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Hinhaltetaktik mit freundlichem Gesicht

Der Beitritt Rumäniens und Bulgariens zur Europäischen Union am 1. Januar 2007 steht vor der Tür, weitere Staaten sind im Gespräch. Es scheint ein Kreislauf zu sein: Je mehr Länder beitreten, desto mehr Europa-Interessenten klopfen an die EU-Tore. Vielen Anwärtern auf den Europastatus hat die EU breits ihr Wort gegeben, aber die Zukunft der EU bleibt offen.

Von Peter Kapern | 03.05.2005
    Wirklich festlich war der Rahmen nicht, als die jüngste Erweiterung der Europäischen Union besiegelt wurde. Der Innenhof der Abtei Neumünster in Luxemburg, von einem modernen Glasdach überwölbt, sah aus wie eine mit Stuhlreihen ausstaffierte Kühlkammer. Die Farbe Grau überwog, trotz einer handvoll Blumengestecke. Und selbst die Europa-Hymne klang an diesem Tag fremd.

    Regierungsvertreter aus 27 Ländern unterzeichneten an diesem 25. April die Beitrittsurkunde, die Rumänien und Bulgarien die Tür zur Europäischen Union endgültig öffnet. Vom 1. Januar 2007 an sollen die beiden Staaten dazugehören. Das kühle Ambiente spiegelte die Seelenlage der EU bei diesem Festakt wider. Es ist ein Beitritt, der Bauchschmerzen bereitet. Das Ausmaß der Korruption in Rumänien, die bislang unzureichende Reform des Justizwesens in Bulgarien – es gibt gute Gründe, skeptisch zu sein. Hinzu kommt die weit verbreitete, diffuse Stimmung unter den EU-Bürgern, dass so kurz nach der letzten, großen Erweiterungsrunde die EU nicht noch weiter wachsen sollte.

    Rund ein Jahrzehnt ist es her, dass die EU auch Rumänien und Bulgarien versprochen hat, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangene Spaltung des Kontinents durch einen EU-Beitritt überwinden zu können. Doch als Rumäniens Staatspräsident Traian Basescu das Versprechen an diesem 25. April aufgriff, da klang das angesichts der um sich greifenden Sorgen um Lohndumping und Arbeitsplatzverluste fast anachronistisch:

    "Nachdem wir in Jalta nicht gefragt worden sind, was wir wollen, unterzeichnen wir heute einen Vertrag, der uns das Recht gibt, nach Europa zurückzukehren. Danke, Europa."

    Um maximal ein Jahr kann die EU den Beitritt Rumäniens und Bulgariens aufschieben, falls der notwendige Reformprozess nicht vorankommt. Aber spätestens dann, am 1. Januar 2008, wird die EU rund 30 Millionen neue Bürger haben. Und nun stellt sich – wieder einmal – die Frage, wie es die Union danach halten will mit den Ländern in ihrer Nachbarschaft. Folgt Erweiterungsrunde auf Erweiterungsrunde? Gibt es eine Alternative dazu? Wer darf rein in den Club, wer muss draußen bleiben? Und was geschieht mit denen, die nicht dazu gehören sollen? Fragen, auf die in der Europäischen Union keine präzisen Antworten existieren.

    Rein geographisch, das steht fest, lässt sich die Frage nach der denkbar größten Ausdehnung der EU derzeit nicht klar beantworten. Der eine hält sie schon jetzt für erreicht, andere wollen nicht nur die Türkei, sondern auch die Ukraine aufnehmen, manche schließen gar einen Beitritt der Kaukasus-Republiken nicht aus. Und was ist mit Weißrussland und Moldawien? Ganz abgesehen davon, dass die Staaten des westlichen Balkan ein Beitrittsversprechen bereits in der Tasche haben. Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok erläutert, warum die EU bislang ihre äußerste Ausdehnung nie definiert hat:

    "Weil man dann Einzelnen "Nein" sagen muss – und dazu hat man nicht die Fähigkeit und nicht die Einigkeit. Man muss dann die Tür zuschlagen, und das wäre vielleicht auch nicht gut, weil man die Länder ja auch zum Teil wegen ihrer strategischen Bedeutung in unserem Lager halten möchte."

