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Hinter den Kulissen des "Antifaschistischen Musterstaates"

Die Legende von der DDR als "Hort des Antifaschismus" gehört bis heute zum argumentativen Rüstzeug von Ostalgikern, wenn es gilt, vermeintliche Pluspunkte des SED-Staates zu benennen. Henry Leide, Mitarbeiter der Birthler-Behörde in Rostock, hat in einer akribischen Recherche den Umgang von SED und MfS mit NS-Verbrechern recherchiert.

Von Karl Wilhelm Fricke | 07.11.2005
    Zeit ihrer Existenz hat sich die DDR in ihrer offiziellen Selbstdarstellung als der politisch bessere, der eigentlich antifaschistische Staat im geteilten Deutschland verklärt. Im Gegensatz zur Bundesrepublik schien der Staat der SED die nationalsozialistische Vergangenheit politisch bewältigt und zudem alle NS-Täter, derer die Strafjustiz habhaft werden konnte, konsequent zur Verantwortung gezogen zu haben. Der staatlich sanktionierte Antifaschismus geriet geradezu zum Gründungsmythos der DDR. Zweierlei Absicht verbanden die Machthaber mit dieser Art Vergangenheitspolitik: Einerseits diente sie – ein Surrogat mangelnder Legitimation durch das Volk – der Legitimierung ihrer Herrschaft. Andererseits ließ sich der demonstrativ zur Schau getragene Antifaschismus vorzüglich zur Propaganda gegen die Bundesrepublik instrumentalisieren. Der West-Staat wurde als Hort der Restauration gebrandmarkt, als Schutzgebiet für Alt- und Neo- Nazis. Selbst kritische Geister ließen sich täuschen. Wolf Biermann 1965 in seinem "Wintermärchen":

    ""Die DDR, mein Vaterland / ist sauber immerhin
    Die Wiederkehr der Nazizeit / ist absolut nicht drin.

    So gründlich haben wir geschrubbt / Mit Stalins hartem Besen
    Dass rot verschrammt der Hintern ist / Der vorher braun gewesen."

    Politische Versäumnisse des Bonner Staates bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und der Kalte Krieg in den fünfziger und sechziger Jahren begünstigten diese schiefe Perspektive zwar, aber die DDR hat nach Kräften auch propagandistisch nachgeholfen. Skrupel kannte sie nicht. Höhepunkte waren zwei manipulierte, aufwändig inszenierte Schauprozesse vor dem Obersten Gericht 1960 gegen den Vertriebenen-Minister Theodor Oberländer und 1963 gegen Hans Globke, Staatssekretär im Bundeskanzleramt, die in Abwesenheit wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. verurteilt wurden. Exemplarisch war ebenso die Mitte der sechziger Jahre entfesselte Diffamierungskampagne gegen den seinerzeitigen Bundespräsidenten Heinrich Lübke – seine Verteufelung als "KZ-Baumeister". Albert Norden, damals Chef-Propagandist der SED, auf einer Pressekonferenz in Ostberlin:

    "Und nun, meine Damen und Herren, machen wir Sie mit einem neuen Komplex bekannt, der den heutigen Bundespräsidenten der Teilnahme an Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen überführt, die ihn in jedem demokratischen Staat auf die Anklagebank bringen würden und die selbst nach den heute in Westdeutschland gültigen Gesetzen als Beihilfe zum Mord oder als Mord durch Unterlassung zu ahnden wären."

    Nordens Anschuldigungen waren an Maßlosigkeit kaum zu überbieten. .

    "Sehen Sie, meine Damen und Herren, man kann Häftlinge erschießen oder erschlagen. Das war die Sache der SS. Man kann Häftlinge durch Zwangsarbeit und Hunger vernichten. Das war die Sache des heutigen Bundespräsidenten Lübke."

    Wie aber verhielt die Sache sich wirklich?

    Als Bauleiter (hatte Lübke) in einem Flugzeugwerk Baracken errichtet, in denen später auch KZ-Häftlinge untergebracht wurden. Außerdem hatte er im Raketenversuchszentrum Peenemünde auch KZ-Häftlinge zur Errichtung von Arbeiterbaracken eingesetzt.

    Eine nüchterne Feststellung, Sie entstammt einer Monographie, die Henry Leide jetzt vorgelegt hat. In ihr werden die Vergangenheitspolitik der DDR und die verdeckte Rolle des Ministeriums für Staatssicherheit in diesem Kontext untersucht. Der heute 40-jährige Autor, der aus der Bürgerrechtsbewegung hervorging und 1988 aus der DDR ausgewiesen wurde, hat als wissenschaftlicher Mitarbeiter der Außenstelle Rostock eingehend in MfS-Akten forschen können. Im Ergebnis seiner umfangreichen Untersuchung zum Thema "NS-Verbrecher und Staatssicherheit" enthüllt er ein Bild der DDR, das den Nimbus vom Antifa-Staat arg ramponiert. Zitat:

    Risse bekam dieses Bild, als 1991 Journalisten und Historiker begannen, die einschlägigen Archivbestände des MfS genauer in Augenschein zu nehmen. Wie Götz Aly und andere zu ihrer Verblüffung feststellten, hatte das MfS – von der Öffentlichkeit in Ost und West unbemerkt – eine riesige Anzahl von verloren geglaubten Dokumenten der NS-Zeit aus ’sicherheitspolitischen Erwägungen bzw. politisch-operativen Gründen’ in einem besonderen Dokumentenspeicher zusammengezogen und verwaltet. Rasch kam der Verdacht auf, dass die vom MfS sorgsam gehüteten Akten (...) über NS-Täter auch für 'Erpressungen in und außerhalb der DDR, für Kampagnen gegen die braunen Eliten der BRD und sicher auch, um Strafverfahren zu vereiteln’, benutzt worden waren.

