Donnerstag, 25. April 2024

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Hoffmann (DGB) zur Coronakrise
"Rettungsschirme für die Beschäftigten stärken"

Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds fordert eine Anhebung des Kurzarbeitergeldes auf 80 Prozent. Gerade Geringverdienende könnten die Situation nicht lang durchhalten, sagte Reiner Hoffmann im Dlf. Die Grundrente zu verschieben, wäre seiner Ansicht nach aktuell ein falsches Signal.

Reiner Hoffmann im Gespräch mit Jürgen Zurheide | 14.04.2020
DGB-Bundesvorsitzender Reiner Hoffmann
Bevor die Wirtschaft wieder hochgefahren werde, müsse die Sicherheit am Arbeitsplatz sicher gestellt sein, so Reiner Hoffmann (picture alliance/Paul Zinken/dpa)
Für den Vorschlag einiger Unionsabgeordneter, Teile der Grundrente zurückzustellen, hat der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds Reiner Hoffmann "überhaupt kein Verständnis". Zwar habe der Staat erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Beschäftigung in Deutschland in der Coronakrise zu sichern; unter anderem das Kurzarbeitergeld sei dafür eine wichtige Voraussetzung gewesen. Dennoch sei vor allem die Situation von Geringverdienern schwierig, betonte Hoffmann.
Deshalb ist seiner Meinung nach eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf 80 Prozent nötig. "Für Unternehmen sind Milliardenbeträge an Rettungsschirmen aufgespannt worden. Das ist richtig. Aber jetzt müssen auch die Rettungsschirme für die Beschäftigten gestärkt werden." Die Bundesagentur für Arbeit habe umfangreiche Mittel zur Verfügung.
Für die Gewerkschaften stehe die Sicherheit und die Gesundheit der Menschen bei der Arbeit im Vordergrund. Bevor die Wirtschaft wieder hochgefahren werde, müsse deshalb Sicherheit herrschen, dass die Menschen geschützt würden und "dass wir eine zweite Infektionswelle verhindern", sagte Hoffmann. Das würde sozial und wirtschaftlich erhebliche Folgen mit sich bringen, "die keiner verantworten möchte".
Sanitätsräume, Pausen- und Kantinenräume müssten nun mit entsprechenden Infektionsschutzmaßnahmen ausgestattet werden. "Wenn wir ein vorsichtiges Wiederhochfahren der Wirtschaft vorbereiten", so Hoffmann, "dann müssen solche Schutzmaßnahmen in ausreichendem Maße vorhanden sein."

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Jürgen Zurheide: Was heißt das für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, wenn es demnächst Lockerungen gibt? Welche Voraussetzungen erwarten Sie, damit es Lockerungen gibt – über das hinaus, was jetzt ja schon im Moment passiert?
Reiner Hoffmann: Für die Gewerkschaften steht die Sicherheit und die Gesundheit der Menschen bei der Arbeit absolut im Vordergrund. Es sind die Arbeitgeber, die für den Schutz der Beschäftigten verantwortlich sind, und natürlich ist in Zeiten der Pandemie der Arbeitsschutz von besonderer Bedeutung und muss diesen Umständen gerecht werden. Das bedeutet, dass, bevor wir wieder hochfahren, wir wirklich Sicherheit haben müssen, dass die Menschen geschützt werden, und dass wir vor allen Dingen eine zweite Infektionswelle verhindern. Das würde sozial, aber auch wirtschaftlich erhebliche Folgen mit sich bringen, die keiner verantworten möchte. Deshalb heißt es jetzt, den Arbeitsschutz so auszustatten, dass zusätzliche organisatorische Maßnahmen in den Betrieben getroffen werden, dass Sanitätsräume, Kantinen, Pausenräume mit entsprechenden Infektionsschutzmaßnahmen ausgestattet sind, dass Abstand natürlich auch auf der Arbeit oberstes Gebot ist und dass wir eine ganze Reihe an branchenspezifischen Maßnahmen brauchen, beispielsweise wenn es um die Anfahrt zum Arbeitsplatz geht, auf den Baustellen. Da geht es nicht, dass Menschen in einen VW-Bus eingepfercht sind, mit acht, zehn Leuten zur Arbeit geschickt werden. Oder denken Sie an die Erntehelfer: Die Unterkünfte müssen so sein, dass auch hier Einzelunterbringungen möglich sind, damit die Infektionsgefahr deutlich, deutlich minimiert wird.
Zurheide: Jetzt hätte ich fast gesagt, das ist nett, was Sie da alles fordern. Aber ist das nicht Utopie? Wo kriegen wir die Masken her, die Transportmittel und so weiter und so weiter? Wo soll das alles so schnell herkommen?
