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Hoher Einsatz für den Euro

Griechenlandhilfe und Eurokrise: Trotz drängender Termine suchte Angela Merkel mit der CDU-Basis das Gespräch auf der Dortmunder Regionalkonferenz. Längst nicht alle in der Partei stehen hinter dem Euro-Rettungsschirm. Die Kanzlerin wirbt für ihren Kurs in festem Glauben.

Von Barbara Schmidt-Mattern und Wolfram Stahl | 28.09.2011
    "Liebe Parteifreunde, ich möchte Sie und euch alle ganz, ganz herzlich heute hier begrüßen …"

    Ausgerechnet Dortmund. In dieser Stadt, die bis heute als Herzkammer der Sozialdemokratie gilt, sucht die CDU nach ihrer Identität. Die zweite von sechs bundesweiten Regionalkonferenzen findet an diesem Abend in der Westfalenhalle statt. Begrüßt werden die rund tausend CDU-Anhänger von Norbert Röttgen, dem Landesvorsitzenden der nordrhein-westfälischen Christdemokraten. Angesichts der Stimmungslage in der Partei erinnert der aufgekratzte Röttgen an einen Therapeuten:

    "Ich finde das toll, dass so viele da sind, weil das zeigt, dass es ein Diskussionsbedürfnis gibt, eine Bereitschaft zu diskutieren, weil es zeigt, dass die Partei zusammenkommt, weil wir auch wissen, dass es ernste Zeiten sind."

    Diskussionsbedürfnis – das ist ein hübscher Euphemismus. Tatsächlich ist ein Teil der Basis in der CDU ziemlich sauer und fühlt sich – kurz vor der Abstimmung zum Euro-Rettungsschirm im Bundestag – übergangen. Wie so oft in letzter Zeit. Also hat sich die Parteivorsitzende Angela Merkel sechs Abende Zeit genommen, um mit der Basis in der ganzen Republik über die Griechenlandhilfe und die Eurokrise zu diskutieren. Erst einmal steht aber Röttgen am Rednerpult. Jetzt legt er Demut in seine Stimme:

    "Die Schuldigkeit der Führung besteht darin, dass wir am Ende geschlossen eine Position vertreten, alle gemeinsam, aber dann kann man auch erwarten, dass, bevor die Würfel gefallen sind, miteinander diskutiert wird. Darum sind wir heute hier."

    Wieder redet Norbert Röttgen die Dinge schön, denn natürlich sind die Würfel im fernen Berlin längst gefallen – ob es nun um den Euro, die Wehrpflicht oder den Atomausstieg geht. Das weiß auch die Basis. Aber hier zählt erst einmal die Psychologie. Um die Inhalte kümmert sich die Chefin gleich persönlich – das stellt Angela Merkel unmissverständlich klar, als sie mit Norbert Röttgen kurz vor Beginn der Regionalkonferenz auf dem Podium leise flüsternd den Ablauf des Abends bespricht. Röttgen ist daraufhin ein wenig beleidigt:

    "Wenn du wenige inhaltliche Sätze sagst …"
    "Ich mach's kurz, ich mach's kurz… keine Sorge."
    "Nein, aber…"

    Er könne gerne ein paar inhaltliche Sätze hinzufügen, schiebt Angela Merkel dann in versöhnlichem Tonfall nach. Natürlich bleibt der Kanzlerin nicht verborgen, dass Röttgen die Eurokrise in diesen Tagen zur eigenen Profilierung nutzt und sich in zahllosen Interviews zum Thema äußert. Aber in Dortmund gehört der Abend Angela Merkel. Freundlich, fast schmeichelnd wendet sie sich in ihrer Rede an das Parteivolk. Die Regionalkonferenzen seien eine richtig gute Sache:

    "Das macht Spaß, das ist toll! Und das inspiriert mich für meine Arbeit dann an anderer Stelle!"

    Merkel streichelt zunächst die konservative Seele, spricht über das christliche Menschenbild, den Papstbesuch und die Bedeutung der Familie. Erst dann wendet sie sich dem Thema Griechenland zu und vertritt kämpferisch, bisweilen sogar leidenschaftlich ihre Haltung zum Euro:

    "Und jetzt stehen wir vor der Frage: Was wird mit unserer Währung, mit dem Euro, und was wird aus dieser Europäischen Union? Jetzt kann man sagen, Deutschland steht super da. Da muss ich nur sagen, Deutschland wird auf Dauer nicht gut dastehen, wenn es Europa insgesamt nicht gut geht."

