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Historiker Thomas Weber
Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde

Vor einigen Jahren provozierte der an der University of Aberdeen lehrende deutsche Historiker Thomas Weber seine Zunft: Er kam zu dem Schluss, dass Hitler während und auch kurz nach dem Krieg politisch noch völlig orientierungslos war. Mit seinem neuen Buch will er das untermauern - dem Anspruch, das Bild Hitlers neu zu entwerfen, wird er aber nicht gerecht.

Von Martin Hubert | 27.06.2016
    Adolf Hitler in einer undatierten Aufnahme
    Adolf Hitler in einer undatierten Aufnahme (picture-alliance / dpa)
    Mal sei Adolf Hitler ein Monster, mal eine Art Witzfigur, auf jeden Fall aber nur noch ein Nebendarsteller. Denn vor allem die deutsche Geschichtswissenschaft der letzten 20 Jahre habe sich zu sehr auf das Gesamtgefüge der Nazigesellschaft konzentriert und den Führer vernachlässigt. Das sind die Thesen, mit denen sich Thomas Weber immer wieder zu Wort meldet. Da ist etwas dran. Es stellt sich aber auch die Frage, ob wirklich noch neue Einsichten zu gewinnen sind, wenn man sich wie Weber begrenzten Abschnitten von Hitlers früher Entwicklung widmet. In seinem neuen Buch konzentriert er sich auf die Zeit zwischen 1918 und 1923, die Phase also, in der Hitler nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als Soldat nach München kam bis zur Abfassung von "Mein Kampf".
    "Es ist die Geschichte von Adolf Hitlers Wandlung vom unbeholfenen Einzelgänger mit sich noch im Fluss befindlichen politischen Ideen zum charismatischen Führer mit extremistischen und antisemitischen Überzeugungen."
    Genau so wenig, wie während des Ersten Weltkriegs, sei Hitler auch danach nicht eindeutig rechts gewesen. Weber möchte das damit belegen, dass Hitler als Kriegsrückkehrer in einem Regiment blieb, das mehrheitlich links orientiert war und die Münchner Räterepublik unterstützte. Mehr noch: Hitler hat sich zum Vertrauensmann dieses Regiments wählen lassen, er hat wohl auch an militärischen Aktionen für die Räterepublik teilgenommen, und er scheint sich mehrfach als Sozialdemokrat bezeichnet zu haben. Das rekonstruiert Weber aus militärischen Dokumenten, Zeugnissen von Zeitgenossen und Zeitungsartikeln.
    "Wenn wir einem Artikel glauben können, der im März 1923 in der "Münchener Post" erschien, einer sozialdemokratischen Tageszeitung, ging Hitlers Rolle sogar noch weiter. Dem Artikel zufolge fungierte Hitler auch als Mittelsmann zwischen der Propagandaabteilung seines Regiments und dem Revolutionsregime. In dem Artikel heißt es, Hitler habe eine aktive Rolle in der Abteilung gespielt und Reden gehalten, in denen er sich für die Republik aussprach. Der Artikel wurde von Erhard Auer verfasst, der 1920 die Leitung der "Münchener Post" übernommen hatte. Nicht nur Hitler gestand im Zweiten Weltkrieg seinen tiefen Respekt für Auer. In seinem Artikel schrieb Auer, Hitler "galt in den Kreisen der Propagandaabteilung als Mehrheitssozialist und gab sich auch als solcher aus"."
    Hitlers wenig gradlinige Entwicklung lange bekannt
    Weber diskutiert, inwieweit Hitler das aus purer Taktik und Anpassung getan haben könnte. Und er schildert, wie Hitler unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Räterepublik linke Kameraden seines Regiments verriet.