Hoffmann: Das ist genau die Voraussetzung, wenn wir ein vorsichtiges Wiederhochfahren der Wirtschaft vorbereiten. Dann müssen solche Schutzmaßnahmen in ausreichendem Maße vorhanden sein. Wir erleben gerade, dass viele Betriebe in Deutschland ihre Produktion umstellen, um beispielsweise Schutzmasken oder aber auch Beatmungsgeräte hier vor Ort in Deutschland zu produzieren, damit wir in den nächsten Wochen möglichst umfangreich mit den technischen Mitteln ausgestattet sind, die uns ein behutsames Wiederanfahren der Wirtschaft erlauben.
"Die Grundrente muss kommen"
Zurheide: Jetzt gibt es in diesen Tagen ja auch schon die eine oder andere politische Diskussion. Wir haben es gerade bei uns in den Nachrichten gehört. Teile der Union wollen zum Beispiel solche Projekte wie die Grundrente zurückstellen, weil sie einfach sagen, im Moment haben wir nicht genügend Geld, wir müssen da viel ausgeben. Haben Sie Verständnis dafür?
Hoffmann: Da habe ich überhaupt gar kein Verständnis für. Natürlich haben wir erhebliche Anstrengungen unternommen, um die Beschäftigung in Deutschland zu sichern. Das Kurzarbeitergeld war eine ganz wichtige Voraussetzung. Aber auch hier sage ich wie bei der Grundrente: Die Grundrente muss kommen und beim Kurzarbeitergeld müssen wir uns die Situation der Beschäftigten anschauen. Nach acht Wochen Kurzarbeit, eine Verkäuferin, die vormals rund 1600 Euro netto verdient hat, bekommt nur noch 940 Euro, das heißt 660 Euro im Monat weniger. Das wird sie nicht lange durchhalten. Die Kellnerin, die nicht mehr in der Gastronomie arbeiten kann, hat früher schon nur 1200 Euro netto verdient, bekommt noch 725 Euro. Auch das zeigt, wie sozial anstrengend diese Situation für die Menschen ist, und hier brauchen wir schlicht und ergreifend eine Aufstockung des Kurzarbeitergeldes auf 80 Prozent. Hier sind die Forderungen an die Politik ganz klar: Das Kurzarbeiter-gesetz muss rasch geändert werden, damit die sozialen Schieflagen vermieden werden. Für Unternehmen sind Milliarden-Beträge an Rettungsschirmen aufgespannt worden. Das ist richtig. Aber jetzt müssen auch die Rettungsschirme für die Beschäftigten gestärkt werden. Und die Grundrente zu verschieben, ist das völlig falsche Signal.
"Der Coronavirus macht nicht Halt vor dem Klimaschutz"
Zurheide: Das ist auch wieder nett, möchte ich sagen, was Sie da fordern. Wo soll das Geld herkommen?
Hoffmann: Wenn ich mir anschaue: Bei der Bundesagentur für Arbeit haben wir rund 26 Milliarden Euro. Wir können schlecht abschätzen, wie viele Menschen wirklich wie lange in Kurzarbeit sein werden. Aber die Rücklagen, die die Bundesagentur zurzeit hat, sind sehr umfangreich. Gehen wir mal davon aus, dass fünf Millionen Menschen in der Spitze von Kurzarbeit Gebrauch machen müssen, dann wird das im Umfang 20 Milliarden vielleicht in Anspruch nehmen. Da sind Mittel vorhanden, das ist gut so, und deshalb müssen Menschen jetzt auch entsprechend abgesichert werden, damit sie nicht am Ende des Monats beim Sozialamt Grundsicherung beantragen müssen.
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Zurheide: Wenn wir jetzt über den Wiederaufbau reden, gibt es auch die eine oder andere Forderung, zum Beispiel aus der Automobilindustrie, bestimmte Regularien doch vielleicht zurückzufahren, weil das alles können wir nicht gleichzeitig schaffen, den Wiederaufbau auch der Automobilindustrie, die im Moment stillsteht, und dann harte Anforderungen aus Brüssel. Sind Sie einverstanden, im Sinne der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer da auch mal Fünfe gerade sein zu lassen?
Hoffmann: Ich glaube, man muss einen anderen Blick darauf werfen. Dann wird ein Schuh daraus. Dass wir eine längerfristige Transformation vor uns haben, die sowohl Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellen muss, dass wir was für den Klimaschutz machen müssen – der Coronavirus macht ja nicht Halt vor dem Klimaschutz, der ist nach wie vor eine der zentralen Herausforderungen. Und wir sind auch gut beraten, wenn wir jetzt aus dieser Krise alle Anstrengungen unternehmen, den Modernisierungsschub, den es in unserer Gesellschaft gibt, dann auch so in Angriff zu nehmen, dass wir nicht Klimaziele gegen wirtschaftliche Ziele gegeneinander ausspielen, sondern versuchen, dieses im Gleichklang mit sozialer Verantwortung, aber auch mit Verantwortung für die Umwelt in Einklang zu bringen. Darin sehe ich eine große Herausforderung. Das schaffen wir im Übrigen nicht alleine nur auf nationaler Ebene. Hier ist ein ambitioniertes europäisches Vorgehen zwingend erforderlich.
