Freitag, 29. März 2024

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Historikerstreit 2.0 über Shoah
Historiker Per Leo fordert globale Perspektive auf NS-Verbrechen

Die Shoah – ein singuläres Verbrechen. Kaum ein Satz ist so entscheidend für das deutsche Nationalgedächtnis. Er könne aber auch einer Beschäftigung mit den historischen und psychosozialen Gründen für Auschwitz im Wege stehen, mahnt der Historiker Per Leo. Er fordert, Holocaustforschung und Erinnerungskultur zu weiten, globaler zu denken.

Per Leo im Gespräch mit Kolja Unger | 11.07.2021
Zwei Personen gehen vor dem Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust durch das Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Der Holocaust-Gedenktag wird am 27.01.2021 begangen.
Darf man den Holocaust mit anderen historischen Verbrechen vergleichen? Darum entspannte sich schon vor 35 Jahren und nun erneut ein Historikerstreit. (picture alliance/dpa | Fabian Sommer)
35 Jahre ist es her, da löste der in Berlin lehrende Historiker Ernst Nolte eine riesige Debatte aus, indem er in Form von rhetorischen Fragen die Shoah, also den industriell organisierten Massenmord von Nazi-Deutschland an den europäischen Juden, mit dem sowjetischen Gulag-System verglich. Der Philosoph Jürgen Habermas sah darin "Revisionismus" und eine Relativierung der deutschen Schuld.
Ernst Nolte posiert in einer Bibliothek in Paris
Historikerstreit - "Ein Kampf um die Seele der BRD"
Der Historiker Ernst Nolte löste in den Achtzigerjahren den sogenannten Historikerstreit aus. Um historische Fakten sei es in der Debatte jedoch nicht gegangen, sagte der Historiker Dan Diner im Dlf.

Kein Schlussstrich

Am sogenannten "Historikerstreit" beteiligten sich über ein Jahr hinweg zahlreiche Wissenschaftler, Journalisten und andere Autoren in Form von Zeitungsartikeln und Leserbriefen. Die von den konservativen Historikern um Nolte gestellte Frage, inwiefern die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus auch vergehen dürfe oder könne, war durchaus ein Politikum. Versuchte doch auch Bundeskanzler Helmut Kohl zu jener Zeit die "Gnade der späten Geburt" als Argument ins Feld zu führen, sich im Sinne einer "geistig moralischen Wende" nicht mehr an der Shoah abarbeiten zu müssen.
Ohne Erfolg, wie der Historiker Per Leo im Deutschlandfunk konstatiert: "Die Frage wurde damals eindeutig beantwortet: abschlägig. Diese Vergangenheit soll nicht vergehen und wird vermutlich nicht so schnell vergehen. Das ist damals der Habermas-Partei gelungen gegen eine Tendenz zur nationalgeschichtlichen Normalisierung."

Darf man die Shoah vergleichen?

Im letzten Jahr beobachten wir nun vermehrt Debatten, die an damals erinnern. Nicht nur in NS-Relativierungsversuchen seitens der AfD, wie etwa den Gauland'schen "Vogelschiss"-Vergleich. Seit auch die deutschen Verbrechen in den ehemaligen Kolonien in Afrika und der Südsee mehr und mehr in das deutsche Geschichtsbewusstsein gelangen, fordern manche Soziologen und Soziologinnen, Historikerinnne und Historiker wie der prägende Theoretiker des Postkolonialismus Achille Mbembe, Vergleiche ziehen zu dürfen zwischen diesen Verbrechen und jenen unter dem Hakenkreuz.
Mbembe ging es sicher nicht - wie Gauland heute oder Nolte seinerzeit - darum, die deutsche Schuld zu mindern. Dennoch fielen auch hier die Reaktionen heftig aus: Es hagelte gegenseitige Antisemitismus- und Rassismusvorwürfe.
Ist der Versuch, durch Vergleichen Kontinuitäten zwischen rassistischer Ideologie, Ausbeutung und systematischer Ermordung in der Kolonialzeit und unter Hitler zu ziehen, bereits eine Relativierung? Die öffentliche Diskussion dieser Frage wurde bereits als "Historikerstreit 2.0" bezeichnet.

Gibt es einen Historikerstreit 2.0?

In seinem aktuellen Sachbuch "Tränen ohne Trauer" (Erscheinungstermin: 24. Juli 2021) bezieht sich auch Per Leo auf die Debatte von 1986, ist jedoch skeptisch gegenüber zu schnell gezogenen Analogien zwischen der Debatte heute und der damals. Einen wesentlichen Unterschied macht der Historiker in der Veränderung unseres nationalen Selbstverständnisses aus. In den 80er-Jahren sei dieses "sehr homogen, überwiegend nationalorientiert und auch nationalgeschichtlich"
In den über 30 Jahren seit dem sogenannten "Historikerstreit" seien Generationen nachgewachsen, die "biographisch und lebensweltlich nicht mehr von diesem Nachleben des 'Dritten Reichs' geprägt sind", führt Leo aus.

