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Hoher rundfunkgeschichtlicher Wert

Man muss sich das wirklich mal anhören. Da sitzt ein älterer Herr im unscheinbaren, grauen Anzug in einem Rundfunkstudio, eher widerwillig, ein bisschen schwerfällig und etwas beleibt, und haut Sachen raus wie diese:

Von Helmut Böttiger | 14.01.2005
    Durch so viel Formen geschritten,
    durch Ich und Wir und Du,
    doch alles blieb erlitten
    durch die ewige Frage: wozu?

    Das ist eine Kinderfrage.
    Dir wurde erst spät bewusst,
    es gibt nur eines: ertrage
    - ob Sinn, ob Sucht, ob Sage -
    dein fernbestimmtes: Du musst.

    Ob Rosen, ob Schnee, ob Meere,
    was alles erblühte, verblich,
    es gibt nur zwei Dinge: die Leere
    und das gezeichnete Ich.



    Das ist der Sound der Fifties. Gottfried Benn war zu diesem Zeitpunkt, es war das Jahr seines Todes 1956, siebzig Jahre alt, und praktizierte nicht mehr so häufig als Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten. "Die Leere und das gezeichnete Ich": das traf das Lebensgefühl damals, im Deutschland der ehemaligen Nazis kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Das war etwas Existenzielles, durchaus Tiefempfundenes, mit einem Sog aus Sentiment und Reim, der Momente des philosophischen Abgrunds mit denen des eingängigen Schlagers verband. Die Hit-Komponente beim Benn der fünfziger Jahre ist nicht zu verkennen: der junge Peter Rühmkorf dichtete damals, ganz in diesem Bann, Zeilen wie: "Die schönsten Verse des Menschen, das sind die Gottfried Bennschen". Vielleicht hing es auch damit zusammen, wie Benn seine Gedichte intonierte: ihre tief schürfenden Fragen wurden mit einer trockenen, preußischen Sachlichkeit gestellt, und das unterlief allzu schwülstige Anwandlungen schon im Ansatz. Benn, in Mansfeld in der Prignitz als Sohn eines protestantischen Landpfarrers geboren, neigte nicht zu großen Gefühlen. Aber da er sie trotz allem ständig in sich spürte, hebelte er sie durch eine gewisse Schnoddrigkeit, durch eine zwischen Zynismus und abgründiger Weisheit ständig changierende Artistik immer wieder aus.

    In meinem Elternhaus hingen keine Gainsboroughs
    wurde auch kein Chopin gespielt
    ganz amusisches Gedankenleben
    mein Vater war einmal im Theater gewesen
    Anfang des Jahrhunderts
    Wildenbruchs "Haubenlerche"
    davon zehrten wir
    das war alles.


    In den fünfziger Jahren hatte der Rundfunk die Funktion, die später das Fernsehen übernahm. Also ließ sich der alte Benn ab und zu dazu verleiten, ins Berliner Studio des Nordwestdeutschen Rundfunks zu gehen, es war behelfsmäßig im Zahnärztehaus am Heidelberger Platz untergebracht, und das mit dem Zahnärztehaus wird dem sachlichen Benn gefallen haben, immerhin war der Dermatologe in dritter Ehe mit einer Zahnärztin verheiratet. Ob er damit rechnete, dass ein paar Jahrzehnte später all seine verstreuten Rundfunkaufnahmen akribisch gesammelt werden würden, ist nicht unbedingt anzunehmen. Aber jetzt liegt das gesamte "Hörwerk" von Gottfried Benn in einer Kassette vor, und das ist nicht nur rundfunkgeschichtlich von einigem Wert. "Astern", sein Smashhit aus dem Jahr 1936, ist in einer Aufnahme von 1948 zu hören. Jeder Schauspieler würde da als Sprecher versagen, weil er, in seiner ganzen Schulung mit Wortvalenzen und Auskosten, automatisch viel zu bedeutungsvoll würde. Benn aber bleibt, bei allem floristischen Ausschreiten, knochentrocken.

