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Hörerwelten
"Wir sind die armseligen Omas"

Ihr selbst stehen gerade mal sechs Euro pro Tag zur Verfügung. Eine 78 Jahre alte Hörerin hatte in einer E-Mail an den Dlf von ihren Erfahrungen bei einer Tafel berichtet: Sie als alleinstehende Frau fühle sich oft benachteiligt. Dass man als Hartz-IV-Empfänger für dumm gehalten werde, das ärgere sie - und noch vieles mehr.

Von Lena Sterz | 04.04.2018
    Ausgabestelle der Essener Tafel
    Drei Euro muss sie als Eintritt für die Tafel bezahlen, Fleisch bekomme sie aber kaum, berichtet eine Dlf-Hörerin, die anonym bleiben will. (picture alliance/dpa/Foto: Roland Weihrauch)
    In den "Hörerwelten" dokumentieren wir ausgewählte subjektive Meinungen der jeweiligen Hörerinnen und Hörer, sofern sie sich im rechtlichen Rahmen bewegen.
    "Jetzt hab ich so viele Paprika bekommen. Jetzt weiß ich nicht, was ich damit machen soll…"
    Mindestens 20, 25 rote und orange Paprika liegen in einer alten Plastiktüte, die Renate Seelig gerade von der Tafel bekommen hat.
    "Sehen Sie: Die schöne rote Paprika! Da kann ich ja eine ganze Kompanie mit …"
    Reporterin: "Hätten Sie sich lieber noch ein bisschen was anderes gewünscht?"
    "Ja! War aber nix da. Jetzt muss ich mal sehen. Vielleicht kann ich da ein bisschen was einfrieren oder was."
    So viele Paprika! Das ist jetzt fast Stress für Renate Seelig. Denn wegwerfen will sie sie auf keinen Fall. Die 78-Jährige, die eigentlich anders heißt, ist klein und schmal, ihre grauen Haare trägt sie geflochten. Meistens läuft sie die 45 Minuten von ihrer Wohnung zur Tafel mit ihrem Trolley, um das Geld für den Bus zu sparen. Ihr kleines Wägelchen ist jetzt gefüllt mit Dingen, die sie einmal wöchentlich von der Tafel bekommt. Außer Paprika mit ein paar braunen Stellen gab es heute: Salat, einen Apfel, einen Joghurt, eine Aufbackpizza, "und das Doppeltgebackene und die Brötchen, das ist alles."
    "Ich verwerte alles"
    "Die Brötchen sind ja knochenhart, nicht. Die mach ich ein bisschen nass und dann werden die auf den Toaster gelegt. Das sind sechs Brötchen – für zwei Tage. Aber wenn die zu hart werden, dann schneid ich ja die Kruste ab und mach daraus Paniermehl."
    Beim welken Salat wird sie die braunen Stellen rausschneiden, den abgelaufenen Joghurt wird sie den Nachbarn mit den vielen Kindern geben, weil sie ihn selbst nicht verträgt, und die Aufbackpizza wird sie demnächst für ihre Enkel in den Ofen schieben. Auch für die 25 Paprika wird sie eine Verwendung finden, bevor sie noch schrumpeliger werden.
    "Ich verwerte alles, ich verwerte wirklich alles. Mein Sohn sagt immer: ‚Mutti, du bist bekloppt! Du stellst dir die Kühlung immer so voll!‘ Da hab ich gesagt: Und wenn ich bloß einen Esslöffel einfriere! Das tu ich dann in so ein kleines Töpfchen, manchmal kriegt man ja so einen Fleischsalat, der schon abgelaufen ist oder so. Die Töpfchen verwahr ich dann und dann tu ich die Essensreste da rein. Sonst käme ich gar nicht auf den grünen Zweig!"
    Hörerin will anonym bleiben
    In einer Mail ans Deutschlandradio schrieb Renate Seelig, dass sie den Vorsitzenden der Essener Tafel sehr gut verstehen kann. Sie als Lebensmittelbezieherin dürfe in ihrer Tafel – sie geht zu einer anderen - keine Kritik äußern, weil sie sonst Hausverbot bekommen würde. Erst nach einigem Überlegten traut sie sich, ihre Geschichte anonym zu erzählen.

