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Historiker: Vertriebenen-Verband nennt falsche Opferzahlen

Der Historiker Ingo Haar hält die Zahl von zwei Millionen deutschen Opfern bei den Vertreibungen nach dem Zweiten Weltkrieg für übertrieben. Realistisch sind nach seiner Einschätzung etwa 500.000 bis 600.000 deutsche Todesopfer. Haar, Mitarbeiter am Zentrum für Antisemitismusforschung der Technischen Universität Berlin, führt die bis heute vom Bund der Vertriebenen angegebene Zahl auf politisch motivierte Schätzungen in den 50er Jahren zurück.

Moderation: Stefan Koldehoff | 14.11.2006
    Stefan Koldehoff: Ich habe Ingo Haar gefragt, wie er denn seine Neuzählung begründet.

    Ingo Haar: Zunächst einmal muss ich sagen, dass es sich um keine Neuzählung handelt. Die Zahl von zwei Millionen Opfern, die Frau Steinbach vom Bund der Vertriebenen angibt und die sich hier auch auf mehreren Posten zusammenstellt aus der Chronik der Vertreibung des Zentrums gegen Vertreibung, die ist eher neu. Das Interessante ist, dass diese Zahl von zwei Millionen Opfern sich auf Zahlen bezieht, die in den 50er Jahren in dieser Form ausgerechnet worden sind, und diese Zahlen haben auch einen bestimmten historischen Hintergrund. Und dieser historische Hintergrund ist so gelagert, dass diese Zahl einfach heutzutage von keinem ernstzunehmenden Wissenschaftler mehr als wahr eingestuft wird.

    Koldehoff: Diese Zahl war damals politisch gewollt. Warum eigentlich, warum wollte man die Zahlen hochrechnen?

    Haar: Die politische Ausgangssituation 1953 war die, dass es um die Revision des Potsdamer Abkommens ging. Deutschland wurde wiederbewaffnet. Der Korea-Krieg hat eine große Wende in Westeuropa gegen die kommunistischen Staaten geschaffen. Die Adenauer-Regierung hatte innenpolitisch das Problem, dass ihnen die Vertriebenenverbände durch eine eigene Partei Konkurrenz gemacht haben, und hier bedurfte es außenpolitisch und innenpolitisch einfach großer Opferzahlen, um auch diese Interessen zu bedienen.

    Koldehoff: Sie haben gerade schon drauf hingewiesen, dass der Bund der Vertriebenen im Zusammenhang mit dem geplanten Zentrum gegen Vertreibungen mit dieser Zahl nun wieder operiert. Die Zahl von zwei Millionen taucht zwar nominell so nie auf, wenn man aber in der Chronik der Vertreibungen beispielsweise die Zahlen, die für die einzelnen Bevölkerungsgruppen gelten, addiert, dann kommt man auf diese Zahl. Könnte der Bund der Vertriebenen wissen, dass diese Zahlen nicht unbedingt seriös sind?

    Haar: Ich gehe davon aus, dass es auch statistisches Wissen professionalisiert gib, innerhalb des Bundes der Vertriebenen. Offenbar ist er aber in diesem Punkt nicht befragt worden, denn es gibt ja Zahlen von 1974 aus einer Studie, die damals in den späten 60er Jahren die Große Koalition aufgelegt hat. Und danach betragen sich die Opfer jenseits der Oder-Neiße-Linie auf 400.000 und die aus der Tschechoslowakei auf 100.000. Hier gibt es einen Graubereich von Plus-Minus, der miteinbezogen worden ist, aber mehr als 500.000 bis 600.000 Opfer, auf mehr wollte man nicht kommen und hat auch nicht zusätzlich ausgewiesen. Interessant ist, dass in dieser Studie erstmals das Verfahren zur Anwendung gekommen ist, verbürgte Opfer, das heißt durch Zeugen verbürgte Opfer, aufzuspüren und eine Abkehr von der Bilanz zu betreiben.

    Koldehoff: Nun ist natürlich die Zahl, die Sie gerade genannt haben, 500.000 bis 600.000 immer noch schrecklich und schrecklich hoch. Wem könnte es denn nützen, wer könnte denn ein Interesse daran haben, sie trotzdem auch heute noch wider besseren Wissens zu multiplizieren?

    Haar: Das kann ich Ihnen wirklich kaum beantworten, diese Frage, denn ich stecke nicht in der Person von Frau Steinbach oder eines anderen Vertriebenen-Politikers, der hier die Interessen des Verbandes zu berücksichtigen hat. Grundsätzlich ist zu sagen, dass die Vertriebenen-Verbände auch nicht über einen Kamm geschert werden können, denn interessanterweise hat die Jugoslawien-Deutsche-Landsmannschaft das Zählverfahren verbürgter Opfer schon vor vielen Jahren für sich realisiert und die korrekte Opferzahl angegeben. Das ist deshalb umso interessanter, weil gerade die Jugoslawien-Deutschen die höchste Zahl von Opfern aufzuweisen haben überhaupt.