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Hier und da eine Notiz

Der französische Schriftsteller Paul Léautaud war ein Original - bekannt als Theaterkritiker, als Klatsch liebender Tagebuchschreiber wie auch als Pariser Flaneur. 62 Jahre lang führte er ein literarisches Tagebuch. Jetzt wurde sein "Kriegstagebuch" editiert.

Von Sigrid Brinkmann | 26.05.2011
    Zeitgenossen wie die Schriftsteller Jean Paulhan, Georges Duhamel und Marcel Jouhandeau bewunderten Paul Léautauds Stilsicherheit, die geschliffenen Aphorismen, die schonungslose Offenheit seiner Prosa wie das Apodiktische seiner ästhetischen Urteile. "Der kleine Freund", "Das unvollendete Werk" und "In memoriam" gehören zum Kanon der französischen Literatur des 20. Jahrhunderts, doch die Tagebücher überragen die Prosabände noch. Sie sind Léautauds Lebenswerk. Seit 1895 war Léautaud beim Mercure de France angestellt. Er las Korrekturen und kümmerte sich um das Rezensionsgeschäft. Drei Wochen nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlor Léautaud - das "Maskottchen" des Mercure de France - die Arbeit, die seine Existenz sicherte. Dem prodeutschen Verlagsleiter Jacques Bernard war der schrullige Alte lästig geworden. Aus Fontenay-les-Roses wollte Léautaud im Juni 1940 - als der Waffenstillstand besiegelt war und der Exodus aus Paris und den Vororten begann - auf keinen Fall flüchten.

    "Ich bleibe da. Mut ist das nicht. Es ist Kaltblütigkeit, Vernunft, Ungerührtheit, Wurstigkeit."

    Nur wenige Tage später, am 17. Juni 1940, notiert Léautaud:

    "Die Niederlage ist mir völlig gleichgültig. Genauso gleichgültig wie der erste Anblick eines deutschen Soldaten neulich. Sie ist der Preis für allzu viele Dummheiten, Unfähigkeiten. (…) Die meisten meiner Nachbarn sind weg. Guillons Kinder, diese Brüllaffen, weg. Die Straßen ruhig. Das alles wird wiederkommen."

    Immer wieder lässt Léautaud seiner Verachtung für die gewöhnlichen Franzosen freien Lauf. In seinen Augen: stumpfsinnige Trunkenbolde, die zu viele Kinder zeugen, und Arbeiter, die an nichts als "bezahlten Urlaub" denken. Er geriert sich ganz offenherzig als "Antidemokrat". Hanns Grössel zur Frage, woher Léautauds antisoziales, antipatriotisches Verhalten rührt:

    "Vieles versteht man bei Léautaud am besten, wenn man sich klarmacht, dass er ein absoluter Rationalist war. Er war ja kein Vaterlandsverräter, er war auch schon gar kein Kollaborateur, aber die vernunftmäßige Betrachtung der Politik und insbesondere des Krieges hat ihn dazu geführt, schon im Ersten Weltkrieg zu schreiben - das habe ich ins Motto übrigens übernommen: 'Krieg ist der gesetzliche Rückfall in die Barbarei' -, und das hat er im Ersten Weltkrieg allen anderen gegenüber aufrecht erhalten, während ja viele - nicht nur in Frankreich -, viele Literaten und Dichter dann plötzlich Kriegsgesänge anstimmten, patriotische Lieder verfassten usw., usw. Das Ungesellige - die Franzosen, die jedes zweite Haus zur Kneipe machen und immer einen trinken müssen -, das ist nicht ganz Léautaud-spezifisch. Man darf nicht vergessen, die Niederlage von 1940 wurde nicht nur von Léautaud, sondern auch von anderen begriffen als die Folge einer nationalen Schwäche und dass man gestraft war durch diese Niederlage."

    Léautaud beschreibt die Lebensmittelrationierungen, das Fehlen von Brennstoff, den ganzen eklatanten Mangel unter der Besatzung. Er erwähnt Hinrichtungen von Widerstandskämpfern in Pariser Vororten. Zu den massenhaften Deportationen von Juden nach Razzien, die am 16. Juli 1942 mitten in Paris wie im ganzen Land durchgeführt wurden, findet sich indes kein Eintrag.

    "Er spricht allerdings sehr teilnahmsvoll von einzelnen jüdischen Schicksalen aus seiner Umgebung. Dass zum Beispiel ein Buchhändler aus dem 5. Arrondissement, den er über 20 Jahre kannte, plötzlich weg ist, dessen Laden beschlagnahmt, alles abgekarrt, das empört ihn. Das ist keine Verteidigung, aber man muss es vielleicht doch erwähnen: Das Tagebuch in seiner Originalausgabe, das 1966 vollständig vorlag auf Französisch, hat ja Lücken. Zum Beispiel fehlt unter dem 4. Mai 1944 die Begegnung mit Ernst Jünger, während Jünger am 4. Mai eine ausführliche Beschreibung dieser Begegnung hat. In der französischen Ausgabe ist nicht einmal das Datum 4. Mai 1944 vorhanden. Ich nehme also an, dass aus einer nachträglichen politischen Rücksichtnahme - auch wenn Léautaud schon tot war - man gewisse Dinge einfach weggelassen hat."

