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Historische Aufnahmen
Otto Klemperers markantes künstlerisches Profil

Otto Klemperer gehörte zu den großen charismatischen Dirigentenpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Das Label Arthaus Musik hat ihm jetzt eine luxuriös ausgestattete Edition gewidmet, die das Leben des Musikers nachzeichnet und seine letzten Aufnahmen noch einmal in Erinnerung ruft.

Von Norbert Hornig | 11.12.2016
    Der deutsche Dirigent und Komponist Otto Klemperer in einer undatierten Aufnahme.
    Der deutsche Dirigent und Komponist Otto Klemperer. (picture-alliance / dpa)
    Auf zwei DVDs sind unter dem Titel "Otto Klemperer´s Long Journey Through His Times" und "Klemperer - The Last Concert" zwei Dokumentarfilme des niederländischen Filmemachers Philo Bregstein zu sehen, dazu enthält die Box auf zwei CDs den kompletten Mitschnitt von Klemperer´s letztem Konzert vom September 1971 aus der Londoner Royal Festival Hall, der alternativ auch auf zwei 180g Vinyl-Langspielplatten erhältlich ist. Ein dreisprachiges, 180 Seiten umfassendes Begleitbuch informiert ausführlich über die Entstehung der Dokumentarfilme sowie über Otto Klemperers Biografie und künstlerisches Profil.
    Otto Klemperer: "Den ersten Klavierunterricht bekam ich von meiner Mutter, die eine sehr gute Pianistin war, aber ich wußte immer alles besser! Ich hatte als Knabe nur einen Wunsch: Schauspieler zu werden".
    Nun wurde aus Otto Klemperer bekanntlich kein Schauspieler, sondern ein profilierter Dirigent, der die Welt der klassischen Musik über mehr als ein halbes Jahrhundert maßgeblich mitprägen sollte.
    Otto Klemperer wurde 1885, noch zur Zeit des Deutschen Kaiserreiches, in Breslau geboren. Er studierte in Frankfurt am Main, dann in Berlin, u. a. bei Hans Pfitzner. Seine Dirigentenlaufbahn begann 1906 mit einer Aufführung von Jacques Offenbach´s "Orpheus in der Unterwelt" in Berlin. Der erste Dokumentarfilm von Philo Bregstein beginnt mit einer Darstellung des kulturellen Lebens im Deutschland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Deutlich wird dabei auch, welchen Einfluss Gustav Mahler auf den aufstrebenden Dirigenten hatte, wie er als Mentor dessen Karriere beflügelte. Klemperer war dann mittendrin im kreativen kulturellen Aufschwung der Weimarer Republik. Als Dirigent an der 1927 gegründeten Krolloper brachte er mit seinen Kollegen Alexander von Zemlinsky und Fritz Zweig u. a. bahnbrechende Uraufführungen zeitgenössischer Werke von Strawinsky, Hindemith, Schönberg, Krenek und Janácek auf die Bühne. Den aufstrebenden Nationalsozialisten und anderen reaktionären Kräften war dies ein Dorn im Auge, und schon 1931 wurde die Krolloper wieder geschlossen.
    Klemperer ging nach Kalifornien und leitete dort das Los Angeles Philharmonic Orchestra
    Wegen seiner jüdischen Herkunft musste Klemperer 1933 Deutschland verlassen, er ging nach Kalifornien und leitete dort das Los Angeles Philharmonic Orchestra. Ein Hirntumor, der 1939 entfernt wurde, warf den Dirigenten vorübergehend aus der Bahn, die teilweise Lähmung seiner rechten Gesicht- und Körperhälfte und depressive Schübe bekämpfte er mit eiserner Disziplin. Krankheit gehörte fortan zu seinem Leben und behinderte oft seine Arbeit.
    1947 übernahm Klemperer für drei Jahre die Leitung der Budapester Oper. Als man dort seine künstlerische Freiheit einschränken wollte, kehrte er nach Amerika zurück. Dort boten sich ihm jedoch keine Perspektiven, zudem verschlimmerte ein Hüftbruch seine Situation. 1954 kehrte Klemperer schließlich dauerhaft nach Europa zurück und ließ sich in Zürich nieder.
    In den 1950er Jahren nahm Klemperers Karriere dann den entscheidenden Aufschwung. EMI-Produzent Walter Legge band den Dirigenten an das neu gegründete Philharmonia Orchestra, mit dem legendäre Aufnahmen entstanden, u. a. der Sinfonien von Beethoven, Schumann und Brahms sowie einiger Bruckner- und Mahler-Sinfonien. Auch war Klemperer ein gern gesehener Gastdirigent bei anderen europäischen Spitzenorchestern. Unaufhaltsam wuchs er zu einem der bedeutendsten Dirigenten seiner Zeit heran.