    Brok ist der Vorsitzende des Außenpolitischen Ausschusses im Europaparlament. Statt einer geographischen, so seine Auffassung, hat die EU eher eine technische Grenze zu ihren Nachbarn:

    "Die Grenzen liegen in der Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union, und hier müssen wir feststellen, dass wir nach 10 plus 2 Mitgliedern jetzt das Maximum erreicht haben, was wir unter den gegenwärtigen Gesichtspunkten machen können. Das heißt, wir brauchen jetzt eine Phase der Konsolidierung und wir müssen klar erkennen, dass große Reiche zum Zeitpunkt ihrer größten Ausdehnung oftmals schon im Niedergang waren, weil sie den Laden nicht zusammenhalten konnten, und deswegen liegt darin jetzt die Begrenzung,"

    die allerdings nur vorübergehend gilt, denn nach einer Phase der Konsolidierung, das schließt auch Brok nicht aus, könnte die EU weitere Mitgliedstaaten aufnehmen. Das sieht man auch in der anderen großen Fraktion des Europaparlamentes so. Hannes Swoboda, Sozialdemokrat aus Österreich, verlangt deshalb, dass die Idee eines weiter wachsenden Europas offensiv von den Regierungschefs vertreten werden muss:

    "Was uns fehlt sind Politikerinnen und Politiker, die das vermitteln, worum es uns geht, wenn nicht um Sicherheit und Stabilität, und das bedeutet auch eine bestimmte begrenzte, und doch eine Ausweitung der Europäischen Union. Das sollte uns klar machen, dass wir ein starkes Europa brauchen. Das kann nicht nur ein kleines Europa sein, sondern es muss relativ auch von der Menge seiner Einwohner und seiner Länder, ein Europa sein, das größer ist, jedenfalls als das frühere Europa der 15, und wahrscheinlich auch größer ist als das Europa von heute."

    Bei einer ganzen Reihe von Staaten steht die EU bereits im Wort, was den Beitritt zur Gemeinschaft angeht. An erster Stelle steht da Kroatien. Wirtschaftlich betrachtet, da sind sich alle Akteure einig, würde ein Beitritt Kroatiens weniger Probleme bereiten als einige jener Staaten, die vor einem Jahr in die EU aufgenommen worden sind. Und eigentlich sollten die Beitrittsgespräche mit Zagreb bereits Ende März beginnen. Doch dann wurde Kroatien von seiner jüngsten Vergangenheit eingeholt. Carla del Ponte, die Chefanklägerin beim Jugoslawien-Tribunal in Den Haag, warf staatlichen Stellen in Kroatien vor, die Auslieferung des mutmaßlichen Kriegsverbrechers Ante Gotovina zu verhindern. Die Verhandlungen können erst beginnen, wenn Kroatien mit dem Kriegsverbrechertribunal vollständig kooperiert. So die Botschaft aus Brüssel. Und die wurde auf dem gesamten Balkan gehört, sagt Erhard Busek, Chef des EU-Stabilitätspaktes für Südosteuropa:

    "In Kroatien hat dies zunächst Depressionen erzeugt, ein bisschen auch, und das ist im nationalen Charakter der Kroaten - wenn es so etwas gibt zu Hause, war quasi eine Kränkung: Und schon wieder sind wir hier ein Opfer, und man kennt uns nicht richtig. Für die anderen Länder ist es natürlich ein gewisser psychologischer Schock, der einerseits heilsam ist. Man muss also noch Den Haag liefern. Andererseits natürlich zeigt, wie sehr das auch von politischen Umständen abhängt."

    Doch irgendwann, das ist Beschlusslage der Union, sollen alle Westbalkanstaaten die Beitrittsurkunde unterzeichnen können -trotz der noch zu bewältigenden, gigantischen Probleme. Bosnien-Herzegowina ist nach dem Bürgerkrieg als homogener Staat noch immer nicht stabilisiert, Serbien-Montenegro ist von der Spaltung bedroht, ganz abgesehen von der ungelösten Kosovo-Frage. Und die Albaner, so Erhard Busek, stehen der Idee eines modernen Staates fremd gegenüber:

    "Die Albaner haben Schwierigkeiten, Staaten bildend zu sein. Das Clanwesen, das ihnen zum Überleben im osmanischen Reich beigetragen hat, ist immer noch sehr stark. Also, das was wir als Staatsgewalt, die Herrschaft des Gesetzes ansehen, ist dort ganz sicher eine Schwierigkeit."

    Bleibt noch Mazedonien, das dem Stabilitätspaktchef nach Kroatien noch am ehesten beitrittsbereit erscheint. Vor diesem Hintergrund ist die Prognose Buseks, wann auch das letzte Land der Region zur EU gehören könnte, schon recht optimistisch:

    "Also, ich würde sagen, dass zwischen 2015 und 2020 die Periode sein könnte, wenn – ja wenn – alles normal vor sich geht."