    Angela Merkel nimmt sich viel Zeit an diesem Abend. Ausführlich erläutert sie in ihrer dreißigminütigen Rede ihre Zustimmung zum erweiterten Euro-Rettungsschirm. Als sie endet, liegen bereits 15 Wortmeldungen aus dem Saal vor. Als Erstes meldet sich ein Familienvater aus Unna zu Wort. CDU-Mitglied Jan Hoffmann hält der Kanzlerin entgegen, die Partei werde in der Europapolitik allzu oft abgespeist mit Allgemeinplätzen:

    "Ich wünsche mir nicht mehr EU, ich wünsche mir eine andere Europäische Union. Weil ich es mir nicht erlauben möchte, unserer staatlichen Führung immer die Ausrede zu gestatten: Das müssen wir in der Europäischen Union regeln."

    Aber genau so lautet das Credo der Kanzlerin, und selbstbewusst hält sie volle drei Stunden an ihrem Kurs fest. Lässt sich auch von Kritikern nicht aus der Ruhe bringen. Was bei Röttgen noch nach Therapie klang, macht Merkel zu einem Motivationstraining für die Basis:

    "Wer in einer Partei ist, muss auch damit leben, dass er manchmal zu der Gruppe gehört, die nicht gewonnen hat. Bei uns wird so oft so anklagend gesagt, man müsste mal mehr über Bildung sprechen, man müsste mal wieder dies machen. Wer ist denn die Partei? Das sind doch Sie, die Mitglieder! Sprechen Sie doch drüber, das ist doch nicht verboten, machen Sie doch einen Vorschlag, bringen Sie sich ein!"

    Europa, sagt Angela Merkel, müsse "raus aus den Schulden, und rein in die Stabilität". Konkreter wird die Kanzlerin selten, aber an diesem Abend geht es nicht um Details, sondern um das große Ganze. Das ist Merkels eine Botschaft, die andere lautet so:

    "Wir begehen Neuland. Es gibt dafür kein Beispiel, wie man in einem Währungssystem mit nationalstaatlicher Budgethoheit, keinem Durchgriffsrecht von Europa, ein solches Problem behandelt. Insofern sage ich: den Dominoeffekt im Auge behalten, nur Schritte gehen, die man kontrolliert gehen kann, bereit sein, Europa weiterzuentwickeln und Stabilität einzufordern von jedem Land, dafür aber auch solidarisch zu sein, weil man sehen kann: Alleine werden wir mit Sicherheit nicht glücklich."

    Doktor Wilhelm Wendelin widerspricht der Kanzlerin grundsätzlich. Griechenland ist aus seiner Sicht nicht zu retten:

    "Irgendwann müssen die Griechen freiwillig aus dem Euro raus. Da sagt man, na ja, freiwillig werden sie es nicht tun. Dann werden wir Ihnen helfen müssen, mit Druck."

    Es sind solche Formulierungen, bei denen sich Angela Merkels Mundwinkel zwischendurch doch einmal nach unten neigen:

    "Wie Sie über Griechenland gesprochen haben, das hat mir ehrlich gesagt nicht gefallen. Was den Menschen dort jetzt zugemutet wird, ich finde, die müssen jetzt auch eine Chance bekommen. Und da ich nun aus den neuen Bundesländern komme, bei uns ist auch nicht in 18 Monaten – also ich will jetzt Griechenland nicht mit der DDR vergleichen –, aber da ist auch nicht alles sofort super Verwaltung gewesen. Das hat auch eine Zeitlang gedauert. Und jetzt lasst uns doch mal die Leute ermutigen dort."

    Längst nicht alle der über tausend CDU-Anhänger stehen an diesem Abend in Dortmund hinter dem Euro-Rettungsschirm, aber wie die Kanzlerin hier ihre Politik bewirbt, das gefällt den meisten. Ein gravierendes Problem bleibt allerdings – spöttisch fragt dieser Rentner nach:

    "Wie geht es weiter mit Gipsy Rösler? Mit der FDP!?"

    Angela Merkel übt sich in Diplomatie. Die Umgangsformen in der Koalition seien nicht immer vorbildlich gewesen, aber die größten "Überlappungsmengen", so die Kanzlerin, gebe es noch immer mit der FDP. Hermann Gröhe hält dann zum Abschluss des Abends noch einen Appell bereit, der die Basis, zumindest an diesem Abend, ein wenig versöhnt:

    "Wenn wir nicht über unsere Erfolge reden – die anderen werden es nicht tun."