    Astern - schwälende Tage,
    alte Beschwörung, Bann,
    die Götter halten die Waage
    eine zögernde Stunde an.

    Noch einmal die goldenen Herden,
    der Himmel, das Licht, der Flor,
    was brütet das alte Werden
    unter den sterbenden Flügeln vor?

    Noch einmal das Ersehnte,
    den Rausch, der Rosen Du -
    der Sommer stand und lehnte
    und sah den Schwalben zu,

    noch einmal ein Vermuten,
    wo längst Gewissheit wacht:
    die Schwalben streifen die Fluten
    und trinken Fahrt und Nacht.


    Blumen und Pflanzen leisteten dem späten Benn generell gute Dienste als Modelle zur Seinsvergewisserung. Rosen kommen immer wieder vor, einmal auch die Eberesche, und manchmal streift es Sphären, die man sich gut und gerne von Zarah Leander oder Lale Andersen gesungen vorstellen könnte.

    Erschütterer -: Anemone,
    die Erde ist kalt, ist nichts,
    da murmelt deine Krone
    ein Wort des Glaubens, des Lichts.


    Benn ließ in seinem Schöneberger Erdgeschosszimmer gerne im Hintergrund sein Röhrenradio laufen und hörte Jazz und Swing, damit konnte er auch in seinen Gedichten den Anflug großer Gefühle immer wieder ausgleichen. Das Amerikanische inspirierte ihn, er ließ es oft cool und lässig in seine Texte einfließen. Der Pragmatismus der Amerikaner hat ihm gefallen, damit konnte er gewisse elitäre Neigungen bei sich bekämpfen. Im berühmten Gedicht "Reisen" kommt es dabei zu einer unerwarteten Pointe:

    Bahnhofsstraßen und Ruen,
    Boulevards, Lidos, Laan -
    selbst auf den Fifth Avenuen
    fällt Sie die Leere an -


    Bei den "Feifs Avenün" wurde es dem damals blutjungen Rundfunkredakteur Thilo Koch ein bisschen mulmig. Doch auch im Rückblick muss er etwas kleinklaut bekennen: "Mein Korrekturvorschlag wurde mit einer leisen Handbewegung übergangen." Wie Benn den Rundfunk nahm, lässt sich schön an einer Briefstelle an seinen Vertrauten F. W. Oelze vom 25. Mai 1950 erkennen: "Gestern Abend um 10 sandte NWDR zehn Minuten lang die 5 Epiloggedichte aus 'Trunkene Flut’, die ich auf Band gesprochen hatte. Meine Frau hörte zu, war sehr angetan, ich saß in meiner Kneipe und zischte meine Bier, von Patienten hörte ich, es sei ergreifend gewesen, zum Schluss kam schöne Musik." Es gibt in Benns erhaltenem Hörwerk nur zwei Aufnahmen vor 1948, zwei ganz frühe, die Totenrede auf Klabund aus dem Jahr 1928 und ein Vortrag über "die neue literarische Saison" von 1931.

    Die expressionistische Frühzeit fällt vor die Radioepoche. Auch das viel zitierte Streitgespräch mit Johannes R. Becher, dem Kommunisten, aus der Spätphase der Weimarer Republik ist nicht erhalten, die berüchtigte "Antwort an die literarischen Emigranten" vom 24. Mai 1933 fehlt ebenso. Die Zeit von 1933 bis 1945 ist eh ausgelöscht. Außerhalb der Gedichte gibt es einige wenige Tondokumente, die Benn im Gespräch zeigen oder bei einer Rede. So ist der Marburger Vortrag über "Probleme der Lyrik" von 1951 in ganzer Länge zu hören: mit seinen Thesen, die Generationen von Deutschlehrern weiterreichten.

