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Hoch oben

"Neue Welt" heißt eine Reihe im vielgestaltigen Programm des Berliner Verlags Matthes und Seitz. Jetzt liegt mit "High Wichita" des in Köln lebenden Amerikaners Mark von Schlegell ein weiterer Band vor: Eine Weltraumgeschichte um einen Detektiv, ein Quantenschloss und ein berühmtes Gemälde.

Von Tobias Lehmkuhl | 29.06.2011
    Neuengland, Nova Scotia oder New Orleans nannten die Menschen früherer Jahrhunderte neu entdeckte Gebiete oder soeben gegründete Siedlungen. Wie aber wird man in Zukunft Raumstationen oder Kolonien auf fernen Planeten taufen? Womöglich werden auch ihre Namen den Orten auf der guten alten Mutter Erde entlehnt sein, dazu aber mit dem Attribut "hoch oben" versehen. "High Wichita" zum Beispiel. So wenigstens heißt eine Raumstation in Mark von Schlegells gleichnamigem drittem Science Fiction-Roman, einem verspielt-anspielungsreichen Stück geschliffener Prosa. Sein Held, Nick Wesley, hat darin den Auftrag übernommen, Jan Vermeers berühmtes Gemälde "Junge Dame mit Perlenhalsband" sicher zur Erde zu bringen:

    "Sicher in synthetisches und hitzebeständiges Diamantpapier gewickelt, golden gerahmt, 25 Zentimeter hoch und 45 breit; auf den ersten Blick ein ziemlich einfaches Bild, das einen einzigen Moment zeigte. Eine kleine, in eine edle Robe gehüllte Robe gekleidete Frau blickt in den Spiegel. Ein großer, mit einem Tuch bedeckter Tisch nimmt fast den gesamten Vordergrund ein. Mittelständisch, jung, aber nicht ohne Erfahrung steht sie im Profil vor einem holzgerahmten Fenster. In zwei makellos gemalten Händen hält sie eine Perlenschnur vor ihrer Brust, blickt in den kaum zu erkennenden Spiegel neben dem geöffneten Fenster."

    Nicht zufällig wird der Spiegel in dieser Beschreibung so deutlich hervorgehoben. Mark von Schlegell nämlich beschäftigt in "High Wichita" vor allem die Frage nach Schein und Sein, nach Kopie und Original: Um das Gemälde zu schützen, hat sein Held Nick Wesley es mit einem sogenannten Quantenschloss versehen. Sein Mechanismus basiert auf Erwin Schrödingers berühmtem Gedankenexperiment, dass man später nach seinem Erfinder "Schrödingers Katze" nannte: In "High Wichita" nun gibt es zwei in Diamantpapier gewickelte Vermeer-Gemälde, und solange Nick Wesley nicht den passenden Schlüssel bedient, bleibt unklar, welches das Original, welches die Kopie ist, ja mehr noch, solange er den auf der Erde deponierten Schlüssel nicht einsetzt, sind beide Exemplare sowohl Original als auch Kopie.

    Die eigentliche Handlung nun aber findet nicht auf der Erde und auch nicht auf High Wichita statt, sondern auf der "Polly-Ann", einem Raumschiff des machtvollen Grafen Skaw, einer hinterlistigen Gestalt, die es auf das Nick Wesley anvertraute Gemälde abgesehen hat. Skaw übrigens bewohnt auf der riesigen "Poly-Ann" gleich ein ganzes Gebäude:

    "In dem sich als Dodekaeder drehenden Herrenhaus füllte die Neostein-Etage des Salons ein volles Pentagon. Abgesehen von den anti-tektonischen Wänden und den quer verlaufenden weißen Schienen, die ohne Halterung in der Deckenhalle schwebten, war der Salon im organischen Stil des Bollywood von 2130 eingerichtet – geräumig, voll von Neopflanzen und durch Windenergie versorgt."

    Mag diese Beschreibung auch einigermaßen unwirklich anmuten, nimmt das in besagtem Salon servierte futuristische Abendessen für den Leser sogleich sinnliche Gestalt an:

    "Krähensalat, ionischer Büffelfisch, alte gebratene grüne Bohnen, arrangiert mit einem Klacks Mett. Die Gäste aßen in Weltraummanier mit Pinzetten und weichen Handschuhen aus Buchweizensauerteig."

    Mark von Schlegell weiß seinen Gegenstand gut zu handhaben; stilistisch sicher und mit feinem Witz bietet er dem Leser seine Geschichte um die Frage nach Authentizität und Originalität dar. Dazu gehört auch, dass seine Hauptfigur eindeutig und bis ins Detail als Widergänger von Dashiell Hammetts Detektiv Nick Charles zu erkennen ist. Wobei von Schlegells Nick eben mehr ist als bloß ein Zitat. Anders als bei der "Jungen Dame mit Perlenhalsband", geht es in der Literatur nämlich nicht um die Aura, die materielle Einzigartigkeit. Die ist im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit ohnehin längst zu einer Chimäre geworden. Worauf es ankommt, ist die Frage, wie man mit den Artefakten und Ideen der Vergangenheit umgeht, wie man sie neu interpretiert und kombiniert. Mark von Schlegell auf jeden Fall weiß seinen Gegenstand sehr lebendig in Szene zu setzen. Und selbst als Kopie UND Original des Vermeer-Gemäldes zerstört sind, gibt er sich noch nicht geschlagen. Denn wie jeder gute Autor hat auch er, hat auch Nick Wesley im Kampf mit Graf Skaw, immer noch etwas in der Hinterhand.

    Mark von Schlegell: High Wichita. Übersetzt von Simon Elson. Matthes und Seitz, Berlin 2011. 96 Seiten, 10 Euro.