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Höllenfahrt in das Grauen des Gulag

Die klassischen literarischen Zeugen des Stalinschen Lagersystems wie Alexander Solschenizyn und Warlam Schalamow scheinen für das heutige Russland wenig bedeutsam zu sein. Mit Sergej Lebedew hat nun ein Nachgeborener einen Gulag-Roman geschrieben.

Von Jörg Plath | 05.11.2013
    Wie schwer ein Thema wiegt, auf das sich ein Autor einlässt, ist seinem Buch zuweilen schon von der ersten Seite an anzusehen. Sergej Lebedew, Jahrgang 1981, erzählt vom Stalinschen Lagersystem, dem Archipel Gulag. Sein Roman "Der Himmel auf ihren Schultern‟ setzt aber in Gibraltar ein. Dort blickt der Erzähler auf den Ozean und zurück:

    "Darum liegt für mich an dieser Grenzlinie der Welt mein Ziel nicht vor, sondern hinter mir. Ich muss zurückkehren. Meine Reise ist beendet, ich muss den Rückweg antreten – im Wort."

    Lebedews Erzähler erinnert sich an den Ural, die Grenze zwischen Europa und Asien, zugleich eine Sprachgrenze, hinter der sich die Dinge einer Bezeichnung zu entziehen schienen. Jenseits des Urals erfuhr der Erzähler, was das Eigene und das Fremde, was europäisch und was asiatisch ist, und rekapituliert es in Gibraltar. Der junge Mann holt Schwung.

    "Ich begriff, dass die russische Sprache meine Heimat ist. Diejenigen, die sie bevölkern, sind meine Mitbürger. Worüber ich nun schreibe, dazu gibt mir nicht die Erinnerung das Recht, sondern die Sprache. Die Sprache lebt von dem, was durch sie gesagt werden muss.‟

    Das sind poetologische Sätze, mehr noch aber Rechtfertigungen und Beteuerungen. Ich gehöre zu euch, den Russen, sagt Lebedews Erzähler, wir sprechen doch dieselbe Sprache, und sie ist es, die spricht – nicht meine Erinnerung, nicht ich. Wer sich als Erzähler so entleert und übergibt an etwas Größeres, hat etwas zu berichten, das die Mitbürger nicht hören wollen und übel nehmen könnten. Statt eines Romans ist nun eine Kunde zu erwarten, ein raunender Text, der vom Schicksal weiß, vom Blut, vom Mythischen, Märchenhaften, Albtraumhaften, Dämonischen. Und tatsächlich: "Der Himmel auf ihren Schultern‟ ist die längste Zeit eine Reise durch ein Reich voller Untoter in einer verwüsteten, verwahrlosten Wildnis.

    Zu Beginn aber gibt es einen Menschen, einen Jungen, der sich an eine Ferienhaussiedlung erinnert, in der ihm ein Nachbar zum zweiten Großvater wird. Der Greis ist blind, weshalb er den Erwachsenen als harmlos gilt. Dem Jungen aber erscheint er unheimlich, wie ein "innerlich Toter". Er ahnt, dass die Zurückhaltung des Einsamen, seine unauffällige Art eine "Kulisse‟ ist, die nicht mit seinem stillen Machtanspruch zusammenpasst. Nach dem Angriff eines Hundes auf den Jungen spendet ihm der zweite Großvater Blut und stirbt.

    Jahre später erbt der Herangewachsene die Datscha des Toten und erfährt aus versteckten Briefen, dass der Alte Lagerkommandant war. Geschockt davon, dass dessen Blut in seinen Adern kreist, träumt er von Gefangenen, die auf einer Insel ausgesetzt werden und ihn ansehen. Die Reise nach Sibirien als dem Ort der unhintergehbar eigenen, jedoch unbekannten Geschichte beginnt.

    Der junge Mann sucht den Briefpartner des zweiten Großvaters. Je länger die Reise andauert, desto furchtbarer, tierischer, mörderischer und dämonischer werden Beobachtungen und Begegnungen in der Wildnis mit den verfallenen Lagern. Der Briefpartner ist bald gefunden, der alte Mann war Leiter des Erschießungskommandos und leidet keine Gewissensqualen, nur unter dem Verlust seiner Bedeutung. Die Stadt, in der er wohnt, liegt am Rande eines gewaltigen Steinbruchs, den einst der zweite Großvater als Lagerkommandant anlegte. Tausende Häftlinge starben in ihm.

    "Der Steinbruch war – das Klaffen; man sagt – eine klaffende Wunde, und wenn man die Einzelheiten des Fleisches außer Acht lässt, kann man in der Wunde keine Umrisse und Formen mehr erkennen, sondern eben diese zerstörerische Formlosigkeit. Der Steinbruch zog meinen Blick auf sich – und der Blick verlor sich in ihm; er konnte sich nirgendwo verankern außer in der Leere, außer in den Spuren der Verwüstung. Es war unmöglich, mit dieser Absurdität fertig zu werden, den Abgrund dieser Leerstelle ins Bewusstsein aufzunehmen. An diesem Ort war etwas getan worden, was nicht hätte getan werden dürfen; eine Grenze war überschritten worden, die in Bezug auf die menschliche Natur nicht hätte überschritten werden sollen – und das Loch des Steinbruchs hatte eine Stadt um sich herum entstehen und die Umgebung zusammenschnurren lassen.‟

    Die Opfer der Häftlinge und ihre Leiden waren ungeheuer, und sie überwältigen noch den, der davon künden will. Immer wieder beteuert Lebedew hilflos die Maßlosigkeit der Verbrechen, immer wieder sucht er Halt: am Gilgamesch-Epos, an der Bibel, am Schicksal, an der Norm, einer ominösen "Grenze", der menschlichen Natur.

    Man muss nicht die präzise Lakonie Warlam Schalamows wählen, um über den Archipel Gulag zu schreiben, auch nicht die idealistische Empörung Aleksandar Solschenizyns. Doch man sollte der Maßlosigkeit auch nicht mit Appellen an die Norm begegnen. Die Aufklärung über Stalins Verbrechen, die Lebedew erreichen will, wird so verhindert.

    Als die Rede wieder auf den zweiten Großvater kommt, besitzt das Buch großartige Passagen. Wie der Lagerkommandant den eigenen Sohn in den Wahnsinn trieb, wie er eine Gruppe von Häftlingen auf einer Insel aussetzen ließ, wie Lebedews Erzähler einen Strom im Nachen hinuntertreibt zu dieser Insel der sämtlich erfrorenen Häftlinge, wo er in einen Trichter aus Eis fällt, aus dessen Wänden ihn die Toten anschauen – das sind gewaltige, beklemmende Szenen einer Höllenfahrt in das Grauen des Gulag und zu sich selbst.

    Sergej Lebedew: "Der Himmel auf ihren Schultern"
    Aus dem Russischen von Franziska Zwerg
    S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main