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Hernán Rivera Letelier
Lebhafte, pittoreske Sprache

Die bilderreiche Sprache des 63-jährigen chilenischen Autors Hernán Rivera Letelier setzt sich auch in seinem neuesten Werk "Die Liebestäuschung" fort. Er führt seine Leser direkt in die Atacama-Wüste im nördlichen Chile im Grenzgebiet zu Peru. Rivera Letelier hat dort selbst 20 Jahre lang unter Tage gearbeitet, bevor er Schriftsteller wurde.

Von Martin Grzimek | 22.04.2014
    Der Autor Hernán Rivera Letelier
    Der Autor Hernán Rivera Letelier (picture alliance / dpa / Gattoni/Leemage)
    Wer den international gefeierten Roman "Die Filmerzählerin" des 63jährigen chilenischen Autors Hernán Rivera Letelier kennt, den Episodenreichtum und die bilderreiche Sprache dieses Autors liebt, der wird von seinem neuesten Werk "Die Liebestäuschung" ebenfalls begeistert sein. Er führt uns zurück in den Beginn der Dreißigerjahre und direkt zu den Salpetergruben in einer der trockensten Regionen der Erde. Dort, in der Atacama-Wüste im nördlichen Chile im Grenzgebiet zu Peru kennt sich der Autor bestens aus. Er hat dort selbst zwanzig Jahre lang als Minero Untertage gearbeitet, bevor er Schriftsteller wurde, er weiß wovon er erzählt, wenn er die karge Landschaft beschreibt, das Leben in den einsamen Dörfern, die meist nur einer Ansammlung von Blechhütten glichen, er kennt das unerbittliche Klima mit sengender Hitze am Tag und Eiseskälte in der Nacht.
    Geschichten über die unmenschliche Ausbeutung der Minenarbeiter
    Heute, nach dem Niedergang der Salpeterindustrie, sind die meisten dieser Orte Geisterstädte, ab und zu verirrt sich ein Bus mit Touristen dorthin, die dann in San Piedro de Atacama Station machen und nachts im berühmten Valle de la Luna den überwältigenden Sternenhimmel bewundern. Doch sonst ist diese trostlose Gegend ein Hort von Geschichten über die unmenschliche Ausbeutung der Minenarbeiter und der Bildung von Legenden wie die von der bildhübschen Klavierspielerin Golondrina de Rosario und ihrer unglücklichen Liebe zu Bello Sandalio, dem rotschöpfigen Trompetenspieler. Diese Legende nun hat Letelier zu einem burlesken Roman ausgearbeitet, zu einer Tragikkomödie voller eigenwilliger Figuren, grotesker Episoden und ineinander verstrickter Handlungen, die das Lesen zu einem ebenso bittren wie unterhaltsamen Vergnügen machen. Der Ort des Geschehens, der brodelnde Sammelpunkt aller Geschichten, heißt Pampa Unión, gelegen beim Km 144 der Bahnstrecke von Antofagasta zur bolivianischen Grenze, 1911 entstanden durch den Bau eines Hospitals für die 30.000 Arbeiter in den insgesamt 27 Salpeterminen des umliegenden Bezirks. Schon nach wenigen Jahren wurde aus der Ansammlung von Blechhütten für streunende Hausierer ...
    "... eine kleine Metropole, die wie die Fata Morgana eines orientalischen Basars inmitten der Wüstenglut flimmerte; ein Städtchen, in dessen Straßen die Menschen lärmten, die Maultiergespanne knarzten und früh bis spät das Kampfgetümmel der Straßenköter tobte. Ein Städtchen, in das von Anfang an. Jedes Wochenende die gesamte Bevölkerung der Salpetersiedlungen des Zentralbezirks strömte, um sich zu vergnügen."
    Den Besitzern der Salpeterminen ist diese Siedlung ein Dorn im Auge, denn mit ihren Geschäften und Lokalen untergräbt sie das Monopol der "Feudalherren", in deren Minenläden die Arbeiter zu überteuerten Preisen kaufen müssen, was sie für ihr armseliges Leben benötigen. Dagegen besitzt die kleine Stadt Pampa Unión mit ihren 4.000 Einwohnern und 15.000 Besuchern am Wochenende eine ganz andere Qualität:
    Nur die Schokoladenseite des Ortes
    "Auf einer Länge von sieben staubigen Häuserzeilen boten ihre Läden und Marktstände Waren aus aller Welt. Hinter den Schaufensterscheiben oder einfach unter freiem Himmel der Sonne und dem Wind preisgegeben, drängten sich in einem heillosen Durcheinander die unglaublichsten Dinge. Hier gab es Fässer mit öltriefenden Sardinen und schmiedeeiserne mittelalterliche Korsetts für die Schönen der Wüste, man fand Ballen feinster, gerade aus Indien eingetroffener Seide ebenso wie fettglänzende Treter aus argentinischer Herstellung, außerdem japanisches Porzellan, italienische Hüte, Schweizer Uhren, nordamerikanische Schallplatten deutsches Spielzeug, Tee aus Ceylon, englischen Kashmirstoff, Perserteppiche und spanische Konserven. Allerdings stellten diese sieben bevölkerten Häuserzeilen. Nur die Schokoladenseite des Ortes dar. Hinter ihrer malerischen Kulisse. Lag eine Straße, die inzwischen General del Canto hieß und wo Kneipen, Esslokale, Pensionen oder Schnapsläden nur die Fassade lieferten für die ungezählten Bordelle, für die Pampa Unión berühmt und berüchtigt war."
