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Herz und Hirn

An der Front tobt die Schlacht, Maschinengewehrsalven mähen alles Lebendige zwischen Feind und Feind nieder. "Dauerfeuer" nennt das der Soldat, so wie der Mediziner Dauerfeuer am Werke sieht, wenn Nervenzellen den Organismus mit Alarmsignalen überschwemmen. Eine hoch militante Metapher ist da vom Kriegshandwerk in die Heilkunst eingewandert, so wie vieles in der modernen Medizin militärische Abläufe und Vorbilder adaptiert.

Von Florian Felix Weyh | 14.12.2006
    Da ist der ewige Feind, der Tod, den es unter allen Umständen zu bekämpfen gilt, selbst wenn der befehlshabende Offizier – also der diensttuende Arzt – nur einen schwachen Geländegewinn zu verzeichnen mag, indem er den auf den Tod liegenden Patienten über den eigenen Dienstschluss hinweg am Leben erhält. Stirbt er wenige Minuten nach Schichtwechsel, bleibt dennoch die persönliche Verluststatistik unbelastet. Da sind die virilen Offizierstypen als Chefärzte, ihr arrogant hierarchisches Auftreten gegenüber niederen Rängen, ihr devotes Kuschen hingegen, wenn General Klinikdirektor zum Rapport ruft.

    All dies kann man im Frontbericht "Dauerfeuer" des Arztes Klaus Ratheiser nachlesen, dem jahrelang eine Intensivstation in Wien unterstand. Was einen jungen Arzt noch als narzisstische Herausforderung locken mag, die halbgottgleiche Allmachtsphantasie des Notfallmediziners, wandelt sich im Alltag zur permanenten Überforderung. Nicht nur Menschenleben müssen gerettet werden, auch die Karriere soll vorangehen, wozu Publikationen gehören, die man übermüdet nachts am Computer zusammenflickt. Und da ist auch noch das Leid von Patienten und Angehörigen, das innerlich verarbeitet sein will. Derartige Rücksichtnahme auf die eigene Integrität bleibt jedoch fast immer auf der Strecke, so wie das Privatleben insgesamt, denn gegen die Konkurrenz eines dauerhaften emotionalen Ausnahmezustands auf Station wirkt jede Verstimmung von Frau oder Freundin wie eine mutwillige Provokation.

    Gestorben wird zu Dutzenden in Ratheisers Roman, der sich als nur leicht fiktionalisiertes Dokument liest und ein vielfältiges Krankenhauskaleidoskop mit weitläufigem Personal erstehen lässt. Darin ziehen durchaus nicht immer alle am selben Strang. Bei einer Reanimation kommt es zwischen Pflegepersonal und Ärzten zum Kompetenzstreit, wie sinnvoll Nichtsterbenlassen im konkreten Fall wohl sei. Am Ende des erschütternden wie ergreifenden Buches, das Leser ohne Hang zur Hypochondrie voraussetzt, liegt das Dilemma des Arztberufs im Dauerfeuer der Notfallmedizin auf der Hand: Eigentlich kann man ihn nicht sein Leben lang ausüben, sondern höchstens über ein paar Jahre hinweg.

    Andererseits aber gehören Routine, Übung, Erfahrung zu den wichtigsten Pfunden, und sträflich wäre es, die Ärzte verschleißende Intensivmedizin ausschließlich in die Hände von immer wieder neu beginnenden Anfängern zu legen. Ratheiser hat keine Lösung dafür. Das Buch spiegelt die Verhältnisse nur, ohne ein alternatives Konzept zu entwickeln. Doch die Spiegelung allein ist auch schon eine Tat. Was wissen wir Patienten in spe von den wahren Hintergründen des Krankenhausalltags? Im Fernsehen läuft stets alles auf ein Happyend zu, Krankenhausserien strahlen die Heilserwartung einer säkularen Gesellschaft an ihre Medizin aus.

    Die Bücher der neuen Suhrkampreihe "medizinHuman" öffnen Herz und Hirn für eine Wirklichkeit, an der wir gerne vorbeiblicken. Der Herausgeber Bernd Hontschik, selbst Chirurg, steuert zum Start ein schmales medizinphilosophisches Bändchen bei: "Körper, Seele, Mensch" Genau darum geht es in der "integrierten Medizin", die er vertritt: den Menschen als Teil eines sozialen und kommunikativen Gesamtsystems zu begreifen. Natürlich hat das die Psychosomatik schon immer propagiert, doch Hontschik sieht in ihr – als immer noch exotisch betrachtete Abspaltung vom "normalen" Medizinbetrieb – eher eine Gefahr: "Psychosomatik ist das institutionelle Outsourcing des Menschen aus der Schulmedizin", sagt er und findet das ganz falsch. In die Schulmedizin gehört die Seele samt all ihrer Vernetzungen wieder hinein. Und weil Hontschik als Chirurg eigentlich jener Medizinerfraktion angehört, der man gemeinhin einen handwerklichen Zugang zur Heilkunst nachsagt, erstaunen seine Beispiele aus der Praxis besonders.

    Da sind etwa die gestörten Wundheilungsprozesse, deren Therapie erst gelingt, nachdem sich in der familiären Situation etwas verändert hat. Oder da ist die statistisch signifikante Zahl von überflüssigen Blinddarm¬operationen bei kerngesunden jungen Mädchen: ein oft von besorgten Müttern veranlasster Initiationsritus zu Beginn der Pubertät. Nicht minder verblüffend Hontschiks Ausführungen zu den Paradoxien von Placobos, jenen gleichermaßen wirkstofffreien wie wirkungsvollen Arzneimitteln, für die er ein semiotisches Erklärungsmodell bereithält: Zeicheninterpretation von ärztlichem Handeln als eigentliche Heilungsursache. Da die Naturwissenschaft keine bessere Erklärung weiß, ist das allemal ein interessanter Denkansatz. Hoffentlich scheitert das ambitionierte Unternehmen nicht gleich am Markt mangels Käufer. Denn wirklich gerne liest kein Mensch von dem, was ihn eines Tages ereilt: die Krankheit zum Tode.

    Bernd Hontschik: "Körper, Seele, Mensch", Suhrkamp "medizinHuman", 144 Seiten, 6,50 Euro

    Klaus Ratheiser: "Dauerfeuer", Suhrkamp "medizinHuman", 246 Seiten, 8,50 Euro