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Hohe Unsicherheit

Die Gefahr durch Weichmacher in PVC ist wahrscheinlich bisher unterschätzt worden. Zu diesem Schluss kommt das Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin. Aufgerüttelt worden sind die Experten durch eine neue Studie aus Erlangen. Ihr zufolge nimmt der menschliche Organismus bei weitem mehr solcher weichmachenden Substanzen auf, als bisher vermutet. Alarmierend, da schon geringe Dosen die männliche Fortpflanzung beeinträchtigen. Warum sind die Forscher erst jetzt auf das Phänomen gekommen? Welcher zusätzliche Schutz ist nötig?

William Vorsatz | 19.08.2003
    Sie sind allgegenwärtig. Überall, wo elastische Kunststoffe existieren. Weichmacher lauern in Textilien, verdunsten aus Autoarmaturen, entweichen Plastikgeschirr, steigen von PVC-Böden auf. Zu den am häufigsten verwendeten Subtanzen gehört das Diethylhexylphthalat, kurz DEHP. Dr. Irene Lukassowitz vom Bundesinstitut für Risikobewertung in Berlin:

    DEHP kann Krebs auslösen, allerdings geht man davon aus, dass dieser Effekt, den man aus dem Tierversuch kennt, beim Menschen nicht besonders relevant ist, weil der Metabolismus, also die Umwandlung im Körper, anders verläuft. Was aber im Augenblick im Vordergrund steht und für uns der viel interessantere Aspekt ist, das ist, dass DEHP die Fruchtbarkeit schädigen kann, das heißt bei männlichen Nachkommen im Tierversuch sehen wir negative Auswirkungen auf die Fruchtbarkeit, niedrigeres Hodengewicht, eine Atrophie, geringere Spermienbeweglichkeit, und damit insgesamt einen Einschränkung der Fruchtbarkeit.

    Bisher galten die Risiken als vertretbar. Die Substanz schien gut erforscht zu sein. Denn die Experten hatten angenommen, dass normale Verbraucher lediglich sehr geringe Dosen aufnehmen. So wurde Kinderspielzeug mit dem Weichmachern zwar verboten, bei Erwachsenen jedoch kein Gesundheitsrisiko befürchtet.

    Es gibt eine so genannte tolerierbare tägliche Aufnahmemenge. Die ist festgelegt worden mit 50 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag. Das ist eine Aufnahmemenge , die ich täglich zu mir nehmen kann, ohne dass ich gesundheitliche Auswirkungen habe.

    Nun kommen Umweltmediziner der Uni Erlangen mit neuen alarmierenden Zahlen. Bei 85 Probanden haben sie Werte gefunden, die bis zu achtmal höher waren als der EU-weite Grenzwert. Dermaßen viel DEHP könne nur über die Nahrung aufgenommen werden, vermuten die Experten vom Bundesinstitut in Berlin. Denn der Margen-Darm-Trakt resorbiert mehr als die Hälfte des Weichmachers, sofern er durch Essen oder Trinken in den Körper gelangt. Durch die Allgegenwart der Chemikalie, auch in medizinischen Gerätschaften, war zuvor keine exakte Messung möglich, erklärt der Toxikologe Dr. Thomas Platzek:

    Das heißt, wenn Sie irgendwelche Analysen, Reagenzien, Apparate verwenden, dann sind die in der Regel schon mit dem DEHP kontaminiert. So dass Sie dann nicht sicher sagen können, ob das, was Sie dort messen, aus Lebensmitteln stammt oder nicht. Das war bei der Envivo-Studie nicht der Fall, insofern, weil hier eine spezifische Methode angewandt wurde, ein Stoffwechselprodukt, was im Körper sich erst bilden kann, und nur dort sich gebildet haben kann, wurde als Maßstab für die Exposition herangezogen.

    Die Zahl von 85 Probanden ist noch zu klein für endgültige wissenschaftliche Schlüsse. Würde man die Ergebnisse jedoch hochrechnen, hieße das, fünf Prozent der Bevölkerung wären unzulässig hoch mit DEHP belastet. Deshalb plädieren die Risikobewerter vehement für weitere Untersuchungen. Bisher ist der Einsatz von Weichmachern nur deutschlandweit geregelt, das Bundesinstitut für Risikobewertung hat bei Kunststoffen im Lebensmittelbereich Empfehlungen herausgegeben. So sollen beispielsweise Verpackungen für Fette und pulverhaltige Lebensmittel keine Weichmacher wie DEHP enthalten. Daran halten sich die hiesigen Hersteller auch. Auch im Kosmetikbereich ist der Endverbraucher vor den reproduktionsgefährdenden Stoffen mittlerweile geschützt. Woher kommen dann die festgestellten Belastungen? Dr. Platzek:

    Also ich kann mir vorstellen, dass das in der Industrie erfolgt, in Form von Förderbändern, mit Schläuchen, und ähnlichen Produkten. Ein Problem, was wir sehen, ist die Verwendung von PVC-Handschuhen. Hier ist nicht ausgeschlossen, dass die PVC-Handschuhe entgegen den Bestimmungen auch beim Verpacken von fetthaltigen Lebensmitteln verwendet werden. Und aus dieser Quelle könnte eine erhöhte Exposition der Verbraucher resultieren, dann gibt es Hinweise aus einer japanischen Studie, wo eine DEHP-Belastung genau auf diesem Wege ermittelt wurde, hier konnte man durch entsprechendes Vermeiden dieser Produkte die Risiken minimieren.

    Auch Campinggeschirr könnte beispielsweise riskant sein, meist lässt sich aus den wenigen Herstellerangaben kaum ein Rückschluss auf eventuelle Weichmacher ziehen. Und nicht nur DEHP ist gefährlich. Es lauern etliche verwandte Weichmacher in der Umgebung. Der ganze Cocktail in der Nahrung summiert sich mit den Ausdünstungen und kontaminierten Staubteilchen der Umgebung. Allerdings: jetzt allen Kunststoff zu Hause rauszuschmeißen: für solch einen Tipp ist es Platzek noch zu früh:

    Soweit die Datenlage es erlaubt, das zu beurteilen, ist eine derartig hohe Exposition, wie sie jetzt gefunden wurde, in der Studie in Erlangen, aus dieser Quelle eigentlich nicht anzunehmen. Wir sind alle ein bisschen ratlos, muss ich sagen.

    Beitrag als Real-Audio

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