Migration bringt neue Perspektiven

Deutschland versteht sich mittlerweile offiziell als Einwanderungsland. Leo hebt hier eine Zunahme an mehrheitlich muslimischer bzw. arabischer Migration hervor. Er führt aber auch jüdische Migration an, aus der ehemaligen Sowjetunion, aus westlichen Diaspora-Ländern und auch von jungen Israelis, die ausgerechnet im Land der Täter eine neue Heimat gefunden haben. Nicht zuletzt geht er auf eine innerdeutsche Migration von Bürgerinnen und Bürgern der DDR ein.
"Diese unterschiedlichen Gruppen bringen verschiedene Perspektiven nicht nur auf die Geschichten sondern auch auf die nationalsozialistische Zeit mit", erklärt Per Leo: "Die gilt es nun auf eine konstruktive, möglicherweise auch kontroverse Weise miteinander ins Gespräch zu bringen." Doch gerade dies finde nicht statt, ohne Forschung und Mühe, kritisiert der Historiker.
Wer sich stattdessen in gegenwärtige Diskussionen über sozialpsychologische Kontinuitäten, die in Auschwitz und anderen Verbrechen mündeten, lediglich abschlägig auf die Frage der Singularität beschränke, mache es sich hier zu leicht. "Was mich stört, ist nicht, dass von Singularität gesprochen wird, sondern die Mühelosigkeit, mit der die Frage, inwiefern Kolonialgeschichte auch mit NS-Geschichte in Verbindung steht, abgewürgt wird."
Denkmal zur Erinnerung an den von deutschen Kolonialtruppen begangenen Völkermord an den Herero und Nama (etwa 1904-1907) im Zentrum der namibischen Hauptstadt Windhoek. Die Inschrift laut übersetzt etwa: „Ihr Blut nährt unsere Freiheit“.
Deutschland erkennt Kolonialverbrechen als Genozid an
Mehr als 100 Jahre nach den Verbrechen der deutschen Kolonialmacht im heutigen Namibia erkennt die Bundesregierung die Gräueltaten an den Volksgruppen der Herero und Nama als Völkermord an. Das historische Abkommen wird allerdings auch kritisch bewertet. Ein Überblick.

Ein kleiner aber entscheidender Unterschied

Auch der Formel des "Never Again" steht Leo skeptisch gegenüber. Er halte es da mit Hannah Arendt. Die habe damals schon erkannt, dass Auschwitz auch unter den damaligen moralischen Voraussetzungen "nie hätte passieren dürfen".
Der Unterschied sei zwar klein, aber entscheidend. "Wir sind uns, glaube ich, einig, dass der Nationalsozialismus Menschheitsverbrechen nie vorhergesehenen Ausmaßes zu verantworten hat. Dass es aber schon damals Postulate gab, die diese Verbrechen für falsch und böse erklärten, das ist eine andere Sicht als 'Es ist geschehen und darf nie wieder geschehen'."

"Selbstgerechte und bequeme Form der Vergangenheitsbewältigung"

Diese Sicht fixiere uns nämlich auf ein negatives Ereignis der Vergangenheit und erzeuge eine "Wiederholungsfurcht" – eine Erinnerungskultur der Angst sozusagen. Angst sei aber selten ein guter Ratgeber. "Viel wichtiger als die Überfrachtung unserer Gegenwart mit einer unglaublich großen Forderung eines 'Nie Wieder'" findet daher der Historiker die Erforschung dieser Zeit.
Genau diese sieht Per Leo aber mit dem Rückzug auf den Singularitätssatz gefährdet. Dabei handele es sich nämlich, "um eine sehr selbstgerechte und auch bequeme Form der Vergangenheitsbewältigung", eine "Tendenz sich auf die 'richtige Seite der Geschichte' zu stellen, sich in Demokratiestolz zu suhlen und sich überhaupt nicht mehr zu fragen, was der Nationalsozialismus auch mit einem selbst zu tun haben soll".
Das wecke Rebellionslüste. Für den Co-Autor von "Mit Rechten Reden" eine gefährliche Vorlage für die Neue Rechte, die diese sehr geschickt bewirtschafte.

Mehr Irritation und globalere Perspektiven

Was sich vielleicht vorerst wie eine Provokation anhört, wie ein Angriff auf die Singularität, ist für Per Leo der Versuch, Holocaustforschung und Erinnerungskultur zu weiten, globaler zu denken. Ein gelungenes Beispiel dafür sieht Per Leo in der Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Gedenktag an den Überfall der Deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion: "Es war sehr erhellend, dass er sehr konkret über die zivilen Opfer der Sowjetunion sprach."
Wir sollten uns in unserer Beschäftigung mit der Vergangenheit von verschiedenen Perspektiven irritieren lassen, schlägt Leo in Rückbesinnung auf den Historiker Peter Novick vor: "Wenn wir von der Vergangenheit wirklich lernen wollen, dann muss diese Vergangenheit in ihrer ganzen Unaufgeräumt erscheinen. Wenn sie hingegen nur inspirierende Botschaften mitzuteilen hat, dann werden wir nichts lernen", so Leo.
"Das ist eigentlich eine paradoxe Formulierung, die mir sehr gut gefällt, weil das Lernen eben hier als Prozess begriffen wird. Wenn diese Unterscheidung von der Gegenwart und der Vergangenheit etabliert ist, dann setzt auch eine produktive Arbeit an der Geschichte ein."