    Und dann gibt es noch ein weiteres Land, mit dem die Beitrittsgespräche bereits terminiert sind. Es war ein politischer Sieg für Bundeskanzler Gerhard Schröder, als beim EU-Gipfel im Dezember 2004 dieser Termin festgezurrt wurde, obwohl die Skepsis so groß war wie bei keinem anderen Beitrittsaspiranten zuvor:

    "Es sieht so aus, dass nach sehr langen, sehr intensiven Gesprächen Beitrittsverhandlungen mit der Türkei am 3. Oktober beginnen werden. Das Ziel ist klar definiert, den Termin gibt es, und Alternativen dazu sind nicht formuliert worden."

    Die Bedenken sind zahlreich. Die Türkei sei zu groß, islamisch, nicht europäisch, nicht demokratisch, zu arm – all diese Argumente gegen einen EU-Beitritt des Landes am Bosporus wurden angeführt. Doch am Ende standen die Staats- und Regierungschefs zu der Zusage, die der Türkei vor rund vier Jahrzehnten gegeben worden war. Allerdings: Die im Herbst beginnenden Verhandlungen, so wurde immer wieder betont, werden mindestens zehn Jahre dauern.

    Dieser Gipfelbeschluss wirkte wie ein Dammbruch, wie ein Katalysator, und zwar gleich in mehrfacher Hinsicht: Einerseits meldeten nun Staaten, die bislang keine realistische Beitrittschance sahen, nachdrücklich ihr Interesse an einem EU-Beitritt an. Etwa Georgien, das ankündigte, in zwei Jahren einen Beitrittsantrag zu präsentieren. Vor allem aber drängt nun die Ukraine, nach der orangenen Revolution, mit Macht in die EU.

    Verständlicherweise, wie Elmar Brok meint:

    "Wenn man jetzt mit der Türkei Verhandlungen aufnimmt, und sie zur EU führen will, können Sie mir einen vernünftigen Grund sagen, warum wir das nicht mit der Ukraine machen dürfen? Die Ukraine ist ein europäisches Land, ist ein demokratisches Land, zumindest in der Entwicklung sehe ich es jetzt so, und deswegen gibt es gar keinen vernünftigen Grund, mit der Ukraine nicht ähnlich zu verfahren. Aber da wir das beides nicht schaffen können, weil es die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union überdehnen wird, müssen wir ihnen etwas anderes anbieten."

    Und das ist der zweite Aspekt, bei dem die Türkei-Entscheidung als Katalysator gewirkt hat. Seither sucht die EU nämlich verstärkt nach einer Alternative zu immer neuen Erweiterungsrunden. Was – so lautet die Frage - lässt sich Nachbarstaaten, die in die EU drängen, anstelle einer Mitgliedschaft anbieten? Als Antwort reanimierte die Kommission ein Konzept, das der frühere Erweiterungskommissar Günther Verheugen bereits 2003 in den Grundzügen entwickelt hatte: Die so genannte Nachbarschaftspolitik. Die für die Außenpolitik zuständige EU-Kommissarin Benita Ferrero-Waldner:

    "Der Grundgedanke ist, das wir um diese erweiterte Europäische Union, die ja um zehn Staaten mehr hat jetzt, einen Ring von Freunden aufbauen wollen, und mit diesen enger zusammenarbeiten wollen, sie sozusagen näher an Europa heranführen wollen. Damit das möglich ist, bieten wir auch einen Bereich an, direkt im Binnenmarkt mit zumachen, bestimmte Politiken gemeinsam zu gestalten, aber auf der anderen Seite, was wir machen wollen ist, wir sagen, wir wollen auch mehr Demokratie, wir wollen mehr Rechtsstaatlichkeit, wir wollen mehr Menschenrechte sehen, in diesen Ländern."

    Das Prinzip dieser Nachbarschaftspolitik ist also das Geben und Nehmen. Für eine engere Kooperation erwartet die EU die Einhaltung europäischer Standards: Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Dafür gibt es Unterstützung aus Brüssel, vor allem finanzielle Unterstützung.

    Doch das Kooperationsangebot geht noch deutlich weiter: Die Länder, die an der Nachbarschaftspolitik teilnehmen, sollen Schritt für Schritt in Teilbereiche der EU-Politik integriert werden. Sie sollen am Binnenmarkt teilhaben, sie sollen in die Bildungs-, Forschungs- und Kulturprogramme der EU eingebunden werden. Die Kooperation bei der Bekämpfung von organisierter Kriminalität, illegaler Einwanderung und Terrorismus soll forciert werden.

