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Hoch-voluminöse Männerstimme

Es wirkte für die Pioniere der historischen Aufführungspraxis, Gustav Leonhard und Nikolaus Harnoncourt, wie eine Revolution, als in England ein Sänger mit einer Stimme auftauchte, wie man sie noch niemals gehört hatte. Der Countertenor Alfred Deller wurde am 31. Mai 1912 geboren.

Von Stefan Zednik | 31.05.2012
    Seit die Gedichte und Dramen William Shakespeares ihren festen Platz auch in der deutschen Literatur haben, gelten sie als begehrte Vorlagen für Komponisten – von Johannes Brahms bis Aribert Reimann. Wenig bekannt waren bis zur Mitte des vergangenen Jahrhunderts jedoch die originalen, zeitgemäßen Vertonungen, wie etwa jene von Thomas Morley aus "As you like it".

    Doch nicht nur die Musik des elisabethanischen Zeitalters war alles andere als populär, auch die Stimme, mit der Alfred Deller sie als erster vortrug, klang gänzlich ungewohnt. Er nutzt eine Gesangstechnik, die das natürliche Falsett, die Kopfstimme des Mannes, mit dem Brustregister mischt, wodurch der Ton einerseits seine Höhe, andererseits sein Volumen behält. Alfred Deller, geboren am 31. Mai 1912, entdeckte und entwickelte diese seit fast zweihundert Jahren vergessene Technik neu.

    Alfred Deller: "Als Kind habe ich im Kirchenchor einer kleinen Pfarrgemeinde gesungen. Ich hatte das Glück, eine ungewöhnlich schöne Sopranstimme zu besitzen. Und so durfte ich die Soli singen, bis ich 16 Jahre alt war. Da begann der Chorleiter, sich Sorgen zu machen. Er hatte noch nie von einem Knaben gehört, der diese Stimme so lange behalten hat. So riet er mir, mit dem Singen aufzuhören, um meine Stimme zu schonen. Nachdem ich den Chor verlassen hatte, forderte man mich auf, in einem Männerstimmenquartett zu singen. Beim letzten Konzert kam der Chorleiter zu mir und sagte: 'Ich verstehe das nicht Alfred, aber Du singst so schön wie immer, der Chor braucht dich, komm zurück und singe Alt.' So trat ich wieder in den Chor ein. Ich habe einfach in der gleichen Weise weiter gesungen: Meine Gesangstechnik heute, die Art, wie ich meinen Ton bilde, ist die gleiche wie in meiner Kindheit."

    Der aus einer armen, kinderreichen Familie stammende Deller wird Mitglied im Chor der Kathedrale von Canterbury, bis ihn 1943 der Komponist Michael Tippet veranlasst, sein solistisches Debut in London zu geben. Eine professionelle Ausbildung hat er nie erfahren. Erste Rundfunksendungen machen seine Stimme schnell berühmt. Das Interesse Dellers, der langweiliges Üben ablehnt und seine Konzerte meist sitzend absolviert, gilt der Musik der englischen Renaissance. Die weitgehend vergessenen Lieder von John Dowland, Thomas Morley oder Henry Purcell erleben so eine Wiederentdeckung. Die Protagonisten der noch jungen historischen Aufführungspraxis sind begeistert. Der Österreicher Nikolaus Harnoncourt:

    "Es war wie ein Blitzschlag! Noch nie hatten wir einen männlichen Altisten gehört - und dann das! Ein herrlicher, raffiniert modulierter Klang – mühelos leicht, ideal zu unseren alten Instrumenten; sehr eigenwillig und mit größtem Ausdruck eingesetzt. Ihn zu begleiten, war ein reines Vergnügen!"

    Alfred Deller gründet ein eigenes Ensemble, das Deller-Consort, mit dem er weltweit gastiert. Klug begrenzt er sein solistisches Repertoire, widersteht der Versuchung, sich etwa auf das Gebiet der ehemals mit Kastraten besetzten Händel-Oper zu wagen. Als allerdings Benjamin Britten ihm vorschlägt, die Rolle des Oberon in seiner Oper "A midsummer night's dream" für seine Stimme zu schreiben, nimmt Deller das Angebot an.

    Viele Komponisten sind Britten gefolgt und haben für diesen Stimmtyp geschrieben. Und viele Sänger fassten durch sein Vorbild den Mut, sich auf das lange als "unmännlich" diskreditierte Fach einzulassen. 1979, im Alter von nur 67 Jahren, ist der mittlerweile hochgeehrte Alfred Deller überraschend auf einer Reise in Bologna gestorben.