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Hirn-Traumata
Zusammenhang mit Lebenskrisen

Auf Grundlage von über einer Million Personenprofilen gingen Psychiater in Oxford, Sozialämter in Schweden und die auf medizinische Forschung spezialisierte Stiftung Wellcome Trust der Frage nach: Wie beeinflussen schwere Hirn-Traumata bei Kindern und Jugendlichen das spätere Leben?

Von Maximilian Schönherr | 16.09.2016
    Die Grafik eines Kopfes, der mit Blitzen durchzogen ist.
    Ein Schädel-Hirn-Trauma in jungen Jahren kann erhebliche Auswirkungen auf Lebensqualität und -erwartung haben. (imago / Science Photo Library)
    Das Ergebnis vorweg: Jemand, der einen heftigen Schlag auf den Kopf bekommt, etwa bei einem Autounfall, hat dadurch eine erheblich höhere Wahrscheinlichkeit gesundheitlicher und sozialer Probleme in späteren Jahren als Menschen ohne Hirnverletzung. Die Weltgesundheitsorganisation weiß seit Langem, dass die Haupttodesursache von Menschen unter 45 Jahren Schädel-Hirn-Traumata sind. Die im August veröffentlichte britisch-schwedische Studie bestätigt das, geht aber viel weiter.
    Im Schnitt stirbt einer von hundert Menschen, bevor er 40 Jahre alt wird. Mit einem Schädel-Hirn-Trauma sind es fast zwei von hundert, sagt der psychiatrische Leiter der Studie, Seena Fazel, Professor für forensische Psychiatrie an der Universität Oxford.
    Schädel-Hirn-Trauma und die Folgen
    Mit diesem ungewöhnlich großen Datensatz von 1,1 Millionen Patienten konnte er viel detailliertere Fragen stellen, etwa wie viele Personen der Risikogruppe keinen Schulabschluss schaffen. Die Statistik belegt, dass 20 Prozent der betroffenen Menschen irgendwann, bevor sie 40 werden, einen Psychiater aufsuchen. Bei zehn Prozent werden dabei psychische Störungen diagnostiziert, die Probleme in Ausbildung und Beruf zur Folge haben.
    Das zusammengenommen führt dazu, dass fünf Prozent aller Menschen mit in jungen Jahren erfahrenen Schädel-Hirn-Traumata Frührentner werden - also jeder Zwanzigste. Solch große Zahlen von hohem volkswirtschaftlichem Wert müssen auf einem soliden statistischen Fundament stehen. Seena Fazel:
    "Wir hatten den Luxus, uns sogar die Geschwister der Personen mit frühen Schädel-Hirn-Traumata anzusehen. Damit konnten wir ausschließen, dass es Zusammenhänge mit familiären Strukturen oder der genetischen Disposition gibt. Solche feinmaschigen Fragen kann man nur an große Datensätze stellen."
    Sicherstellung der Anonymität
    Die Patientendaten stammen aus mehreren schwedischen Registern, wo jeder Bürger eine Nummer hat, etwa bei der Krankenversicherung, der Schule oder beim Arbeitsamt. Das Statistische Zentralbüro Schwedens, das Statistiska centralbyrån, führt diese Zahlenblöcke so zusammen, dass nicht nur die Anonymität der Personen gewahrt wird, sondern dass sie auch nicht rückverfolgbar sind.
    Kommen nun Anfragen von Forschern wie Seena Fazel, diese Daten auswerten zu wollen, findet eine weitere Verschlüsselungsstufe statt. Oxford erreichen dann Personenkennziffern, die selbst das Statistische Zentralbüro in Stockholm keiner Herkunft mehr zuordnen kann, erklärt Fazel:
    "Wir betreiben etwas völlig anderes als die Krankenhaus-Statistiken, die es seit Langem gibt. Die können nur das erfassen, was innerhalb der Zeit passiert, in der der Patient in der Klinik behandelt wird. Mit unseren Daten dagegen fanden wir heraus, dass viele Patienten viel später, oft nach zehn, 15 Jahren ganz woanders hin, etwa in psychiatrische Spezialkliniken kamen."
    Die unter der frei zugänglichen Creative-Commons-Lizenz bei Weitem umfangreichste zur Ermittlung der Risiken bei Schädel-Hirn-Traumata. Was sich Seena Fazel in der nächsten Stufe wünscht, sind Hinweise für den klinischen Alltag:
    "Wir würden gern Fragen nach Zusammenhängen stellen und den Ärzten dann eine Art Checkliste an die Hand geben, worauf sie bei bestimmten Kopf-Verletzungen und bestimmten Patientengruppen achten sollten. So lässt sich dann schnell eine gezieltere Therapie einleiten, um die langfristigen Schäden zu reduzieren."