    Angela Merkel kämpft für den Euro und für ihren Kurs – und das nicht nur auf den Regionalkonferenzen. Die Kanzlerin ist in dieser Woche überall gleichzeitig, sie nutzt jeden Termin, um für ihre Mission zu werben. Und sie tut das in festem Glauben:

    "Mir hilft, dass ich Christ bin und dass ich weiß, dass wir nicht die letzte Instanz sind, dass wir Fehler machen können, aber, dass wir die Aufgabe haben, um das Beste zu ringen. Aber, dass es eine Instanz, also, dass es Gott gibt, das ist für mich sehr wichtig, um die Dinge auch immer wieder einzuordnen."

    Und so sprach die Kanzlerin unter vier Augen auch mit Papst Benedikt XVI. über die Nöte mit dem Euro:

    "Wir haben über Finanzmärkte gesprochen, über die Tatsache, dass die Politik schon die Kraft haben sollte, für die Menschen zu gestalten und nicht getrieben zu sein, und dass das eine sehr große Aufgabe in der heutigen Zeit der Globalisierung ist."

    Hugo Müller-Vogg hat eine Biografie über Angela Merkel geschrieben. Der Journalist beobachtet sie schon, seit sie zur CDU-Vorsitzenden aufgestiegen ist, später Kanzlerin wurde. Sein Buch hat er "Mein Weg" genannt:

    "Das ist sicherlich ein steiler Weg, ein schwieriger Weg. Aber sie ist ja jemand, der sehr beharrlich sein kann, und ich glaube, sie ist fest entschlossen, diesen Weg zu Ende zu gehen."

    Ihr Weg ist steil, gerade in diesen Tagen. Doch sie scheut keine Mühen, opfert auch das Wochenende. Normalerweise verbringt Angela Merkel ihren Samstag und Sonntag am liebsten in einem kleinen Häuschen in der Uckermark.

    "Ein Politiker muss ja auch mal was aufnehmen, wir können ja nicht den ganzen Tag nur sprechen, sondern wir müssen ja auch mal was lesen über was nachdenken, man muss mal eine allgemeine Tätigkeit ausführen, wie Kochen oder Spazierengehen oder einfach im Garten rum gehen oder einfach mal vor sich hin starren. Sonst wird man ja richtig maschinenmäßig, und das will ich eigentlich nicht."

    Talkshows - zumal am Sonntagabend - meidet sie. Doch für Günther Jauch machte sie an diesem Sonntag eine Ausnahme:

    "Die Situation, wie sie ist, ist ernst. In dieser Situation gibt es keine ganz einfachen Lösungen."

    Eine der Lösungen ist eine Schuldgarantie von 780 Milliarden Euro für die Währungsunion. Die Deutschen übernehmen davon 211 Milliarden. Das ist viel Geld, und deshalb sollen die Bürger erfahren, dass vor allem die deutsche Wirtschaft davon profitiert, wenn Griechenland, Irland, Spanien, Italien und Portugal durch Kredite gestützt werden.

    "Der Euro hat sich bewährt. Er ist gut für uns als Exportnation. Und er ist in den Jahren, in denen wir ihn haben, wertbeständiger gewesen, als die D-Mark das in ihren letzten 10 Jahren war, das heißt, die Geldwertstabilität ist durch die Europäische Zentralbank in herausragender Weise garantiert worden."

    Die Symptome der Vertrauenskrise in der Bevölkerung sind zwar erkannt, aber die Ursachen noch nicht gebannt. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen der Kanzlerin fürchtet die Mehrheit der Deutschen, dass für die Schulden anderer Staaten wohl am Ende doch der deutsche Steuerzahler aufkommen muss. Der Berliner Politikwissenschaftler Gero Neugebauer kritisiert vor allem, dass die Kanzlerin wieder einmal ihr Handeln als "alternativlos" darstelle.

    "Diese Art zu kommunizieren erweckt nicht das nötige Vertrauen, um zu sagen: Wir trauen ihr zu, dass sie das schafft. Man sieht es auch an den Umfragen, trotz allgemein guter Werte. Gerade die Frage, ist die Regierung in der Lage, die Krise zu handeln, wird immer negativer beantwortet."

    Was kein Wunder ist: Denn seit der Wahl in Berlin ist die FDP an ihrem vorläufigen Tiefpunkt angelangt. Und auch von der Union kann man nicht behaupten, dass sie gerade einen Höhenflug erlebt. Die Griechenland- und Euro-Krise können schnell auch zur deutschen Regierungskrise werden. Dabei müsste Deutschland eigentlich Geschlossenheit zeigen, ein klares Signal an Europa senden, fordert die Wirtschaft. Die Kanzlerin rechtfertigt sich:

    "Diese Koalition hat viel bewerkstelligt. Sie steckt jetzt mit den Aufgaben um den Euro herum in einer sehr, sehr komplizierten und schwierigen Situation. Der Umgangston ist nicht immer so, dass ich zufrieden bin, das geb ich zu."

