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Hilary Mantels neuer Roman
Thomas Cromwell, ein Spindoktor der ersten Stunde

Der englische König Heinrich VIII. ließ Frauen köpfen, aber er traf keine Entscheidung ohne seinen engsten Berater Thomas Cromwell. Die britische Autorin Hilary Mantel beschreibt dessen Aufstieg und Fall in preisgekrönten Romanen. Der dritte Teil ihrer Trilogie ist jetzt in Großbritannien erschienen.

Von Sandra Pfister | 05.03.2020
Das Gemälde von Hans Holbein zeigt ein porträt von Thomas Cromwell, dem 1. Earl of Essex.
Thomas Cromwell - lange Zeit war er die rechte Hand des englischen Königs Heinrichs VIII. (picture alliance / dpa / Active Museu/MAXPPP)
Kein Wunder, dass Hilary Mantel mit ihren Romanen Erfolg hat. Das Drama der Tudor-Zeit ist ein Kondensat zeitloser Menschheitsthemen: Begehren, Heirat, Potenz, Fortpflanzung. Ja, vor allem Fortpflanzung. Ein Schelm, wer dabei daran denkt, dass Boris Johnson gerade angekündigt hat, noch einmal Vater zu werden. Heinrich VIII. verschliss eine Frau nach der anderen, um endlich, mit der nächsten vielleicht, einen Thronfolger zu zeugen. Hilary Mantel erklärt die Verbindung von Geschichte und Gegenwart:
"Jede Art von Beschäftigung mit der Vergangenheit muss uns zwangsläufig etwas über uns selbst erzählen, auf der Ebene unserer nationalen Mythen: wer wir glauben, wer wir sind, besonders in einer "nation in trouble", wie wir gerade eine sind."
Eine "nation in trouble" war auch England in den 1530er Jahren. Hilary Mantel sagt: Heinrich der Achte tauge nicht als Heldenfigur für Brexiteers:
"Er ist verletzlich. Er hat eben keine absolute Macht. Er muss sich vor dem Parlament verantworten, aber über allem schwebt sein persönliches Problem: das biologische Problem. Die Angst vor Impotenz. Sein Körper gehört nicht im ihm selbst, und dieser Körper ist krank und wird alt."
"England kann nicht alleine bestehen"
Als der Papst es ablehnt, seine erste Ehe zu annullieren, sagt sich Heinrich nicht nur von Rom los. Er legt sich implizit auch mit den katholischen Großmächten Frankreich und Spanien an. Klingt nach einer perfekten Brexit-Blaupause.
"England kann nicht alleine bestehen. Niemand macht sich Illusionen darüber. Auf jeden Fall hat England Ambitionen, eine größere Rolle in Europa zu spielen, keine geringere."
Mantel ist sehr anti-Brexit und überhaupt sehr politisch. Aus ihrer - Zitat - "kochenden Verachtung" für Maggie Thatcher hat sie nie ein Hehl gemacht. Der zentrale Mann auf Hilary Mantels Tudor-Bühne ist bemerkenswerterweise ein "working class hero": Thomas Cromwell, Chefberater des Königs, Aufsteiger aus kleinen Verhältnissen, Sohn eines Schmieds - und damit ganz unten in der Hackordnung, erklärt Mantel:
"Sie dachten damals: Wenn Gott Dich als von niedrigem Stande geschaffen hat, dann ist es moralisch angemessen, dort, nämlich unten, zu bleiben. - Und deshalb wurde Cromwell von normalen Menschen als jemand gesehen, der sich aus seiner Situation erhoben hat, wahrscheinlich mithilfe dunkler Mächte. Und er war das schlechte Blut im Council des Königs."
Cromwell und Cummings als mächtige Männer im Hintergrund
Cromwell mutiert zur brutalen Bulldogge im Politikbetrieb, der hinter den Kulissen für Heinrich den Achten die Strippen zieht. Unweigerlich muss man an Dominic Cummings denken, den Chefberater von Boris Johnson, der sich als Spiritus Rector und selbst inszenierter Außenseiter gerade mit dem britischen Beamtenapparat und der BBC anlegt.
Und die Frauen? Sie waren, wie Mantel es so schön ausdrückt, "walking wombs" für die Monarchie: Gebärmütter auf zwei Beinen. So ähnlich hat sie sich auch über Kate Middleton geäußert und dafür heftige Kritik einstecken müssen:
"Ich denke, die Körper der Frauen der Königsfamilie sind immer noch unter scharfer Beobachtung. Es geht um Haut, Knochen, Hautfarbe und die Fähigkeit, Nachkommen hervorzubringen. "
Liebe, Fortpflanzung, Machterhalt: Jenseits dessen bleibt, dass die Tudor-Zeit als Hochphase der englischen Nation verklärt wird.
Tudor-Ära und Brexit-Debatte
Aber am Ende der Tudor-Zeit war das Land religiös tief gespalten zwischen Katholiken und Reformierten. Engländer in der Tudor-Ära konnten sich mit der gleichen Verve darüber streiten, ob wirklich der Leib Gottes in einer Hostie steckt, wie sich Briten heute darüber streiten können, ob ihre Pässe wieder britisch-blau werden sollen oder europäisch-weinrot bleiben sollen. In ihrer Hauptfigur, Thomas Cromwell, zeigt Hilary Mantel, wofür ihr Herz in beiden Glaubenskriegen schlägt:
"Cromwell mag nicht der Mann für alle Fälle sein, aber er ist ein Mann für 2020. Er ist ein Pragmatiker."