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Hoffmanns neue Erzählungen

Fritz Oesers Version von "Hoffmanns Erzählungen" beherrscht seit 1977 die Aufführungsgeschichte. Allerdings hatte der Musikwissenschaftler selbst noch so manches hinzukomponiert. Auf die straffe Neuausgabe von Michael Kaye und Jean-Christophe Keck stützt sich dagegen das Aalto Theater Essen.

Von Frieder Reininghaus | 23.10.2011
    "Hoffmanns Erzählungen" von Jules Barbier, Michel Carré und Jacques Offenbach dürfen als eines der großen Sehnsuchtspotenziale der Operngeschichte genommen werden, gerade weil dieses Werk von dem durch den Tod doppelt heimgesuchten Autoren-Trio keine definitive Werkgestalt erhielt und sich die Nachwelt immer wieder einen Reim darauf machen kann.
    "Les Contes d'Hoffmann" – das ist eine große Literaturoper in doppeltem Sinn. Es ist Musiktheater, das Leben und Werk eines bedeutenden Literaten "popularisiert". Zu diesem Zweck wurden von den französischen Theaterdichtern in eine auf den Opernenthusiasten, Komponisten, Kapellmeister und Maschinisten E. T. A. Hoffmann anspielende Rahmenhandlung drei eskalierende Liebesgeschichten eingeflochten, bei denen es jeweils um unterschiedliche Aspekte von Kunst und Leben geht. Und bei denen es allemal nicht mit rechten Dingen zugeht.

    Dass Hoffmann sich in Olympia verlieben kann, hat delikate psychologische und raffinierte physikalische Voraussetzungen; dass diese Episode so gewaltsam endet, liegt am Zusammenbruch einer Bank - hat mithin ökonomische Ursachen, die bis heute nicht aus der Welt verschwunden sind. Im Haushalt von Rat Crespel und dessen Tochter Antonia geht es wenigstens um häusliche Gewalt des Erziehungsberechtigten und um eine ärztliche Fehlbehandlung mit Todesfolge. Und im Giulietta-Akt begeht der lebens- und liebeshungrige Poet aus den Tiefen der deutschen Lande und Seelen zwei Tötungsdelikte in Venedig.
    Dietrich Hilsdorfs Essener Inszenierung zeigt die fünf Tode unter wechselnden Umständen klar und eindrücklich – den der Kunstmenschin Olympia durch einen geprellten Lieferanten, den der an der Karriere gehinderten Sängerin Antonia und ihrer als Diva gestorbenen Mutter, den des um seinen Schatten gebrachten Peter Schlemil und schließlich den Eifersuchtsmord an der "Missgeburt" Pitichinaccio. Auch unterdrückt die Produktion Hoffmanns Verbundenheit mit dem Alkohol ebenfalls nicht: Von Akt zu Akt steht eine Flasche mehr auf dem Tischchen, das zusammen mit dem Klavier die leere Bühne rahmt - der Chor singt weitgehend von den Seitenrändern des Parketts aus.

    Nur der von Johannes Leiacker unterschiedlich geraffte rote Vorhang und ein Fenster als Markierung der Grenzlinie zwischen drinnen und draußen strukturieren das Spielfeld der analytischen Erkundung, der Liebesemphasen des Dichters und seiner Partnerinnen. Deren Partien werden von der als Darstellerin brillanten Rebecca Nelson gut, von Olga Mytytenko und Ieva Prudnikovaite vorzüglich gesungen. Und Thomas Piffka ist in der Titelpartie ein von Leib und mit Seele überzeugender deutscher Dichter, dem nur in den Höhen ein wenig romanische Tenorstrahlkraft abgeht. Stark aufgewertet erscheint die Partie der Muse/Niklausse, die mit Michaela Selinger vorzüglich besetzt ist. Stefan Soltesz sekundiert der bemerkenswerten Ensembleleistung und dem bestens aufgestellten Chor, indem er Offenbachs Leichtigkeit zum großen Zug kommen lässt.

    Konsequent ist, dass in der Essener Produktion die Primadonna Stella in der Rahmenhandlung nicht auftaucht – Offenbach hat nichts für sie komponiert. Während Hoffmanns Revolver beim finalen Suizidversuch versagt und nur ein klägliches Krick-krack von sich gibt, geht Thomas J. Mayer als fulminanter Gegenspieler, Stadtrat Lindorf, Instrumentenhändler, Arzt und Kapitän in einer Person, mit allen drei wiedererstandenen Frauen Hoffmanns ab durch die Mitte.
    Link:
    Aalto Musiktheater Essen