    Das, was Merkel beschönigend den "Umgangston" nennt, könnte man wohl auch als nicht enden wollenden Streit zwischen den Koalitionspartnern bezeichnen. Der sorge nicht nur in der Bevölkerung für Verdruss, sondern lähme auch die Regierungsarbeit, so der Politikwissenschaftler Neugebauer:

    "Die Kanzlerin hat in der Tat die Rolle der Moderatorin. Sie muss darauf achten, dass die Chemie zwischen den Leuten stimmt. Chemie beruht aber auch darauf, dass die Aussagen vertrauenswürdig sind und die Zusagen verlässlich sind. Aber wenn sie selbst als schwach gilt, weil sie bestimmte Dinge nicht durchsetzen kann, das ist dann schwierig."

    Der Zustand der Koalition ist Resultat des zögerlichen und für die Wähler zumeist undurchschaubaren Krisenmanagements. CSU-Chef Horst Seehofer beispielsweise plädiert für den Ausschluss Griechenlands aus der Eurozone.

    "Ich sage, wenn die Griechen ihre Zusagen nicht einhalten, kann es auch keine Hilfen geben. Für mich steht an erster Stelle, dass Hilfe und Eigenverantwortung funktionieren. Aber, wenn es nicht zu schaffen ist, wenn es die Griechen trotz aller Anstrengungen nicht schaffen, dann darf man auch diese Überlegung nicht ausschließen."

    FDP-Chef Philipp Rösler geht noch einen Schritt weiter. Er dachte laut darüber nach, Griechenland Pleite gehen zu lassen.

    "Um den Euro zu stabilisieren, darf es keine Denkverbote mehr geben. Dazu gehört in letzter Konsequenz auch eine geordnete Insolvenz."

    Das sind Sätze, die an den Börsen für Turbulenzen sorgen. Teilweise brachen die Aktienkurse massiv ein. Die Kanzlerin weiß um diese Wirkung und mahnte so auch ihre Koalitionspartner zu einem verantwortungsvollen Umgang mit dem gesprochenen Wort:

    "Und deshalb sollte jeder auch seine Worte sehr vorsichtig wägen. Was wir nicht brauchen können, ist Unruhe auf den Finanzmärkten. Die Unsicherheiten sind schon groß genug. Und wie Ludwig Erhard schon gesagt hat: Wirtschaftspolitik, und das gilt auch für die Finanzpolitik, da ist immer die Hälfte auch Psychologie."

    Rein psychologisch betrachtet war daher auch ein gemeinsamer Termin mit ihrem Vizekanzler gestern Mittag ein Erfolg. Die beiden zeigen Geschlossenheit und Harmonie, als sie in Berlin die erste Rösler-Biografie vorstellen. Der Titel: "Glaube, Heimat, FDP".

    "Dass es sich ohne Zweifel um eine der außergewöhnlichsten Biografien eines deutschen Politikers handelt, das liegt, glaube ich, ziemlich erkennbar auf der Hand."

    Die Kanzlerin erzählt liebenswürdig von der Geburt in Vietnam, von der Adoption im Waisenhaus, wie er nach Hamburg kam und was das Leitbild seines Vaters war.

    "'Hauptsache, man wird geliebt.' Mit diesem Satz sagt Philipp Rösler in vier Worten alles, was ihm in seinem Leben Kraft gegeben hat."

    Ganz beseelt spricht die Kanzlerin. Sie spricht von Optimismus in Zeiten, in denen es zwischen den Koalitionspartnern knirscht. Beide kommen ins Plaudern, erzählen von der Musik, die sie lieben: Herbert Grönemeyer und Udo Jürgens.

    "Also, über Grönemeyer können wir lange drüber reden. Das ist, glaube ich, in meiner Altersgruppe eher normal. Bei Udo Jürgens ist es nicht eine Selbstverständlichkeit, aber … Bist du auch ein Fan? Jaaa! Na kuck!"

    Zum guten Schluss schlägt Rösler der Kanzlerin vor, gemeinsam auf ein Konzert zu gehen. So viel Harmonie war lange nicht mehr.

