Donnerstag, 28. März 2024

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"Hier ist eine mediale Treibjagd gelaufen"

Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer hat das Verhalten gegenüber der zurückgetretenen hessischen SPD-Vorsitzenden Andrea Ypsilanti als einmalig und schlichte Geschichtsfälschung bezeichnet. Man sei nach dem Motto vorgegangen, nicht der Täter, sondern das Opfer ist schuld. Scheer schloss Kooperationen mit der Linkspartei auf Bundesebene zwar aus, zeigte sich aber überzeugt, dass in anderen Bundesländern eine solche Parteienkonstellation möglich sei.

Hermann Scheer im Gespräch mit Friedbert Meurer | 20.01.2009
    Friedbert Meurer: Die SPD in Hessen, sie hat bei der Landtagswahl vorgestern erheblich Federn lassen müssen, 13 Prozent verloren. Damit hat die Partei die Quittung dafür erhalten, dass sie eine Zusammenarbeit mit der Linken angesteuert hat, obwohl sie das genau vor der Wahl vor einem Jahr ausgeschlossen hatte. Nur Minuten nach der Schließung der Wahllokale hat am Sonntag Abend Andrea Ypsilanti ihre Konsequenzen gezogen und Partei- und Fraktionsvorsitz aufgegeben. CDU und FDP bereiten sich jetzt auf die Übernahme der Regierung vor.
    Hermann Scheer ist SPD-Bundestagsabgeordneter, Mitglied im SPD-Bundesvorstand und ein enger Weggefährte von Andrea Ypsilanti, die ihn zum Wirtschaftsminister machen wollte. Guten Morgen, Herr Scheer!

    Hermann Scheer: Guten Morgen.

    Meurer: Ist es das, was von Andrea Ypsilanti übrig bleiben wird, dass sie der SPD die schlimmste Niederlage aller Zeiten in Hessen zugefügt hat?

    Scheer: Das ist ja genau die Lesart, die von der über Monate hinweg gehenden Treibjagd. Es war eine Treibjagd, die gegen Andrea Ypsilanti artikuliert wird, und ich halte das für eine schlichte Geschichtsfälschung, die nach dem Motto vorgeht, nicht der Täter oder die Täter sind schuld, sondern das Opfer ist Schuld.

    Meurer: Wieso soll das eine Geschichtsfälschung sein, wenn diejenige, die sich eines Wortbruchs schuldig gemacht hat, anders dargestellt wird?

    Scheer: Ja. Nun ist es doch so, als ginge es in Hessen, als wäre es in Hessen ausschließlich um einen einmaligen Sündenfall gegangen, nämlich dass man ein Wort nicht einhalten konnte, das man vor der Wahl gegeben hat, mit wem man eine Regierung bildet oder nicht. So etwas ist im Dutzend vorgekommen in der Bundesrepublik. Es gab nur nicht ein einziges Mal eine derart anhaltende, lange Kampagne dagegen. Das ist jetzt keine Entschuldigung für einen solchen Fehler. Natürlich war es ein Fehler. Es war ein Fehler, der ist nicht geringer, aber auch nicht größer als etwa der Fehler, den SPD wie CDU/CSU auf Bundesebene gemacht haben im Jahr 2005, als sie beide vor der Wahl gesagt haben, unter keinen Umständen machen wir eine Große Koalition, und dann wurde sie anschließend doch gemacht. Wo blieb die ein Jahr anhaltende Empörung?

    Meurer: Der Unterschied war, dass das nicht tausendprozentig ausgeschlossen wurde. In Hessen war es anders.

    Scheer: Nein, nein. Das wurde schon tausendprozentig ausgeschlossen. Im Verhältnis zu dem Bundesbeispiel kann keine Rede davon sein. Es wurde sogar doch von der SPD plakatiert damals, keine Merkel-Steuer, keine zwei Punkte Mehrwertsteuererhöhung, dicke Plakate, und dann wurden drei Prozent gemacht, drei Punkte in der Großen Koalition. Also mit anderen Worten: Es ist doch ziemlich klar, dass hier in einer Unverhältnismäßigkeit ohne gleichen ein Vorgang ausgeschlachtet worden ist im Namen einer politischen Moral, und das Ergebnis ist, dass derjenige jetzt wieder im Amt bleibt, der als der unmoralischste Politiker der Bundesrepublik Deutschland gilt, der mit übelster Ausländerkampagne gemacht hat, Hetzmeuten in Gang gesetzt hat, bei dem die Herkunft von 20 Milliarden Parteispenden für die hessische CDU immer noch nicht geklärt ist.

    Meurer: ... aber der jetzt von der Bevölkerung oder von den Wählern wiedergewählt worden ist, Herr Scheer.

    Scheer: Ja, weil es gegen ihn auch nicht eine solche Kampagne gegeben hat.

    Meurer: Da sagen aber diejenigen, die als Abweichler bezeichnet worden sind, wir sind Opfer der Kampagne, wir sind Opfer einer Treibjagd.

    Scheer: Entschuldigung, das sehe ich - - Es ist über viele Monate hinweg so gelaufen, dass hier eine Erbschuldige quasi fast im alttestamentarischen Zustand ausgemacht worden ist und bis hin zu dem im Grunde - es tut mir leid - - Das hat nichts mehr damit zu tun, dass ich ein enger Weggefährte von Andrea Ypsilanti bin. Ich würde das auch sonst so sehen, wenn drei Abgeordnete über Monate hinweg eine Willensbildung mitmachen und sagen ja, wir machen das mit, wir wählen diese neue Regierung, und sie geben x Versprechungen ab und der Parteitag entscheidet mit 95 Prozent, und es gibt dann 24 Stunden vorher ein Nein, wir machen nicht mit, und sie lassen eine ganze Partei ins Messer laufen und dann sagen sie, Andrea Ypsilanti ist Schuld. Es tut mir leid, die müssen mal wirklich die Tassen im Schrank lassen. Hier ist eine mediale Treibjagd gelaufen und davon kann man nicht ablenken. Es gibt ja auch Artikel, die dazu geschrieben worden sind.

