Freitag, 29. März 2024

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Hölderlin-Tagung in Italien
Ohne Fremde keine Heimat

„Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch.“ So schrieb der Dichter Friedrich Hölderlin. Und er meinte damit durchaus auch Erfahrungen mit der Fremde. Bei einer Tagung in der Villa Vigoni am Comer See sind Wissenschaftler der Frage nachgegangen, wie wichtig Grenzüberschreitungen für Hölderlin waren.

Von Henning Klüver | 08.07.2018
    Europa auf einem geografischen Globus
    Friedrich Hölderlin wanderte in seiner Jugend kreuz und quer durch Europa. (picture-alliance / dpa / Felix Hörhager)
    Der junge Hölderlin war gut zu Fuß. 1791 wanderte er 400 Kilometer in die Schweiz, wo er in Zürich den Philosophen Johann Christoph Lavater besuchte. Im April 1795 machte er, wie er beschrieb, "eine kleine Fußreise" von Jena nach Halle, Dessau und Leipzig. Und im Januar 1802 ging er wieder zu Fuß von Lyon aus nach Bordeaux. Seiner Mutter schrieb er von den "gefürchteten überschneiten Höhen der Auvergne, in Sturm und Wildniß, in eiskalter Nacht und die geladene Pistole neben mir im rauhen Bette". Doch die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er nicht auf Reisen, sondern in der Württembergischen Heimat und am Ende sogar verschlossen in einem – vielleicht nur vorgetäuschten – Wahn.
    "Bei Hölderlin steht ja im Zentrum, wenn er von Heimat und Fremde spricht, immer Deutschland und Griechenland. Aber man darf nicht vergessen, dass Hölderlin auch französischen Denkern und französischen Dichtern Gedichte gewidmet hat und aus dieser Dualität Deutschland - Griechenland, die teilt er ja mit Schiller, mit Goethe und wem auch immer noch, auch Hegel, dass er aus dieser Dualität etwas herauskommt. Das zeugt ein bisschen davon, dass er eben keine territorialen Grenzen sieht."
    Hölderlins dialektischer Heimatbegriff
    Markus Ophälders unterrichtet Ästhetik und Philosophie der Kunst und der Musik an der Universität Verona. Er ist einer der Initiatoren der Tagung in der Villa Vigoni "Grenzen- und Grenzüberschreitungen der Kultur – Hölderlin und Europa". Der 54jährige Philosoph ist von seiner Biographie her für Fragen nach Grenzüberschreitungen, nach Heimat und Fremde sensibilisiert: Er wurde in den USA als Kind deutscher Eltern geboren, hat in Berlin, Bologna und Mailand studiert und lebt in Italien. Er greift Hölderlins dialektischen Heimatbegriff auf.
    Zeitgenössische Darstellung des Schriftstellers und Dichters Johann Christian Friedrich Hölderlin
    Zeitgenössische Darstellung des Schriftstellers und Dichters Johann Christian Friedrich Hölderlin (picture alliance / dpa)
    "Da könnte ich den folgenden Vers aus Brod und Wein heranziehen: '… nemlich zu Haus ist der Geist / Nicht im Anfang, nicht an der Quell. Ihn zehret die Heimat'. Das heißt soviel wie: Er wird von der Heimat verzehrt. Wenn er bei sich zuhause bleibt, dann wird er verzehrt, dann geht er ein, dann stirbt er. Und dann schreibt Hölderlin: 'Kolonie liebt, und tapfer Vergessen der Geist.' Das heißt, der Geist muss erst einmal in die Kolonie gehen, in etwas Fremdes gehen, um dann, wenn er wieder zurückkommt - 'hinüberzugehen und wiederzukehren', wie das in Patmos heißt - um dann das Eigene wirklich schätzen und dann auch kennen zu lernen. Denn wir kennen unser Eigenes nicht, solange wir nicht diesen dialektischen Gegensatz mit der Fremde haben."
    Ohne Grenzen zu überschreiten, können wir uns also nicht selbst entdecken. Ohne Fremde gibt es keine Heimat. Das ist ein Prozess von Erfahrung, ein kultureller Prozess.
    "Und um diese Erfahrung machen zu können, müssen wir eben in die Fremde gehen. Wir können nur aus der Fremde wieder zurückkommen. Anders gibt es keine Kultur, anders gibt es keine Heimat. Heimat hat immer etwas Unheimliches an sich, wenn man das so aussprechen darf."
    Kultur spielt in der Politik keine Rolle
    Europa steckt in einer tiefen Krise. Es will uns nicht heimisch werden. Problematisch am Begriff der kulturellen Identität Europas ist, dass Kultur in der gegenwärtigen Politik keine Rolle spielt, unterstreicht Markus Ophälders.
    "Vom politischen Standpunkt aus, die Machthaber im Europa unserer Jahre, die haben ja überhaupt kein kulturelles Konzept, das muss man einfach mal so ganz klar sagen. Es geht nur um wirtschaftliche Zahlen, Schulden oder Nichtschulden, und auch politisch geht es im Grunde nur um das Minimalste. Es gibt fast keinen kulturellen Austausch."
    Was kann heute ein Hölderlin dazu beitragen? Thomas Mann hatte schon mal über Marx gesagt, dass seine Gesellschaftstheorie anders ausgesehen hätte, hätte er Hölderlin gelesen.
    "Wenn Thomas Mann sagt, Marx hätte Hölderlin lesen sollen, dann meint er damit, dass zu dem wirtschaftlichen Teil, zu dem politischen Teil auch der kulturelle mit hinzukommen muss. Anders führt das zu nichts und das, glaube ich, beschreibt unsere momentane Situation auch sehr gut."
    In dem von der EU-Kommission ausgerufenen Jahr des europäischen Kulturerbes bedeutet eine Rückbesinnung auf kulturelle Identität vielleicht eine Chance, Europa wieder von seinen Grundlagen her zu denken.