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Hören ist Sehen

Optische Illusionen belegen, dass der menschliche Sehsinn visuelle Eindrücke weniger eins zu eins übermittelt, sondern aktiv konstruiert. Dabei nutzt das Gehirn offenbar nicht nur die Informationen der Augen, sondern auch die der Ohren. Darauf weist nun eine Studie im Magazin "PNAS" hin.

Von Volkart Wildermuth | 13.08.2013
    Radio ist Kino im Kopf. An diesem Werbespruch ist mehr dran, als man gemeinhin denkt, davon ist Gary Lupyan überzeugt. Der Psychologe von der Universität von Wisconsin im amerikanischen Madison will herausfinden, ob der Mensch wirklich nur mit den Augen in die Welt blickt.

    "Sehen wir die Dinge, wie sie sind, nur mithilfe unseres Sehsystems, oder spielen auch Erwartungen und die Sprache eine Rolle?"

    Die Antwort lautet natürlich: ja. Offen ist aber, wie weit der Einfluss der Sprache reicht. Unstrittig ist, dass Worte die Aufmerksamkeit lenken oder die Interpretationen des Gesehenen verändern können. In beiden Fällen steht das Bild aber sozusagen schon fertig vor dem inneren Auge. Gary Lupyan wollte aber wissen, ob Sprache bereits in die Verarbeitung der optischen Signale eingreifen kann, vielleicht sogar beeinflusst, ob überhaupt etwas wahrgenommen wird oder nicht. Für sein Experiment nutzte er eine Brille, über die sich dem rechten und linken Auge jeweils unterschiedliche Bilder zuspielen lassen.

    "Das eine Auge sieht zum Beispiel das Bild eines Kängurus. Das andere ein auffällig blitzendes Linienmuster. Die Leute nehmen dann nur das Muster wahr. Dass das andere Auge ein deutliches Bild eines Tieres sieht, bemerken sie häufig gar nicht."

    Das blitzende Muster zieht den Großteil der Aufmerksamkeit auf sich, das Kängurubild erreicht zwar über Auge und Netzhaut die visuellen Hirnareale, wird aber meistens von dort nicht ans Bewusstsein weitergereicht. Um wirklich wahrgenommen zu werden, brauch das Bild des Kängurus Hilfestellung, und die kann über die Ohren kommen.

    "Wenn sie das Wort "Känguru" hören, dann nehmen sie das eigentlich unsichtbare Känguru bewusst wahr. Wenn wir aber "Kürbis" sagen, dann können noch weniger Menschen das Tier erkennen. Sprache hilft, wenn sie zum Bild passt, wenn sie nicht passt, verschlechtert sie die Wahrnehmung."

    Wenn gar kein Bild zu sehen ist, dann haben auch die Worte keinen Einfluss. Die Leute fangen nicht einfach an, sich ein Känguru einzubilden, wenn gar keins da ist. Der Hörsinn ist also nicht gewichtiger als der Sehsinn. Es scheint eher so zu sein, dass sich die verschiedenen Sinneskanäle gegenseitig beeinflussen und zwar schon auf der Ebene der Wahrnehmung und nicht erst bei der Interpretation des Bildes. Dieser Befund spricht gegen eine populäre Vorstellung von der Arbeitsweise des Gehirns. Danach werden optische, akustische oder Geschmacksinformationen in weitgehend voneinander abgeschotteten, spezialisierten Modulen verarbeitet und erst ganz am Ende miteinander in Beziehung gesetzt. Die Studie von Gary Lupyan zeigt dagegen:

    Beim Sehen geht es nicht nur um Bilder, bei Hören nicht nur um Töne. Und selbst etwas so abstraktes wie ein kulturell geprägtes Wort kann ganz grundlegende Wahrnehmungsprozesse beeinflussen. Das Gehirn versucht nicht, die Welt optisch möglichst akkurat abzubilden. Von Anfang an ist die Wahrnehmung auch eine Interpretation der Welt, geht es darum, aus den Daten aller Sinne ein möglichst stimmiges Gesamtbild zu konstruieren.

    "Entscheidend ist, dass unsere Augen uns nur unvollständige und deshalb vieldeutige Informationen liefern. Wir sehen klarer, wenn wir den Kontext miteinbeziehen. Das führt vielleicht manchmal in die Irre, aber generell, wenn die Wahrnehmung alle verfügbaren Informationen zusammen mit unseren Erfahrungen nutzt, dann bekommen wir besser mit, was in der Umgebung passiert und können effektiver handeln."

    Der Mensch sieht also auch mit seinen Ohren und hört wahrscheinlich mit den Augen und der Sprachsinn beeinflusst beides.