    Die erste DVD mit Philo Bregsteins Dokumentarfilm "Otto Klemperer's Long Journey through his Times" aus den 1970er Jahren, der neu bearbeitet wurde, zeichnet den Lebensweg des Dirigenten vor dem Hintergrund der musikalischen, kulturellen und politischen Ereignisse nach. Der Film erhebt nicht den Anspruch, eine vollständige Biographie zu sein, aber die Fülle des Film-, Ton und Bildmaterials ist trotz altersbedingter Einschränkungen beeindruckend. Beim Anschauen durchlebt man ein Stück Musik- und Zeitgeschichte. Langjährige Freunde, Musikerkollegen, Zeitzeugen und Klemperers Tochter Lotte kommen zu Wort, mosaikartig ergibt sich ein großartiges Lebensbild. Kommentierend ist auch Klemperer zu hören, der trotz aller Widrigkeiten seinen Humor nicht verloren hatte. Hier spricht er über das Dirigieren:
    "Vor allem kommt es nicht darauf an, auswendig zu dirigieren, sondern inwendig zu dirigieren. Das ist wichtig! Die Hand des Dirigenten zeichnet nach Möglichkeit die Musik an und muss den Musikern Gelegenheit geben so zu spielen als wären sie ganz frei. Das Orchester muss es machen, nicht. Sie müssen spielen!"
    Dass Otto Klemperer wie auch Wilhelm Furtwängler komponierte, ist nicht sehr bekannt, ihm war es jedoch sehr wichtig:
    "Ich finde, ein guter Dirigent muss komponieren. Wenn man selbst etwas schreibt, lernt man doch erst, wie man überhaupt so was macht, nicht! Selber ..., hoppla!"
    Gern wollte man Klemperer auf das große klassische und romantische Repertoire festlegen, besonders auch auf Beethoven. Dagegen wehrte er sich aber vehement:
    "Ich kenne nur eine starke Musik und eine schwache Musik. Ich finde eines der letzten Werke von Schönberg, Streichtrio, eines der stärksten Werke, die ich kenne, obgleich es rein im Zwölftonsystem geschrieben ist. Dann kenne ich ein Stück von Pierre Boulez, eine Sonate für Flöte und Klavier, das finde ich reizend".
    Zu den prominenten Zeitzeugen, die sich in der Dokumentation über das Phänomen Klemperer äußern, gehört der Musikschriftsteller und -kritiker Hans-Heinz Stuckenschmidt:
    "Klemperer gab eigentlich mit seinem Minimum an Bewegung das Bild eines fast anti-emotionellen Musikers, aber was herauskam, war das genaue Gegenteil. Das war ja das, was ihn mit Busoni verband. Busoni spielte völlig unbewegt, als wenn das, was er spielte, ihn überhaupt nichts anging. Und diese scheinbare "Nichtbeteiligtkeit" entsprach sehr genau dem Gefühl einer jungen Musikergeneration nach dem Ersten Weltkrieg".
    Klemperer gab überraschend seine lebenslange Abneigung auf gefilmt zu werden
    "Klemperer - The Last Concert" lautet der Titel der zweiten DVD der Edition. Im Mittelpunkt steht hier Klemperers letztes Konzert mit dem New Philharmonia Orchestra vom September 1971 in der Royal Festival Hall.
    Diese Dokumentation wurde erst möglich, nachdem der Dirigent überraschend seine lebenslange Abneigung aufgegeben hatte, gefilmt zu werden. Im Begleitbuch schreibt Philo Bregstein dazu:
    "Ich wollte die einzigartige Gelegenheit nutzen, Klemperer während der drei Proben und dem anschließenden Konzert zu filmen, nicht um eine Reihe von musikalischen Eindrücken zu vermitteln, sondern vielmehr, um ein historisches Musikdokument zu erschaffen, das den Kern in Klemperers Art und Weise des Dirigierens zu enthüllen versucht".
    Probenmitschnitt
    Otto Klemperer probt die 3. Sinfonie von Johannes Brahms. Philo Bregstein gelang es hier wirklich, ein musikhistorisches Dokument zu schaffen, denn noch nie hatte es Klemperer zuvor erlaubt, bei Aufnahmen oder Proben des New Philharmonia Orchestra zu filmen. Eigentlich sollten diese Aufnahmen die Grundlage für eine Filmbiografie über Klemperer bilden. Das Material erschien Bregstein jedoch so einmalig, dass er eine eigene Dokumentation davon erstellte. Die Aufnahmebedingungen waren schwierig, denn Klemperer hatte zur Auflage gemacht, dass keine zusätzlichen Lichtquellen aufgestellt werden sollten und keine Kamera im Orchesterbereich stehen durfte. Der Farbfilm erscheint deshalb recht grobkörnig und nicht sonderlich scharf, was der Wirkung jedoch keinen Abbruch tut. Es ist faszinierend zu beobachten, wie der Dirigent, von Krankheit und Alter gezeichnet, seine musikalischen Vorstellungen an das Orchester vermittelt, mit minimalen Gesten und einer kaum beschreibbaren persönlichen Aura.