"Transformation sozial und ökologisch gerecht gestalten"
Zurheide: Wir kommen gleich noch auf das Thema Europa zu sprechen. Fordern Sie so etwas, wie ich es heute Morgen schon in Agenturmeldungen lese, dass zum Beispiel die Automobilindustrie unterstützt wird, wenn es etwa neue Autos mit anderen Antrieben gibt? Machen Sie sich das zu eigen?
Hoffmann: Wir haben ja schon auch vor dem Ausbruch der Coronakrise darauf hingewiesen, dass Deutschland einen erheblichen Investitionsbedarf hat. Das heißt natürlich auch Investitionen in die Elektromobilität. Da geht es um die technische Infrastruktur, da geht es um Batteriezellen, da geht es um gemeinsame Forschungsanstrengungen, die wir auch mit den Unternehmen nach Möglichkeit im europäischen Verbund vorantreiben müssen. Das werden die Unternehmen alleine nicht schultern. Wir wissen auch, wie viele Automobilhersteller haben zu lange gezögert, den Weg in Richtung Elektromobilität zu begehen. Aber jetzt kommt es darauf an, diese Anstrengungen trotz Coronakrise nicht einfach hinten anzustellen, sondern wir müssen schauen, wenn wir die Wirtschaft behutsam wieder in Gang setzen, dass wir auch die Transformation, die uns bevorsteht, sozial und ökologisch gerecht gestalten.
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Zurheide: Ein anderer Bereich – auch den müssen wir heute Morgen ansprechen – ist das Gesundheitswesen. Auf der einen Seite hat es enorme Anstrengungen gegeben. Wir haben heute Morgen auch darüber gesprochen. Die Kliniken haben vieles geschafft und auch noch mal wieder kräftig investiert. Auf der anderen Seite haben sie eine schwierige wirtschaftliche Lage. Was muss sich denn aus Ihrer Sicht im Gesundheitswesen, oder muss sich im Gesundheitswesen demnächst etwas ändern? Müssen wir da anders draufschauen?
Hoffmann: Ich glaube, es ist gerade in diesen Tagen deutlich geworden, wie wichtig unser Gesundheitswesen ist, das natürlich im internationalen Vergleich gut aufgestellt ist. Aber wir erleben auch, dass die Ökonomisierung des Gesundheitswesens in den letzten Jahren viel zu weit getrieben wurde. Wir haben Personalausstattungen, die die Menschen an ihre Belastungsgrenzen bringen. Wir brauchen mehr Investitionen in die technische Infrastruktur des Gesundheitswesens. Wir brauchen aber auch Investitionen in das Personal insbesondere im Pflegebereich. Es kann nicht sein, dass wir heute die Heldinnen und Helden der Arbeit unter anderem in der Pflege, aber auch in vielen anderen Bereichen feiern, dass wir Wertschätzung aussprechen, was grundsätzlich richtig ist, aber am Ende diese Wertschätzung sich nicht auch in besseren Arbeitsbedingungen, in besserer Bezahlung deutlich macht. Das sind Konsequenzen, das sind Schlussfolgerungen, die wir schon heute, glaube ich, aus dieser anstrengenden Situation ziehen müssen.
"Die Fehler einer besinnungslosen Sparpolitik nicht wiederholen"
Zurheide: Zum Schluss, auch wenn wir nicht mehr viel Zeit haben, ganz kurz Stichwort Europäische Union. Da hat es die Finanzminister gegeben. Ich will jetzt von Ihnen gar keine Bewertung der verschiedenen Programme. Welches Bild hat Europa abgegeben aus Ihrer Sicht? Stimmen Sie mir zu, dass das nicht besonders toll gewesen ist? Vor allen Dingen im Süden haben wir jetzt gehört, die Italiener wollen zum Beispiel die Hilfen aus dem ESM gar nicht annehmen. Ist das nicht eine Ohrfeige für Europa, wie das da passiert ist?
Hoffmann: Das ist kein gutes Zeichen für Europa. Europa braucht jetzt Solidarität und Geschlossenheit. Wir brauchen die wechselseitige Unterstützung der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Es ist doch völlig klar, dass es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland auf Dauer nicht gut gehen kann, wenn es den Menschen in unseren europäischen Nachbarländern schlecht geht. Die Coronakrise hat noch mal deutlich gemacht, wie wichtig ein koordiniertes solidarisches europäisches Vorgehen notwendig ist. Der Virus kennt keine Grenzen. Das ist doch ein ganz klarer Weckruf, dass wir auch als Bundesrepublik Deutschland wesentlich mehr Verantwortung übernehmen müssen, um diese Krise gemeinsam zu schultern. Wir dürfen auf keinen Fall die Fehler aus der internationalen Finanzmarktkrise mit einer besinnungslosen Sparpolitik wiederholen. Das wäre das Ende von Europa. Jetzt ist solidarischer Zusammenhalt gefordert und hier muss Deutschland deutlich mehr Verantwortung übernehmen.
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