    Kurz nach ihrer Lehre zur Bürokauffrau kam das erste Kind - nach dem sechsten ließ ihr Mann sie sitzen. Sie zog die sechs Kinder alleine groß, mit Sozialhilfe. Erst war ein Sohn, später noch ein zweiter behindert. Sie pflegte sie bis zum Tod. Als der zweite stirbt, vor sechs Jahren, meldet sie sich bei der Tafel an.
    "Das ist so eine Überwindung."
    Ihre kleine Mütterente wird durch Grundsicherung aufgestockt, so kommt sie auf gut 850 Euro Einkommen im Monat. Nach Abzug der Miete bleiben noch 350 Euro, wenn sie Heizung, Strom, Telefon, Internet und Versicherungen bezahlt hat, bleiben ihr um die 180 Euro im Monat zum Leben.
    Sechs Euro pro Tag für Kleidung, Medikamente, Lebensmittel, Busfahrkarten, mal eine neue Brille. Wie schafft man das?
    "Ich hab das von meiner Mutti gelernt. Und vor allen Dingen bin ich das ja schon seit 50 Jahren gewohnt…"
    Sie könnte etwas Geld sparen, indem sie in eine günstigere Wohnung zieht. In der jetzigen wohnt sie seit 25 Jahren. Sie könnte weiter raus ziehen, da wäre es günstiger, aber sie mag es, dass sie in 30 Minuten zum Friedhof und in 45 zur Tafel laufen kann. Bustickets leistet sie sich nur bei Regen.
    "Jetzt wohn ich schon so lange hier – wo soll ich denn jetzt noch hin?"
    Mit 78 nochmal umziehen, um ein paar Euro mehr im Monat zu haben? Ne, dann lieber eine Woche lang morgens und abends nur Brot mit Butter essen.
    Renate Seelig ist dankbar, dass sie überhaupt zur Tafel gehen kann. Aber seit etwas mehr als einem Jahr gebe es dort immer weniger Lebensmittel, sagt sie. Und als alleinstehende Frau fühle sie sich dort oft benachteiligt.
    Fleisch nur für Großfamilien
    "Ich hatte vorher gefragt, ob ich die Koteletts haben dürfte. Ne, hat er gesagt, das ist nur für große Familien."
    Sie gehe bei Fleisch oft leer aus, erzählt sie – die Packungen seien zu groß für sie, würden die Tafelmitarbeiter argumentieren. Dabei muss sie genauso viel Eintritt für die Tafel zahlen wie die Familien: Drei Euro zahlt man, egal ob man nur für sich oder für eine Großfamilie Dinge mitnimmt. Das findet Renate Seelig nicht fair. Aber alleinstehende ältere Menschen wie sie sind bei ihrer Tafel in der Minderheit.
    "Wir sind da vier, fünf Deutsche – wir sind die armseligen Ommas."
    "Da komme ich mir immer so vor wie die Leute mit dem Judenstern"
    Als CDU-Gesundheitsminister Jens Spahn behauptet hat, in Deutschland müsse niemand hungern, auch ohne Tafel, hat sie sich sehr geärgert. Sie würde sich wünschen, dass sich mal ein Politiker mit dort hinstellt und merkt, wie es ist dort mit dem Tafelausweis um den Hals zu stehen, auf dem jeder anhand der groß aufgedruckten 1 lesen kann, dass sie alleine ist.
    "Diese Diskussion, die hat mich so geärgert. Weil die Leute sich ja nicht Hinstellen eine halbe Stunde oder eine Stunde. Müssen uns ja was umhängen, wie viele Personen wir sind. Und da komme ich mir immer so vor wie die Leute mit dem Judenstern."
    Überhaupt hat sie das Gefühl, dass sich die Politiker nicht für die Lebensumstände der Tafelkunden wie sie interessieren.
    "Die fragen ja gar nicht die Leute! Die sagen doch nur: Wer Hartz IV kriegt oder wer Grundsicherung kriegt, die sind doch eh alle dumm. Ich habe das Gefühl, dass man verdummt wird. Ich bin ein intelligenter Mensch – ich kann rechnen, ich kann reden – deshalb wollte ich das wirklich mal zur Sprache bringen."
    Mit dem dicken Auto zur Tafel
    Es gibt noch etwas, das sie zur Sprache bringen will: Manchmal wundert sie sich über die Autos, die bei der Tafel vorfahren.
    "Ich hab gedacht, ich seh nicht richtig: Dann steigen die in einen 280er niegelnagelneuen Mercedes. Aber der war dann um die Ecke geparkt – das gibt’s doch gar nicht!"
    Auch heute sehen wir in den zehn Minuten, die wir in der Nähe der Tafel im Nieselregen stehen, drei teuer aussehende Autos, in denen Familien wegfahren, die eben noch in der Tafel waren. Das ist es, was Renate Seelig traurig und wütend macht.
    Die Familien in den dicken Autos sähen immer ausländisch aus, sagt Renate Seelig. Trotzdem sei sie nicht dafür, keine Ausländer mehr in der Tafel aufzunehmen. Sie würde sich nur wünschen, dass sie weniger für die Tafel zahlen müsste als die Familien. Und dass Menschen mit teuren Autos ihr nicht mehr die Koteletts wegessen. Damit sie mittags etwas Ordentliches zu ihren Paprika dazu essen kann.