Donnerstag, 18. April 2024

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Historiker zu Debattenkultur
"Neue Medien haben neue Mauern errichtet"

Der Historiker René Schlott hat vor einer Verkürzung von Debatten in sozialen Medien gewarnt. Facebook und Twitter hätten zwar großes Potenzial für die Debattenkultur, momentan trügen sie jedoch vor allem zu einer Blockade und Radikalisierung von Diskussionen bei, sagte Schlott im Dlf.

René Schlott im Gespräch mit Michael Köhler | 26.07.2020
René Schlott, junger Mann in weißem Hemd
René Schlott - der Historiker sorgt sich um die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit in Deutschland, vor allem im geisteswissenschaftlichen Bereich (Angela Ankner/anknerfotografie)
Unliebsame Autoren oder Referenten werden gebasht, denunziert und ausgeladen, Debattenbeiträge werden für unmöglich erklärt oder gar verhindert - an US-amerikanischen aber auch deutschen Universitäten wird immer stärker eine sogenannte "Cancel Culture" praktiziert, ein Boykott von Personen, denen beleidigende oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen vorgeworfen werden. Dieser Entwicklung müsse entgegengewirkt werden, meint der Historiker René Schlott. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Teilnehmer einer Demonstration gegen Rassismus und Polizeigewalt protestieren mit einem Schild mit der Aufschrift "Black Lives Matter" auf dem Rathausmarkt in Hamburg.
Debattenkultur - Mehr Empathie für politische Gegner
In den USA wird über Diskursverengung diskutiert – und das sollten wir auch in Deutschland tun, kommentiert Marco Bertolaso. Denn auch hierzulande würden zu schnell Freund-Feind-Grenzen gezogen.
"Die Grenzen des Sagbaren sollte man kritisch hinterfragen"
"Es gibt Grenzen des Sagbaren, auch im akademischen Bereich, auch im Wissenschaftsbereich, die man besser nicht überschreiten sollte. Aber auch diese Grenzen des Sagbaren sollte man kritisch hinterfragen, denn das ist ja ein Wesenskern der Wissenschaft und der Wissenschaftsfreiheit in einer offenen Gesellschaft, alle vermeintlich aufgestellten Grenzen kritisch zu hinterfragen", sagte René Schlott.
Allzu verbreitet sei dagegen, sich dem herrschenden Diskurs anzuschließen. "Weil das risikofrei ist. Das schadet nicht der Karriere", sagte Schlott. Es gebe gerade in den deutschen Geisteswissenschaften ein zu vorsichtiges Verhalten, einen zum Teil vorauseilenden Gehorsam. "Das ist gefährlich sowohl für die Meinungsfreiheit als auch für die Wissenschaftsfreiheit", so Schlott.
Zeitungstitel zum Thema "Meinungsfreiheit": Die "Süddeutsche Zeitung" vom 25.10.2019,  "Die Zeit" vom 30.10.2019, "Der Spiegel" vom 02.11.2019 und die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" vom 03.11.2019
Debattenkultur - "Meinungsfreiheit immer stärker unter Druck"Findet in der Gesellschaft zu wenig harte Auseinandersetzung über Sachthemen statt, weil zu schnell moralisiert wird? Die Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann fordert eine offenere öffentliche Diskussionskultur.
Twitter als Erregungsmedium
Kritisch sieht Schlott, dass "die neuen Medien, die sogenannten sozialen Medien hier neue Mauern errichtet haben". Mit Twitter als Erregungsmedium beispielsweise könne man sehr schnell sachlich verkürzen, sehr schnell Debatten hochkochen und emotionalisieren. Dieses Problem sehe er auch für die Geisteswissenschaften.
Facebook und Twitter hätten zwar großes Potenzial für die Debattenkultur, momentan trügen sie jedoch vor allem zu einer Blockade und Radikalisierung von Diskussionen bei, sagte der wissenschaftliche Mitarbeiter. Im Internet koche die Empörung schnell hoch, unliebsame Debattenbeiträge würden nicht selten verhindert und die Autoren von Artikeln und Posts dazu gedrängt, diese zu löschen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.