    Meurer: Gibt Hessen einen Vorgeschmack - Entschuldigung, Herr Scheer - auf das, was der SPD blühen würde, wenn sie sich im Bund für ein Bündnis oder eine Zusammenarbeit mit der Linken entschiede?

    Scheer: Nein. Es ist natürlich so: wenn es zu einer Kooperation mit der Linkspartei kommt - und das hat man auch in Ost-Deutschland gesehen; für die Bundesebene halte ich das für abwegig, sich so etwas vor dem Hintergrund der jetzigen Situation und der Parteienkonstellation nach der Bundestagswahl 2009 und nach der nächsten vorzustellen, aber es wird in anderen Bundesländern dazu kommen.

    Meurer: Wieso ist das im Bund abwegig?

    Scheer: Ja, weil dazu die bundespolitischen Disponierungen, die programmatischen, noch zu stark auseinander liegen. Da geht es in erster Linie natürlich um außenpolitische Fragen, die Fragen zur EU, die Fragen bezogen auf NATO, die Fragen bezogen auf die internationalen Sicherheitseinsätze, wo wirkt man mit, unter welchen Umständen kann man mitwirken. Da gibt es überall noch eine klare Absage der Linkspartei. Es gibt auch noch psychologische Probleme. Wir haben jetzt gar keine Zeit, das zu vertiefen. Die sind ja auch im Wesentlichen bekannt. Es wird für die Bundesebene nicht passieren können. Es wird auf der Länderebene passieren, ist ja auch angekündigt. Das, was in Hessen geschehen ist, versucht worden ist, ist im Grunde genommen genau das gleiche, was versucht worden ist erstmals (jetzt bezogen auf West-Deutschland) im Jahre 1985 in Hessen von Holger Börner. Es gab übrigens damals genau dasselbe Theater.

    Meurer: Wenn man das dazu anlegt - es kam dann zu rot/grün -, gibt es doch eine Zukunft für rot/rot.

    Scheer: Erstens hängt es davon ab, wie die Wähler entscheiden, und natürlich wäre es das beste, wenn die SPD in einem Zustand wäre der Akzeptanz in einer Wählerschaft, so dass das Problem an der Linkspartei gar nicht erst entstanden wäre. Natürlich wäre das besser, aber das kann man nicht einfach dekretieren. Man kann sich natürlich nicht selbst aussuchen, ob es andere Parteien gibt oder nicht.

    Meurer: Man kann aber den Kurs beispielsweise ändern.

    Scheer: Ja, man kann den Kurs so ändern. Das heißt, im Grunde genommen müsste die SPD dann einen Kurs haben, der vielen Wählern, die heute links wählen, verdeutlicht, ihr braucht das nicht, ihr seid nach wie vor bei der SPD gut aufgehoben. Aber das haben viele Wähler in den letzten Jahren so nicht gesehen. Übrigens am relativ meisten haben das in Hessen die Menschen so gesehen. Deswegen war ja die Linkspartei nur mit 5,1 Prozent im letzten Jahr in den Landtag gekommen. Man darf ja bei allem nicht vergessen, dass der politische Kurs, mit dem Andrea Ypsilanti überhaupt in die Möglichkeit der Regierungsbildung gekommen ist, im letzten Jahr acht Prozent Zugewinn brachte. Es war der erfolgreichste Wahlkampf der SPD über viele, viele Jahre hinweg in einer Zeit, wo andernorts überall nur Minuswerte auftraten bei Wahlen.

    Meurer: Aber dann hat die SPD eben alles wieder verspielt, Herr Scheer. Hat die SPD ohne Die Linke irgendeine Perspektive, wieder den Kanzler zu stellen?

    Scheer: Ich habe Ihnen eben gesagt, die SPD könnte eine Perspektive haben. Das hängt von der Art der Politik ab und ihrer inneren Glaubwürdigkeit und Konsequenz, wie das verfolgt wird, in der gar keine Linkspartei neben ihr existiert. Das könnte sein, aber das ist im Moment nicht so. Also muss die SPD damit rechnen, dass sie unter Umständen in vielen Bundesländern überhaupt nicht mehr regieren kann, wenn es nicht so wie in den 80er Jahren kommt, wo sie manchmal gar nicht mehr regieren konnte, obwohl es vorher Alleinregierungsmöglichkeit gab, ohne die Grünen-Partei. So kann das auch mit der Linkspartei geschehen, und zwar als Grundproblem, als Dauerproblem, aber das hängt von der Politik der SPD ab, natürlich auch von der Politik der Linkspartei. Wenn die sich so zerlegt, dass sie am Schluss die%e, die sie haben, nicht mehr kriegen und deutlich runtergehen, dann klärt sich das Problem in einer anderen Weise, aber das kann niemand voraussagen. Man kann Parteien nicht wie Schachfiguren behandeln, wie hölzerne Figuren. Nein, das sind lebende Organismen und die können alle möglichen Dinge mit sich machen oder mit sich machen lassen, gute wie schlechte.

    Meurer: Der SPD-Bundestagsabgeordnete Hermann Scheer bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk. Schönen Dank und auf Wiederhören, Herr Scheer.

    Scheer: Bitte schön!