    In dieser babylonisch anmutenden Stadt mit ihrer "malerischen Kulisse" und den hinter den Fassaden wuchernden Freudenhäusern hat auch der Barbier Sixto Pastor Alzamora seinen Friseurladen, und mit seiner Geschichte beginnt Hernan Leteliers farbenreicher Roman. Sixto hat seine Barbierstube "Zum Arbeiter" genannt und verrät schon dadurch seine glühende Anhängerschaft für den Kampf der Mineros gegen ihre Unterdrückung. Wenn er seinen Kunden die Haare schneidet, hält er dabei feurige Reden gegen die Ausbeutung, und im Nebenraum spielt seine bildhübsche Tochter Golondrina Chopinpolonaisen auf einem immer blank geputzten Flügel. Unentgeltlich unterrichtet sie Kinder im Vortragen von Gedichten, gibt kleine Konzerte und begleitet abends im Arbeiterlichtspielhaus die Stummfilme auf dem Klavier. Sie ist überall in der Stadt hoch angesehen, ihre Schönheit wird bewundert, und ein jeder begegnet ihr mit Respekt. In den Augen ihres Vaters hat sie nur einen Makel: Mit ihren fast dreißig Jahren ist sie noch immer unverheiratet und hat nicht einmal einen Verlobten.
    Fast kitschig erscheinende Bildern und überzogene Sprache
    Dieser Zustand ändert sich, als Bello Sandalio, der Trompeter, die Bühne betritt. Da der chilenische Präsident Pampa Unión besuchen wird, soll eine Kapelle gegründet werden, die ihm zu Ehren die Nationalhymne spielt. Bello, ein Charmeur und Liebhaber der Freudenhäuser wird Mitglied dieser "banda de musica" - und nun kann man sich schnell ausmalen, was sich nach den Gesetzen der Legenden und der romantischen Literatur ereignen muss: Bello und Golondrina verlieben sich ineinander, die unantastbar Schöne und den wilden Draufgänger vereint nicht nur die Hingabe zur Musik. Und ahnen darf man auch schon, dass ein solch in sich gegensätzliches Paar in Zeiten feudaler Herrschaftsstrukturen sich erst im Tod wird finden können - doch wie es dazu kommt, wie diese Verwechslungskomödie verläuft und schließlich in einer gewaltigen Apotheose endet, das soll hier nicht verraten werden. Nicht, weil sonst dem Genuss des Lesens geschadet würde und die Spannung des Romans verloren ginge, sondern weil all die Feinheiten, das Ausgeklügelte, die geistreiche Konstruktion und die Lebhaftigkeit der pittoresken Sprache Leteliers bis hin zu überzogen, fast kitschig erscheinenden Bildern, die gleichwohl im Gesamt ihre Berechtigung haben, verloren gingen.
    Daher soll die Vorstellung dieses kleinen, von Svenja Becker fabelhaft übersetzten Kunstwerks mit einer Kostprobe mitten aus den vielen Seiten enden, einer Kostprobe, die für viele andere stehen kann und Appetit machen soll auf ein ungeteiltes Lesevergnügen. Hier also als ein Beispiel von vielen die Szene, als sich Golondrina und Bello zum ersten Mal gegenüberstehen:
    "... jetzt stand er vor ihr, hatte sich in voller Größe frech vor sie hingestellt und ihre letzten Zweifel mit einem einzigen Lächeln weggewischt. Er war es. Natürlich war er es. Ihr fahrender Musiker, ihr Feuertrompeter, ihr geliebtes Verhängnis. Sie glaubte, der Kopf müsse ihr bersten. Etwas Eigentümliches kam über sie. Es fühlte sich an, als würde ein zarter Wirbel aus Licht ihr unter die Röcke greifen, ihr Kleid bauschen und sie ein paar Millimeter vom Stuhl heben. Und dieser Rotschopf stand bloß da, stand vor ihrer Nase und tat nichts, als sie raubtierhaft anzulächeln wie ein sommersprossiger Faun."
    Hernán Rivera Letelier: Die Liebestäuschung. Roman. Aus dem Spanischen von Svenja Becker. Insel Verlag, Berlin 2013, 315 S., Euro 19,95