    Geschlossenheit in der Koalition ist das eine. Entschlossenheit das andere. Und auch die zeigt die Kanzlerin in dieser Woche. Sie weiß zwar auch nicht, ob Griechenland mit weiteren Milliarden tatsächlich geholfen ist, aber ein Ausstieg aus der Währungsunion oder eine Umschuldung würden zu einem Dominoeffekt führen, wiederholt sie immer wieder. Merkels beharrliche Position wird nicht von allen in der Regierungskoalition geteilt. Kritiker des Euro-Rettungsschirms wie der FDP-Abgeordnete Frank Schäffler fühlen sich an den Rand gedrängt.

    "Das wird durch Liebesentzug praktiziert. In dem Sinne, dass man halt nicht mehr so eingebunden wird. Man darf nicht mehr an der prominenten Stelle sprechen. Man wird auch nicht gefragt, wenn irgendetwas verteilt wird an Ämtern und so weiter."

    Wolfgang Bosbach und Peter Gauweiler sind ebenfalls gegen den Rettungsschirm. In einer Probeabstimmung verweigerten 14 Unionsabgeordnete ihre Zustimmung. Die FDP-Führung spricht von bis zu vier Abweichlern in ihren Reihen. Bei mehr als 19 Gegenstimmen und Enthaltungen hätte Angela Merkel ihre Kanzlermehrheit verloren. In diesem Fall wäre die Regierung gescheitert, sagt Grünen-Parteichef Cem Özdemir.

    "Dann muss Frau Merkel jetzt sagen, ich schaff's nicht mehr, ich bin am Ende, ich habe keine Mehrheit mehr, das überfordert mich, das überfordert meine Koalition, ich mach den Weg frei für Neuwahlen."

    Wie die Grünen wollen auch die Sozialdemokraten für den Euro-Rettungsschirm stimmen. Der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel erachtet die Abstimmung aber ebenfalls für so wichtig, dass die christlich-liberale Koalition die Kanzlermehrheit erreichen muss.

    "Die Kanzlerin hat offensichtlich Regierungsnotstand. Wir wollen mit dazu beitragen, dass die europäische Krise stabil durchlaufen werden kann, aber wir können nichts dazu beitragen, dass sich die Regierung stabilisiert. Ich glaube, das wird am Ende nur der Wähler bei entsprechenden Neuwahlen tun können. Die jedenfalls, glaube ich, werden nicht mehr zueinanderfinden."

    Angela Merkel sieht die Abstimmung über den ESFS-Rettungsschirm relativ gelassen und weniger dramatisch als die Opposition.

    "Die Kanzlermehrheit braucht man, wenn man als Kanzler gewählt wird oder wenn man ganz besondere Personalentscheidungen trifft. Ich möchte eine eigene Mehrheit, und ich bin zuversichtlich, dass ich sie bekomme. Und ich bin so ein Mensch, der ist ganz optimistisch, dass wenn er sich richtig dafür einsetzt, dass das dann auch klappt."

    Ihr Optimismus in allen Ehren – der Politikwissenschaftler Neugebauer kommt dagegen zu einer pessimistischeren Einschätzung. Denn wenn die Kanzlermehrheit fehle, dann sei ihr Ruf geschädigt und die Kanzlerdämmerung eingeleitet.

    "Wenn die Kanzlermehrheit nicht steht, wird sich Frau Merkel an eigenen Aussagen messen lassen müssen. Sie wird also eine Kritik akzeptieren müssen, dass eine Regierung schwach ist, die es nicht schafft, ihre eigenen Abgeordneten hinter sich zu scharen. Und sie wird akzeptieren müssen, dass man sagt, ein Vertrauen in eine Regierung auf der internationalen Ebene kann nicht hergestellt werden, wenn Partner sich nicht drauf verlassen können, dass in schwierigen Entscheidungen diese Regierung eine Mehrheit kriegt."

    Angela Merkel würde sich wohl trotzdem nicht die Vertrauensfrage stellen und erst recht nicht "Gerhard Schröder" spielen wollen, um Neuwahlen herbeizuführen. Vermutlich würde sich die Kanzlerin bis zu den nächsten Wahlen durchwurschteln. Da das vom Bundesverfassungsgericht eingeforderte neue Wahlgesetz noch nicht verabschiedet ist, sind Neuwahlen eigentlich sowieso ausgeschlossen, erklärt Politikwissenschaftler Gero Neugebauer.

    "Wir hätten keine Verfassungskrise, wenn es zu einem Misstrauensvotum und zu einer Neuwahl eines Kanzlers im Bundestag käme. Andersrum hätten wir eine. Insofern denke ich auch, dass dieses Argument dazu führen wird, dass zurzeit keine der Regierungsparteien Neuwahlen anstrebt."