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Hintergründige Spurensuche

Gianrico Carofiglios Romane um den Strafverteidiger Guido Guerrieri sind zwar Krimis mit allem, was dazu gehört. Sie verfolgen allerdings nicht die traditionelle Blutspur, sondern begeben sich eher auf die psychologische Fährte, die ein Verbrecher hinterlässt. "In freiem Fall" ist das aktuelle Werk.

Von Ingrid Müller-Münch | 12.06.2007
    Bari, Süditalien: Dort lebt Gianrico Carofiglio, ein Mann, mit zwei sehr unterschiedlichen Jobs:

    "Ich heiße Enrico Carofiglio. Ich habe zwei Berufe: der eine ist ein ganz Normaler. Ich bin Staatsanwalt in Süditalien. Der zweite ist der eines Schriftstellers. Vor 20 Jahren wurde ich Staatsanwalt, vor 5 Jahren Autor. Schon als Kind, um es einmal deutlich zu sagen, wollte ich nicht etwa Staatsanwalt, sondern immer nur Schriftsteller werden. Es hat lange gedauert, bis ich das dann auch wurde. Damit bin ich nun sehr glücklich."

    Gianrico Carofiglio begann erst mit 40 zu schreiben und wurde gleich ein erfolgreicher Autor. In Italien haben seine vier bislang erschienenen Romane insgesamt die Millionenauflage überschritten. In Deutschland ist soeben der zweite Band seiner Krimi-Trilogie um Guido Guerrieri, einem Strafverteidiger aus Bari, unter dem Titel "In freiem Fall" erschienen. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die einen Anwalt braucht aber keinen findet. Nur Guerrieri, der gutmütige Strafverteidiger aus Bari, lässt sich breitschlagen, wie sein Autor bei einer Lesung in Köln übersetzen ließ:

    "Avocato Guerrieri nimmt sich wieder eines relativ aussichtlosen Falles an. Er ist eine positive Figur aber nicht ganz ungebrochen. In einer Art Midlife-Crisis befangen, sehr engagiert. Auch politisch zu orten auf der linken Seite. In diesem Fall geht es um einen Stalker, also diese Figur eines Belästigers. Es wendet sich eine junge Frau an Avocato Guerrieri, die verfolgt wird von ihrem Ex-Freund nach der Trennung. Es geht nicht nur darum, dass dieser Freund sie geschlagen hat, sie belästigt hat, sie weiterhin verfolgt in allen möglichen Formen. Es geht leider auch darum, dass dieser Belästiger auch ein Protegierter ist, er ist der Sohn des Gerichtspräsidenten. Und es ist natürlich keine einfache Aufgabe, eine relativ schutzlose verletzbare verletzte Frau auch zu verteidigen gegen einen Vertreter der besseren Gesellschaft. Das so in groben Zügen die Geschichte von 'In freiem Fall'."

    "Gianluca Scianatico war ein stadtbekannter Tunichtgut, ein typischer Vertreter der sogenannten guten Gesellschaft von Bari. Ein paar Jahre älter als ich, ehemals faschistischer Schläger, Pokerspieler. Und kokainsüchtig, wie es hieß. Sein Vater war Ernesto Scianatico, Vorsitzender einer der Strafkammern am Berufungsgericht. Einer der mächtigsten Männer der Stadt. Sich mit ihm anzulegen, war ungefähr das Dümmste, was einem einfallen konnte, wenn man - wie ich - Strafverteidiger in Bari war."

    Doch Guerrieri kann nicht anders, er bringt sich immer wieder in Schwierigkeiten.

    "So ist sein Leben. Er ist auf der einen Seite ein schüchterner, sehr unsicherer Mensch, was sein Privatleben angeht, sagt oft Dinge, die er später bedauert. Er ist ein sehr schwacher Mann und ein sehr starker Profi in seinem Beruf. Er ist auf jeden Fall jemand, dem man sich anvertrauen kann. Gleichzeitig merkst Du, dass er ein Mann ist wie ich und du. Voller Schwächen, voller Probleme, ja vielleicht davon sogar noch mehr hat als du selbst. Über seine inneren Dialoge kann man schmunzeln."

