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Hoffen auf Straßburg

Fast ein Drittel aller beim Europäischen Gerichtshof in Straßburg behandelten Fälle von Menschenrechtsverletzungen betreffen Vorkommnisse in Russland, ein Zehntel davon bezieht sich auf Gewaltverbrechen in Tschetschenien.

Von Barbara Lehmann | 11.12.2009
    Russische Soldaten schleifen den jungen Tschetschenen über den Boden, traktieren ihn mit ihren Stiefeln. "Los, los, macht ihn fertig, erschießt ihn, verdammt", feuert der dabei stehende General seine Untergebenen an. Ein CNN-Kamerateam filmt die Szene. Fatima Barsorkina sieht sie im Februar 2000 in den Abendnachrichten und erkennt in dem wehrlosen jungen Mann ihren Sohn Chadschi Murat Jandijew wieder. Im Juni 2006 urteilt der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg, dass die russische Regierung für Jandijews "widerrechtliche Verhaftung und Tötung" verantwortlich sei. Die russischen Behörden werden aufgefordert, sein Verschwinden zu untersuchen und ein Verfahren gegen den General zu eröffnen. Drei Jahre nach dem Straßburger Urteil ist nichts davon geschehen. Das ist kein Einzelfall erklärt Alisson Gill, Direktorin des Moskauer Büros von Human Rights Watch.

    "Der Gerichtshof in Strasbourg hat über 100 Fälle behandelt, die Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien betreffen. Russland bezahlt zwar prompt die Entschädigungssummen an die Kläger und die Gerichtskosten. Doch der Kern des Urteils - nämlich die Untersuchungen zu verstärken - wird regelmäßig nicht umgesetzt."

    Russische Soldaten, die in der eigenen Armee gedemütigt wurden, Lager- und Gefängnisinsassen, die unter unerträglichen Haftbedingungen litten und leiden, Opfer russischer Milizen, mundtot gemachte Journalisten, um Sozialleistungen geprellte Kriegsinvalide, Rentner, Arbeitslose, um ihr Eigentum Geprellte - sie alle hoffen in Straßburg auf die Gerechtigkeit, die ihnen die Justiz im eigenen Land verwehrte. Doch der Weg von der Einreichung einer Klage bis zu ihrer Verhandlung und dem Urteil ist langwierig und kostspielig. Von 30.000 Klagen werden in Straßburg nur 4000 angenommen, weil die meisten den juristischen Standards nicht genügen oder nicht unter "Menschenrechtsverletzungen" fallen. Einige Kläger geben zudem auf, weil sie von den russischen Behörden wegen ihrer Klage in Straßburg schikaniert werden. Dennoch betreffen 30 Prozent aller beim Europäischen Gerichtshof behandelten Fälle Menschenrechtsverletzungen in Russland; ein Zehntel davon bezieht sich auf die Gewaltverbrechen in Tschetschenien. Allein zwischen Januar und September 2009 wurden über 300 Urteile zu Russland gesprochen - fast alle im Sinne der Kläger.

    "Auf der politischen Ebene hat die russische Regierung oft den Europäischen Gerichtshof beschuldigt, politisch zu sein oder unfair gegenüber Russland. Doch derzeit unterstützt der Kreml 3000 Klagen aus Südossetien gegen Georgien. Das zeigt, dass die russische Regierung die Rechtsprechung in Straßburg akzeptiert. Die europäischen Partner können also zu Russland sagen: Ihr akzeptiert die Rechtsprechung bei 3000 ossetischen Fällen. Dann müsst ihr auch dafür sorgen, dass der Europäische Gerichtshof effektiver arbeiten kann und imstande ist, die Umsetzung der Urteile zu kontrollieren."

    "Die Durchsetzungskraft und die Effizienz des russischen Justizsystems müssen verstärkt werden, damit die in Straßburg behandelten Fälle in Zukunft besser von den russischen Gerichten behandelt werden", sagt auch der Europäische Gerichtshof. Offensichtlich ist, dass die Russen der Justiz im eigenen Lande misstrauen. Für die Kläger ist der Gerichtshof die letzte Hoffnung für Gerechtigkeit in einer in ihren Augen ungerechten Welt. Doch Straßburgs Leuchtkraft schwindet. Immer mehr Fälle gehen ein, es wächst der Rückstau der unbearbeiteten Akten. Weder personell noch finanziell ist der Gerichtshof angemessen ausgestattet. Das Zusatzprotokoll 14 zur Europäischen Menschenrechtskonvention weist den Weg, wie die Verfahren zu beschleunigen wären und dem Ministerkomitee des Europarates bei der Überwachung und Umsetzung der Urteile mehr Befugnisse eingeräumt werden könnten. Doch als einziger der 46 Mitgliedstaaten verweigert Russland die Ratifizierung des Protokolls. "Diese Frage hat für den Europarat politische Priorität", betont auch der Gerichtshof. Man tue alles, damit das Protokoll in Kraft treten könne. Zudem verfolge man "alternative Wege der Reformierung."