merkwürdige Paarung (…),weil die Philosophie doch allenfalls über das Verbrechen als das Ihr völlig Fremde nachdenkt, andererseits ist nicht zu verkennen , dass die Philosophie von Anfang an eine seltsame Affinität zum Verbrechen hatte. Das Verbrechen war etwas, was Ihr sehr nahe lag. Bereits Sokrates ist als Verbrecher verurteilt und hingerichtet worden, anderen Philosophen erging es nur knapp anders."

    Fasst man die Projekte über imaginäre philosophische Werke, über Relativismus, über Philosophie und Verbrechen, und über Zweisatznovellen zusammen, so fällt eine Neigung auf, das Irreale als reale Kraft anziehend zu finden. Eine domestizierte Unterwelt des Denkens scheint Andreas Urs Sommer zu reizen.

    "Also, es scheint eine Tendenz zu geben, dass Philosophie, Ordnungen grundsätzlich infrage stellt, und dass in vielen Gesellschaften als verbrecherisch empfunden wird."

    Er geht noch einen Schritt weiter.

    "Ein verbrecherisches Moment ist in der Philosophie, wenn sie denn nicht bloß akademische Verwaltung von Besitztümern ist, eigentlich immer inhärent."

    Eine Art Horror vor dem weißen Blatt, kennt Andreas Urs Sommer nicht. Er spricht von sich als Relativist in eigner Sache, als in seinem Denken vielfach Bedingter.

    "Nur, wenn man die Schreibmöglichkeiten ausnutzt, die Formen des Schreibens ausschöpft, glaube ich, kann man die verschiedensten Formen des Denkens erproben. Die Abhandlung allein in einem akademischen Sinne scheint mir keineswegs hinreichend zu sein, um den Reichtum dessen, was philosophisches Denken ist, in irgendeiner Weise erschöpfend darzustellen. Deswegen halte ich es für eine wesentliche Aufgabe philosophischer Reflexion gerade auch verschiedenste Formen des Schreibens zu erproben."

    Mit einem Motto eines seiner letzten Bücher: Es kommt nicht allein darauf an, anders zu denken, sondern auch anders zu leben.

    "Die Mitwelt und die Nahwelt ist unmittelbare Entstehungsbedingung für das, was entsteht."