    Möglich wurde dies nach der Zentralisierung des DDR-Archivwesens in den sechziger Jahren, die den Stasi-Untersuchungsorganen einen monopolistischen Zugriff auf alle erfassten NS-Akten garantierte, zumal auf Akten des sogenannten Volksgerichtshofes und des Reichssicherheits-Hauptsamtes der SS. 1964 wurde zu diesem Zweck im MfS eigens eine Diensteinheit etabliert, die Abteilung 11 der Hauptabteilung IX, die NS-Akten politisch zweckbestimmt auszuwerten und zu selektieren hatte. Henry Leide:

    Hier galt als Zweck nicht Sühne, sondern der größte sicherheitspolitische Nutzen, und die Mittel richteten sich nicht nach den Erfordernissen und Schranken des Strafprozesses, sondern stammten aus dem Methodenarsenal der Geheimpolizei.

    Für seine Thesen bringt der Autor eine Fülle aktengestützter Belege bei. Sein Buch gleicht einer grandiosen Recherche. Um sich nicht im Uferlosen zu verlieren, hat er 35 Fall-Studien erarbeitet, die seine Beweisführung konkret machen.

    Die behandelten Fallstudien zeigen, dass das MfS systematisch und wissentlich NS-Täter bis hin zu Massenmördern als Informanten und Agenten in Ost und West rekrutierte und sie zugleich vor strafrechtlichen Ermittlungen und dem gerechten Urteil unabhängiger Gerichte bewahrte.

    Anders gesagt: Die Tschekisten der DDR waren keine antifaschistischen Saubermänner. Schon einzelne Kapitelüberschriften lassen ermessen, was der Autor bloßlegt:

    Zum Umgang mit NS-Belasteten im hauptamtlichen Personal des MfS" / "Anwerbungen und Anwerbungsversuche als inoffizielle Mitarbeiter" / "NS-Belastete im Westeinsatz" / "Mangelnder Verfolgungswillen bei 'Euthanasietätern’" / "Verweigerte Rechtshilfe und Vertuschungen.

    Zu den vom Autor dokumentierten Fällen, in denen das MfS belastete NS-Täter gedeckt hat, zählt der Vorgang Josef Settnik, eines ehemaligen Angehörigen der Lager-Gestapo im Vernichtungslager Auschwitz. Nach 1945 war der ehemalige SS-Rottenführer und Dolmetscher als unscheinbarer Lagerverwalter und Versandmeister im sächsischen Glashütte ansässig geworden. 1959 wurde er enttarnt, blieb aber nach eingehender Befragung ungeschoren, er durfte sich bewähren – als Inoffizieller Mitarbeiter der Stasi-Kreisdienststelle Dippoldiswalde, Deckname "Erwin Mohr", ein Spitzel, angesetzt auf Kollegen in seinem Betrieb und auf den Pfarrer seiner Kirchengemeinde.

    Besondere Brisanz gewann der Fall, als das MfS feststellte, dass einer der Söhne Settniks gerade die Militärakademie der Sowjetischen Streitkräfte in Leningrad besuchte und die Vergangenheit seines Vaters in seinen Personalunterlagen nicht erwähnt hatte.

    Selbst nach Hinweisen, dass Settnik persönlich an Häftlingsselektionen und Folterungen beteiligt war, schützte die Stasi ihren IM. Unbehelligt lebte er bis ins hohe Alter in der DDR, wo er mit 83 Jahren starb. Ähnliche Beispiele ließen sich unschwer auflisten. Sie in extenso darzustellen, fehlt im Rahmen einer Rezension die Zeit. Es ist auch nicht nötig. Ein einziger Fall schon ist bestürzend genug. Das Resümee des Autors:

    Einerseits haben die Sicherheits- und Propagandaapparate der SED Hunderte von ehemaligen, teils schwer belasteten Nationalsozialisten in hochrangigen Positionen von Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik aufgedeckt und angeprangert. (...) Auf der anderen Seite deckte das MfS selbst eine nicht geringe Zahl von mutmaßlichen NS-Verbrechern in der DDR – sorgsam beobachtet und abgeschirmt.

    Entscheidendes Kriterium für den Umgang mit ehemaligen Nationalsozialisten in der DDR war letztlich die politische Zweckopportunität. Henry Leides Buch bietet keine bequeme Lektüre, leicht zu lesen ist es nicht, aber es stellt ein historiographisch wichtiges, übrigens vorzüglich ediertes Werk dar. Indem der Autor den Antifa-Nimbus der DDR einer Revision unterzieht, leistet er einen originären Beitrag zur Geschichts- und Erinnerungspolitik.

    Karl Wilhelm Fricke über Henry Leide: NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR. Veröffentlicht bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen; das Buch umfasst 448 Seiten und kostet 29 Euro und 90 Cent.