    "'Kompliment Guerrieri', sagte ich laut vor mich hin, wie ich es schon als Kind getan hatte, wenn der Lärm der Gedanken in meinem Kopf allzu heftig wurde. 'Da hast du dir wieder mal was Schönes eingebrockt. Die schicksalshafte Schwelle der Vierzig hast du überschritten, aber dein Talent, dich in
    Schwierigkeiten aller Art und Größenordnung zu manövrieren, ist ungebrochen. Bravo.'"

    Sein Autor Gianrico Carofiglio hat inzwischen auch den deutschen Krimimarkt mit seinem sensiblen, vielschichtigen Avvocato Guido Guerrieri erobert. Sein neuestes auf Deutsch erschienenes Buch "In freiem Fall", zeigt einen Anwalt, voller Selbstzweifel, Alterskrisen, seelischen Tiefen und Höhen. Wobei sich sein Avvocato mehr und mehr als Identifikationsfigur alternder Männer anbietet, die sich zunehmend beim Blick in den Spiegel erschrecken, wo wie Guerrieri, der sich gerade die Zähne putzt und dabei etwas Ungewohntes entdeckt:

    "Eine Art Schatten, eine leichte Schwellung. Ja, da waren tatsächlich zwei ganz leichte Schwellungen, genau zwischen Unterlid und Wangenknochen. Tränensäcke, dachte ich wortwörtlich. Scheiße."

    "Ganz allgemein gesagt, mag ich Menschen, die einen eher gespaltenen Charakter haben. Das mag ich in meinen Büchern aber auch im wirklichen Leben. Ich mag keine Menschen, die eintönig nur schwarz oder weiß sind. Ich mag sie lieber facettenreicher. Im Buch wie im Leben liebe ich Männer mit einer weiblichen Seite und Frauen mit einem männlichen Touch. Ich glaube zum Beispiel, dass Guerrieri deshalb so beliebt ist, weil er gleichzeitig schüchtern und mutig ist, sehr unsicher und dabei absolut effizient in seiner Arbeit."

    Carofiglio würde eins nie tun: über das Thema schreiben, das er am besten kennt, die italienische Mafia. Das wäre ihm zu eintönig, würde ihn zu wenig aus seiner tagtäglichen Alltagsarbeit als Anti-Mafia-Staatsanwalt herauslösen. Denn die Mafia hat so schon allzu sehr sein Leben bestimmt.

    "Lange Jahre, so in den 90er des vergangenen Jahrhunderts, wurde ich ständig von Bodyguards bewacht, so etwa von 1993 bis 1998. Das war bei uns eine harte Zeit. Mafia-Organisationen glaubten, sie könnten ihre Probleme dadurch loswerden, dass sie Richter, Staatsanwälte oder Polizisten töteten. Das war eine dumme Idee. Denn wenn du einen Staatsanwalt oder einen Polizisten tötest, wird mindestens ein neuer seinen Platz einnehmen. Doch das hat die Mafia damals nicht verstanden. Inzwischen scheinen sie es kapiert zu haben. Tatsächlich hat sich die Gefahr dadurch reduziert. Deshalb habe ich auch keinen Personenschutz mehr. Es ist nicht mehr nötig."

    Carofiglios Romane um den Avvocato Guerrieri sind zwar Krimis mit allem, was dazu gehört. Sie verfolgen allerdings nicht die traditionelle Blutspur, sondern begeben sich eher auf die psychologische Fährte, die ein Verbrecher hinterlässt. Ob man "In freiem Fall" nun als Krimi einordnet oder eher als einen psychologischen Entwicklungsroman sieht, ist Carofiglio ziemlich einerlei:

    "Ich würde behaupten, dass es nicht eine Kriminalgeschichte ist sondern die Geschichte über ein Verbrechen, ebenso wie über die menschliche Natur, über Menschen, über Liebe. Ich liebe es, all dies miteinander zu verweben. Daraus entsteht für mich ein ganz persönliches Rezept für eine gute Geschichte . Ich habe so meine Probleme mit der Einordnung eines Romanes in ein bestimmtes Genre. Ich behaupte stattdessen, dass es nur zwei Arten von Büchern gibt: gut geschriebene und schlecht geschriebene."

    Gut geschrieben ist "In freiem Fall" allemal, mitreißend, wenn auch dabei nicht schrill, überzeugend ohne zu insistieren. Ein wahrer Genuss für Krimileser, die sich nicht zu den Blutgrätschern zählen sondern eher auf hintergründige Spurensuche setzen. Sie werden reichlich und üppig belohnt.