Hörspiel des Monats

Nach dem Verschwinden.

Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger, aufgenommen am 28.05.1991.
Die österreichische Schriftstellerin Ilse Aichinger © picture-alliance/ dpa / Martina Hellmann
Von Christine Nagel · 06.09.2014
Die Jury hat großen Respekt und einhellige Bewunderung für die Hörspieleinrichtung "November 1918" (NDR/SWR), basierend auf Alfred Doblins voluminösem Roman. Norbert Schaeffer gelingt ein spannendes, liebevoll bearbeitetes, aufwendig gemachtes Hörspiel-Panorama. Dennoch hat sich die Jury entschieden, dem genuinen Hörspiel den Vorzug zu geben.
"Nach dem Verschwinden" ist ein "fiktiver Dialog" mit der seit knapp zwei Jahrzehnten wieder in Wien lebenden Schriftstellerin Ilse Aichinger (*1921). Die 1969 geborene Hörspielautorin Christine Nagel nähert sich ihr mit den Mitteln des Hörspiels, versucht, mit radiofonen Einfällen und sprachlichen Bildern dem enigmatischen Wesen und der Poesie Ilse Aichingers naher zu kommen. "Das Verschwinden" ist eine zentrale Metapher im Werk der österreichischen Dichterin: Wo ist man nach dem Verschwinden, was bedeutet Verschwinden? Christine Nagel greift viele Bilder aus den Prosaarbeiten der Autorin auf, etwa den grünen Esel, der über die Eisenbahngleise geht, oder den Vater aus Stroh. Sie umkreist eine Art alter Ego der Autorin, deren Zwillingsschwester 1938 auf der Fahrt nach England, wo jüdische Kinder aufgenommen wurden, verschwand. Sie fuhrt eine junge Schauspielerin ein, die auf der Suche nach Arbeit ist und die bei den Wiener Verkehrsbetrieben vorspricht, um später die Namen der Haltestellen einsprechen zu dürfen. Auch sie ist eine Sprachsuchende, eine Spiegelnde, wunderbar gelesen von Verena Lercher. Schließlich ist es die großartige Stimme von Ilse Aichinger selbst. Sie wirkt wie die Erzählerin, sie motiviert, sie animiert. Man konnte ihr stundenlang zuhören. Wer sich dieses Hörspiel, diesen "fiktiven Dialog" anhört, bekommt Lust auf die Literatur der wunderbaren Ilse Aichinger. (Aus der Begründung der Jury der Akademie der Darstellenden Künste)