    Das alles fügt sich tatsächlich nicht zu einem eindeutigen Bild zusammen. Das Problem ist nur: Es ist längst bekannt, dass die frühe Entwicklung Hitlers nicht geradlinig verlief. Joachim Fests Hitlerbiografie aus dem Jahr 1973 zum Beispiel ist zwar nicht unumstritten - aber auch schon Fest machte klar, wie stark Hitler sein Leben im Nachhinein propagandistisch umlog:
    "Hitler sei, so hat er später bemerkt, von Wien weggegangen "als absoluter Antisemit, als Todfeind der gesamten marxistischen Weltanschauung, als alldeutsch". Diese Kennzeichnung ist allerdings, wie allen seinen Selbstbeschreibungen, deutlich die Absicht der Stilisierung zu früher politischer Urteilssicherheit anzumerken, die ihn bei der Niederschrift seines Buches "Mein Kampf" durchweg geleitet hat."
    Weber glaubt trotzdem, den Zeitpunkt exakt angeben zu können, an dem sich Hitler politisch radikalisierte: die Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrags.
    "Der 9. Juli 1918 veränderte für Hitler alles: Die Ratifizierung ließ auch ihn zu der verspäteten Erkenntnis kommen, dass Deutschland den Krieg wirklich verloren hatte. Das war Hitlers Damaskuserlebnis. Es war ihm nicht in seiner Zeit in Wien widerfahren, nicht in den Kriegsjahren, nicht in der Zeit des revolutionären Umbruchs und nicht als Ergebnis der kumulierten Erfahrungen seiner Kriegsjahre, des Krieges und der Revolution. Es resultierte vielmehr aus der verspäteten Erkenntnis der deutschen Niederlage im postrevolutionären München. Das war der Moment, in dem Hitlers politische Metamorphose und Radikalisierung einsetzten."
    Kleinteiligkeit führt bisweilen in die Sackgasse
    Eine mit großer Geste formulierte These. Allerdings ist die Bedeutung des Versailler Vertrags für die Rechtsentwicklung in der Weimarer Republik schon fast so etwas wie ein historischer Gemeinplatz. Weber will sein Projekt denn auch vor allem dadurch legitimieren, dass er Hitlers weitere Entwicklung detaillierter und kleinteiliger als andere Historiker nachzeichnet. Er gerät dabei aber bisweilen in Sackgassen. Zum Beispiel denkt er darüber nach, ob Hitler seinen Antisemitismus damals bereits ernst oder nur metaphorisch meinte. Und muss schließlich zugestehen, dass diese Frage bei Hitler wenig Sinn ergibt.
    "Man kann völlig plausibel argumentieren, dass Hitler seinen Antisemitismus seit der zweiten Jahreshälfte 1919 wörtlich meinte. In diesem Fall hatte Hitler vielleicht auch schon den Völkermord und die Auslöschung der Juden im Sinn. Andererseits ist es mindestens genauso plausibel, zu argumentieren, dass auch Hitler seinen biologistischen Antisemitismus ursprünglich metaphorisch sah, dass das Endziel sei, den jüdischen Geist zu bekämpfen. Der Grund, warum man unmöglich sagen kann, ob Hitler seinen eigenen Alles-oder-nichts-Antisemitismus metaphorisch oder wörtlich nahm, ist einfach: Da Hitler sich ständig neu erfand und ein notorischer Lügner war, können wir nie eindeutig feststellen, wann er die Wahrheit sagte und wann er log."
    Man kann bei Weber detailliert nachlesen, welchen Einflüssen Hitler Anfang der 20er-Jahre ausgesetzt war: Wie er sich zum Redner und Führer der deutschen Arbeiterpartei und der NSDAP wandelte, wie er Antisemitismus und Antibolschewismus verband und wie er die Idee einer aggressiven deutschen Lebensraumpolitik entwickelte. Weber bietet aber weder eine Persönlichkeitstheorie Hitlers, noch stellt er systematisch Zusammenhänge zwischen dem frühen und dem späten Hitler her. Dem Anspruch, das Bild Hitlers neu zu entwerfen, wird sein Buch daher nicht gerecht.
    Buchinfos:
    Thomas Weber: "Metamorphose. Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde", in der Übersetzung von Heike Schlatterer und Karl Heinz Siber, 528 Seiten, Propyläen Verlag, Preis: 26,00 Euro