    Aber: Die Nachbarschaftspolitik beinhaltet keine förmliche Integration der Partnerländer in die EU-Institutionen. Sie sollen keine Abgeordneten ins Europaparlament entsenden, keine Kommissare stellen und auch in die Beschlüsse des Ministerrates nicht eingebunden sein. Kurzum: Mit der Nachbarschaftspolitik versucht die EU, ein Maximum an Kooperation anzubieten, das aber unterhalb der Mitgliedschaft liegt.

    Mit den Staaten, die an dieser Kooperationsform interessiert sind, werden individuelle Aktionspläne erstellt. Darin wird exakt festgelegt, in welchen Bereichen die Anbindung des jeweiligen Landes an die EU intensiviert werden soll. Aber ebenso genau wird darin festgeschrieben, welche Reformen die EU im Gegenzug erwartet. In jährlich zu erstellenden Fortschrittsberichten soll dann überprüft werden, ob die Vereinbarungen des Gebens und Nehmens umgesetzt wurden.

    Außenkommissarin Benita Ferrero-Waldner:

    "Wir bieten dafür ein sehr ausgewogenes, maßgeschneidertes Programm für jedes Land an, jedes Land kann selber seine Prioritäten feststellen, damit auch das Prinzip der Ownership, das heißt, dass sie selber wirklich etwas machen wollen, auch sehen."

    Sieben solcher Aktionspläne sind bereits unterzeichnet worden. Mit der Ukraine, mit Moldawien, Marokko, Tunesien und Jordanien, mit Israel und Palästina. Mit fünf weiteren Ländern wird derzeit darüber verhandelt, nämlich mit den Kaukasusrepubliken Georgien, Aserbaidschan und Armenien sowie mit Ägypten und dem Libanon. Und schließlich bietet die EU auch Weißrussland, Algerien und Libyen eine Mitgliedschaft in der Nachbarschaftspolitik an, wenn diese Länder auf dem Weg zur Demokratie erst einmal vorangekommen sind.

    Die Endstufe wäre, um die Worte der Außenkommissarin Ferrero-Waldner aufzugreifen, ein Ring von Freunden, der von der Grenze Russlands bis nach Nordafrika reicht. Allerdings: Auch mit dieser Nachbarschaftspolitik stillt die EU nicht das Verlangen vieler Staaten nach mehr, nämlich nach der Vollmitgliedschaft in der Union. Anette Heuser von der Bertelsmannstiftung:

    "Das Problem der direkten Nachbarschaftspolitik besteht nun darin, dass es von den Ländern, an die es sich richtet, als Vorbeitritts-Strategie wahrgenommen und definiert wird, während die EU dieses Instrument definiert, lediglich als ein Element der engeren Heranführung dieser Staaten an die Europäische Union. Und es ist ganz klar, dass bei diesen unterschiedlichen Wahrnehmungen auch sehr schnell Frustrationen entstehen können, beispielsweise in Moldawien oder der Ukraine, wenn sich nicht sehr schnell eine konkrete Beitrittsperspektive für die Länder bietet."

    Die EU wird also auch weiterhin von Nachbarn bedrängt werden, die Türen für neue Mitglieder geöffnet zu halten. Aber auch innerhalb der EU gibt es viele Staaten, die möglichst bald einige Partner der Nachbarschaftspolitik als Vollmitglieder begrüßen wollen. Polen, Ungarn, Tschechien und die baltischen Staaten machen sich für den schnellen Beitritt der Ukraine stark, sie halten das Angebot der Nachbarschafspolitik an Kiew für nicht ausreichend.

    Rumänien hat zudem ein starkes Interesse an der Aufnahme Moldawiens. Auch unter den derzeitigen Mitgliedern ist also umstritten, was die Nachbarschaftspolitik sein soll: Eine Alternative zum EU-Beitritt oder eine Vorbereitung darauf. Damit ist klar: Die Nachbarschaftspolitik löst das Problem der EU nicht, sie kann allenfalls den Moment, in dem über die Mitgliedschaft weiterer Staaten entschieden werden muss, hinauszögern. Sie ist – ein Spiel auf Zeit. Der österreichische EU-Abgeordnete Hannes Swoboda:

    "Die Nachbarschaftspolitik ist im Fluss, und ist damit noch keine endgültige Antwort. Aber sie ist insofern eine Antwort, als sie für die Übergangsphase, also für die nächsten Jahre - einmal klar sagt: Im Vorrang steht eine Verbesserung der Menschenrechts-Situation, eine Verbesserung der Sicherheits-Situation, und eine Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung. Über institutionelle Fragen, nämlich auch über die Frage der Mitgliedschaft wird derzeit nicht gesprochen. Darauf gibt es keine Antwort. Aber es schafft die Voraussetzungen dafür, dass wir gut miteinander auskommen und eventuell auch die Frage der Mitgliedschaft angehen, wenn es Sinn macht und wenn es die Europäische Union stärken würde."