    Als Bonus findet man auf der zweiten DVD u. a. ein Interview mit dem jungen Pierre Boulez, der mit Klemperer bekannt war und von dessen Kunst und Ausstrahlung auf dem Podium tief beeindruckt war:
    "Ich würde sagen, und wäre da wohl nicht der Einzige, dass sein Hauptaugenmerk größtenteils auf der Kontinuität und der großen Gesamtform der Musik lag. Das war meines Erachtens sein Hauptinteresse. Die erste Gelegenheit ihn zu hören, hatte ich in Montreal, das war 1952. An die Qualität des Orchesters erinnere ich mich nicht mehr, und ich weiß nicht mehr jedes Detail. Aber seine Kraft ist mir sofort aufgefallen, die schiere Macht seiner körperlichen Erscheinung vor dem Orchester. Natürlich verfügt jeder Dirigent über ein gewisses körperliches Auftreten, aber bei Klemperer fiel vor allem seine Unbeweglichkeit auf. Viele sind auf dem Podium voll in Bewegung, sie krümmen sich, sie springen, sie zappeln herum. Aber er tat praktisch gar nichts, doch das mit einer beeindruckenden Intensität. Nach 20 Jahren erinnere ich mich daran besser als an die Musik. Ich könnte nicht sagen, dass die Darbietung sehr gut oder herausragend war, die Details weiß ich nicht mehr. Aber ich erinnere mich an die ungeheuerliche Unbeweglichkeit dieses Mannes und die hypnotisierende Kraft, die von dieser mächtigen Starre ausging".
    Als Besonderheit enthält die Edition den digital neu gemasterten Audio-Mitschnitt des letzten Konzertes mit Otto Klemperer und dem New Philharmonia Orchestra vom September 1971 aus der Royal Festival Hall.
    Musik: Beethoven, Ouvertüre zu König Stephan op. 117
    Mit den machtvollen Klängen der Ouvertüre zu "König Stephan" von Ludwig van Beethoven eröffneten Otto Klemperer und das New Philharmonia Orchestra am 26. September 1971 ihr Konzert in der Royal Festival Hall. Klemperer hatte zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht an einen Rückzug vom Podium gedacht, Pläne für die nächste Saison gab es auch schon. Doch der Gesundheitszustand des Dirigenten hatte sich deutlich verschlechtert, er wirkte sehr gebrechlich, seine Augen waren schlechter geworden und das Lesen und Arbeiten fiel ihm deutlich schwerer. Eine schon geplante Bruckner-Aufführung musste ausfallen, kurz darauf gab er seinen Rückzug vom Podium bekannt.
    "Man durfte sein Instrument spielen und Klänge erzeugen, man bekam von ihm Zeit zu spielen", sagte eine Geigerin aus dem Philharmonia Orchestra einmal. Diese Zeit war nun zu Ende. Otto Klemperer starb am 7. Juli 1973 88-jährig in Zürich, keine zwei Jahre nach dem letzten Konzert mit seinem geliebten Orchester.
    Musik: Beethoven, Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58
    Als Solist im letzten Konzert mit Otto Klemperer und dem New Philharmonia Orchestra spielte der israelische Pianist Daniel Adni das 4. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven.
    Der Höhepunkt des Konzertabends war dann die Aufführung der Sinfonie Nr. 3 von Johannes Brahms. Noch einmal konnte man hier den Spätstil Klemperers erleben, dieses Denken und Atmen in weiten Bögen, die Ruhe und Gelassenheit große Formen zu erfassen und auszugestalten. Weit ist Klemperer´s Dirigat hier entfernt von den ungestümen Aufnahmen aus den frühen Jahren:
    Musik: Brahms, Sinfonie Nr. 3 F-Dur op. 90
    Vorgestellte DVDs:
    "Otto Klemperer's Long Journey Through His Times" & "Klemperer - The Last Concert"
    2 Filme von Philo Bregstein - Beethoven: König Stephan Ouvertüre op. 117, Klavierkonzert Nr. 4, Brahms: Symphonie Nr. 3. + 2 CDs - Konzert aus der Royal Festival Hall in London, September 1971
    Label: Arthaus Musik
    Katalog Nr.: 109289
    EAN: 4058407092896