    Darf ich an dieser Stelle die Bemerkung anknüpfen, dass in der Lyrik das Mittelmäßige schlechthin unerlaubt und unerträglich ist, ihr Feld ist schmal, ihre Mittel sehr subtil, ihre Substanz das Ens realissimum der Substanzen, demnach müssen auch die Maßstäbe extrem sein. Mittelmäßige Romane sind nicht so unerträglich, sie können unerhalten, belehren, spannend sein, aber Lyrik muss entweder exorbitant sein oder gar nicht. Das gehört zu ihrem Wesen.
    Interviews mochte Benn gar nicht so gern. Aber gelegentlich, gegen gutes Geld, hat er doch an Rundfunkdiskussionen teilgenommen, 1955 etwa über das Thema "Soll die Dichtung das Leben bessern?"

    Wo kommt mehr bei raus, ich will es mal sehr banal ausdrücken: aus einem christlichen Gefühl oder aus einem nichtchristlichen? Bei welchem kommt mehr heraus für die moderne Kunst, für das moderne Gedicht? Es kann beides vollendete Dinge schaffen. Aber Maßstab, das Kriterium ist natürlich doch nur die Qualität!

    Ja, das halte ich für undiskutabel. Ich glaube nicht, dass man die Frage so stellen kann: Wobei kommt mehr heraus für die moderne Kunst?
    Moment mal, diesen Tonfall kennen wir doch! Wer spricht denn da plötzlich? Tatsächlich - unverkennbar, dieses Rheinisch-Nachdenkliche: das ist doch der junge Heinrich Böll!

    Ich glaube nicht, dass man die Frage so stellen kann: Wobei kommt mehr heraus für die moderne Kunst? Ich vermute, dass für beide Brüder dasselbe herauskommen kann, nur glaube ich auch, dass es eben für einen Christen schwieriger ist...

    Ja warum eigentlich? Wenn er so erfüllt ist von seinem Christentum muss ihn das doch zum Ausdruck drängen!

    Ja, es drängt...

    Sehen Sie, die Frage ist doch eigentlich die, was Christentum angeht und Religiosität: ohne Religion ist ja eigentlich keiner. Dass wir von selbst da sind und dass die Affen uns vorgestoßen haben, das glaubt wohl keiner mehr heutzutage, nicht wahr. Also ganz von selbst sind wir nicht da. Eigentlich ist ja doch der Kernpunkt der: Brauche ich das Religiöse oder das Christliche für mein privates Leben oder arrangiere ich mein Leben unter eigener Verantwortung - auferlegt durch den Zwang der Lage, der inneren Lage, der geschichtlichen Lage sagen wir ruhig. Oder wälze ich meine Sorgen ab auf jemand anders. Sage ich, ich wälze die Sorgen nicht ab auf jemand anders, ich bin alleine verantwortlich für mich, muss ich damit fertigwerden. Während der christliche Dichter unter Umständen einen Teil der Verantwortung für sich und die anderen auf jemanden anders abwälzen kann.

    Ich weiß nicht, ob Sie damit recht haben. Das scheint mir doch sehr...

    Wie meinen Sie?

    Ein interessanter literaturgeschichtlicher Moment, zweifellos. Hier überlagern sich zwei Epochen, auf eine völlig unerwartete Weise. Gegenüber dem alten Haudegen Benn wirkt Böll wie ein Suchender aus früherer Zeit. Benn hätte auch in heutigen Talkshows eine gute Figur gemacht. Dies ist vielleicht die interessanteste Erkenntnis aus seinem Hörwerk: seine Haltung hat etwas Zeitloses. Benns Lyrik mag ziemlich zeitverhaftet sein. Seine Art und Weise, über diese Gedichte zu sprechen, ist aber ganz und gar aktuell. Hören wir zum Schluss einfach zu, wie er auf eine seiner vielen Bewunderinnen reagiert:

    Wenn Sie sich in Ihre Leser hineinversetzen, Herr Dr. Benn: Es ist schmerzlich, wenn man Ihre Prosa gelesen hat und Sie dann erst nimmt, dass man dann vor manchen Ihrer Gedichte als kaltschnäuzig dasteht.

    Als kaltschnäuzig?

    Ja.

    Ausgezeichnet. Bloß keine Wärme.