    Im Europaparlament werden zurzeit Konzepte erörtert, wie die Nachbarschaftspolitik stärker ausdifferenziert werden kann. Die Idee: Europäischen Staaten soll eine engere Kooperation angeboten werden als den nordafrikanischen Nachbarn. Hinter diesem Plan verbirgt sich die Hoffnung, dass mit einer noch intensiveren Zusammenarbeit der Druck beitrittswilliger Staaten nachlässt. Denn dies, so Elmar Brok, leistet die Nachbarschaftspolitik nicht:

    "Ich gehe mal etwas phantasielos los, dass man von Marokko bis Weißrussland dasselbe Konzept anwendet. Hier muss man differenziert vorgehen. Die Länder sind gleich wichtig, aber die Methode muss differenziert sein. Das hat damit zu tun, dass osteuropäische Länder europäische Länder sind, und damit möglicherweise mal die Perspektive zur Mitgliedschaft haben, während nordafrikanische Länder wichtig sind, wirtschaftlich, strategisch, aber niemals Mitglied der Europäischen Union werden können."

    Elmar Brok schlägt deshalb eine Reaktivierung des EWR, des Europäischen Wirtschaftsraumes, vor. Diese Organisation fristet derzeit ein Mauerblümchendasein. Der EWR verbindet zwei europäische Organisationen miteinander: Die EU und die Europäische Freihandelsassoziation EFTA, die 1959 gegründet wurde. Beide Organisationen, EFTA und EU, schufen mit dem EWR einen gemeinsamen Wirtschaftsraum. Etliche Staaten, die früher der EFTA angehörten, haben mittlerweile das Lager gewechselt. Großbritannien, Finnland, Irland, Dänemark, Portugal und Schweden sind längst EU-Mitglieder. Zur EFTA zählen heute nur noch Island, Norwegen, Liechtenstein und die Schweiz. Die Kooperation von EFTA und EU im EWR, könnte, so Elmar Brok, ein reizvolleres Angebot für die europäischen EU-Anrainer sein, als die Nachbarschaftspolitik:

    "Wir müssen es dadurch machen, dass wir wieder so etwas wie einen europäischen Wirtschaftsraum schaffen, der anderen Ländern in Europa auch eine zweite Option neben der Vollmitgliedschaft schafft; dass sie am Europäischen Binnenmarkt teilnehmen können, an manchem anderen, und das hat prinzipiell die Möglichkeit, dass einzelne Länder davon in die Europäische Union hineinkommen können. Aber es ist nicht mehr die Frage des Alles oder Nichts, Vollmitglied oder gar nichts. Und ich glaube, hier müssen wir entsprechend ansetzen, für europäische Länder Nachbarschaft so zu formulieren, dass sie in einem solchen multilateralen Verbund sind."

    Für Hannes Swoboda, den Außenpolitiker der sozialistischen Fraktion im Europaparlament, ist der EWR aber noch nicht die richtige Antwort auf die Frage, wie es die EU mit ihren Nachbarn halten soll. Einerseits fehlt dem EWR seiner Auffassung nach eine politische Komponente, andererseits geht ihm die wirtschaftliche Integration, die der EWR bietet, zu weit. Was er vorschlägt, das ist:

    "Der europäische ist ein Wirtschafts- und politischer Raum, denn mit der Türkei und auch mit den anderen Ländern müssen wir gemeinsame politische Strategien, gerade auch hinsichtlich der Sicherheit machen. Und außerdem geht der Wirtschaftsraum zu weit, weil der eigentliche, der europäische Wirtschafsraum, sieht ja geradezu auch die Freizügigkeit auf dem Arbeitnehmersektor voraus, was wir sicherlich nicht einfach so völlig lösen können. Also, es ist eine geänderte und stärker politisch orientierte Fassung des europäischen Wirtschaftsraums, der in Kraft treten könnte. Aber es geht in die Richtung."

    Am Ende könnte die EU von mehreren Ringen von Freunden umgeben sein: Der eine umfasst die europäischen Nachbarn, von denen einige eine Beitrittsperspektive haben, andere jedoch nicht. Und der zweite Ring umfasst Staaten aus Nachbarregionen wie dem Nahen Osten und Nordafrika, die zwar als Partner benötigt werden, aber definitiv niemals der EU beitreten können. Auf jeden Fall aber weiß heute niemand, wie oft noch die Europahymne erklingt bei mehr oder wenig feierlichen Unterzeichnungen von Beitrittsverträgen.