    Jünger erkennt schon nach der ersten Begegnung in Léautaud einen Autor, "der auf der geraden Linie verblieben ist, ohne romantische Schwächung". Léautaud, schreibt er, sage "viel weniger Unnötiges als alle anderen seiner Kollegen". In Jüngers Augen ist Paul Léautaud ein für das Tragische wie auch für jeden Sühnegedanken unzugänglicher Moralist. Dass Ernst Jünger sein Buch "In memoriam" übersetzen wollte, kommentierte Léautaud mit Worten, die für Franzosen in den Monaten kurz vor der Befreiung im August 1944 provozierend klangen:

    "Wenigstens ein Deutscher und ein Franzose werden 'kollaboriert' haben."

    Léautauds Nachlass wird in der Pariser Bibliothèque littéraire Jacques Doucet aufbewahrt. Er selbst hatte keine leiblichen Nachfahren und überließ die Rechte seiner langjährigen Freundin Marie Dormoy. Sie entzifferte die mit dem Gänsekiel geschriebenen Tagebücher in jahrzehntelanger Arbeit. Seit Dormoys Tod verfügt die Literaturwissenschaftlerin Edith Silve-Cardonne über die Rechte. Silve-Cardonne hat ein Buch über Léautauds Tätigkeit beim Mercure de France publiziert und einen Freundeskreis gegründet, dem Léautauds außerordentliche Tierliebe ein großes Anliegen ist. Edith Silve-Cardonne hat Hanns Grössel die Lektüre unveröffentlichter Tagebuchteile verweigert - ohne Gründe zu nennen. 2008 erschienen in der berühmten Pléiade-Ausgabe Ernst Jüngers Werke der frühen und mittleren Jahre. Literaturkritiker feierten die kritische Ausgabe als großes Ereignis. Auch deshalb befremdet die Zurückhaltung von Léautauds Nachlassverwalterin, denn zu den wesentlichen Entdeckungen des "Kriegstagebuches" gehört die gegenseitige Wertschätzung der passionierten Tagebuchschreiber und so ungleichen Persönlichkeiten Ernst Jünger und Paul Léautaud.

    Dass Léautaud ein Kriegstagebuch anlegte, geschah auf Anregung der Franco-Amerikanerin Florence Gould. Er kam häufig zu den "Donnerstagtreffen" der Mäzenatin in die Avenue de Malakoff im 16. Arrondissement, ebenso wie Jean Paulhan, der die Zeitschrift Nouvelle revue francaise herausgab und Kontakte zum Widerstand hatte. Die Offiziere Gerd Heller und Ernst Jünger wurden als Gäste von Gould umworben. Jüngers Tagebuch "Gärten und Straßen" lag bereits 1942 in französischer Übersetzung vor, und Léautaud hatte es mit Begeisterung gelesen. Der geschmeichelte Jünger wiederum versprach Léautaud, dessen literarische Vater-Abrechnung "In memoriam" ins Deutsche zu übertragen. Er begann im Januar 1948 mit der Arbeit und schloss sie nach langen Unterbrechungen im April 1978 ab. Seit fünf Jahrzehnten beschäftigt sich Hanns Grössel immer wieder mit Paul Léautaud. Was bewundert er an diesem Autor, der sich als "écrivain par-ci, par-là" betrachtete: als Schriftsteller, der "hier und da" die Gelegenheit ergriff, etwas zu notieren?

    "Die Aufrichtigkeit, die auch in sich kontroverse Spontaneität: Sie kriegen ihn ja nicht auf einen Nenner, weder politisch noch sonst. Aber, wenn überhaupt ein Tagebuch spontan und ohne allzu große stilisierende Zwischenstufen Gestalt gewonnen hat, würde ich sagen, ist es Léautaud. Und dass er das auch durchgehalten hat - jetzt meine ich nicht die Länge der Jahre und die Menge der Eintragungen, sondern das Bewusstsein: Ich bin ich, der ich bin. Ich werde nicht besser, ich werde nicht schlechter, ich bin auch kein großer Denker, aber was ich mache, das bin ich. Dieses ungetrübte Durchscheinen dieser Person durch seine Prosa, das finde ich schon sehr beeindruckend, und das hat mich auch immer wieder in Gang gebracht."

    Paul Léautaud: "Kriegstagebuch. 1939 - 1945". Herausgegeben und übersetzt von Hanns Grössel. Gebunden, Halbleinen, 192 Seiten, 20,00 Euro, Berenberg Verlag, Berlin 2011